Der unverstandene Utopist
Andrea Eschbach: Herr Joanelly, wie kamen Sie darauf gemeinsam mit Monika Annen eine Ausstellung zum Werk von Elemér Zalotay zu kuratieren?
Tibor Joanelly: Ich begegnete Elemér Zalotay vor rund fünf Jahren anlässlich einer Recherche. Ich rief ihn an, reiste ins ländlich-beschauliche Ziegelried bei Schüpfen im Kanton Bern. Und was dort am Rand eines biederen Einfamilienhausquartiers stand, stellte so manche Gewissheit radikal auf den Kopf.
Daraus reifte die Idee zu einer Ausstellung, die sein Werk erstmals im deutschen Sprachraum zeigen sollte.
Wieso?
Tibor Joanelly: Der Architekt Martin Klopfenstein hat es in seinem Nachruf auf ihn auf den Punkt gebracht: Zalotays Haus liest sich wie ein Querschnitt durch alles Denk- und Machbare: Im Grunde rational aufgebaut, mit den Jahren überkrustet mit einer Schicht aus Objets trouvés verkörpert es Urhütte, Moderne und Romantik in einem. Wo Planung endet und Improvisation anfängt, ist nicht zu entscheiden.
Zalotays Haus ähnelte einem Art-brut-Gesamtkunstwerk.
Tibor Joanelly: Ja, er arbeitete 40 Jahre an seinem Haus, eine schräggestellte Glasfassade, Stahlseile, Ketten, Holzbauteile, Kupferblech, Keramik, Steine und Recyclingmaterial formten sich zu einer Wunderkammer.
Aber dahinter steckte viel mehr, wie Sie herausgefunden haben.
Tibor Joanelly: Ja, unter dieser wuchernden Ornamentik verbirgt sich ein stringenter Leichtbau, der beredt vom Erfindergeist seines Schöpfers erzählt. Zalotay hat dafür eigens ein Bausystem entwickelt, das er sich patentieren ließ. Ein Rahmen aus Holz wurde mit Drähten stabil verspannt. Zalotay sah seinen Bau als Experimenthaus, es war für ihn die Keimzelle einer Stadt.
Was beabsichtigte er mit einem solchen Forschungshaus?
Tibor Joanelly: Dessen Wurzeln reichen ins Ungarn der Sechziger Jahre. 1961, gleich nach seinem Studium, plante er ein drei Kilometer langes "Streifenhaus" für einen Vorort von Budapest. 30 Stockwerke hoch, sollte das Hochhaus 70'000 Menschen beherbergen. Eine einzige Stadt in einem Haus, mit Theater, Kino, Bibliothek, Kinderkrippe, Schule und Restaurants. Und jede der 20’000 Wohneinheiten sollten den gleichen Ausblick auf die grüne Landschaft haben. Ein demokratischer Gedanke.
Was war Zalotays Ziel damit?
Tibor Joanelly: Er verstand Bauen als sozialen Akt: Angemessener Wohnraum sollte für alle bezahlbar sein. Die Wohnverhältnisse in Ungarn waren nach dem ungarischen Aufstand von 1956 sehr prekär. Er wollte das Problem mit einem Schlag lösen.
Und dabei nahm er radikal und weitsichtig einiges vorweg, was heute aktuell ist.
Tibor Joanelly: Richtig. Vorfabrizierte Wohnungen in Leichtbauweise, so stellte er sich vor, sollten ab Fabrik als Ganzes zur Baustelle geliefert werden. Zudem schwebte ihm ein senkrechter Pflanzenvorhang vor den Fenstern vor – ein vertikaler Wald, wie ihn Stefano Boeri in Mailand über ein halbes Jahrhundert später realisieren sollte.
Wie wurde sein Projekt aufgenommen?
Tibor Joanelly: Es sorgte für großes Aufsehen, eine britische Architekturzeitschrift übertitelte einen Artikel zu Zalotays Wohnmaschine mit "Corb plus" – eine logische Erweiterung von Le Corbusiers Unité d’Habitation. In Ungarn wurde seine Idee kontrovers diskutiert. Doch dann fiel Zalotay bei den Funktionären in Ungnade. Mit seiner Emigration erhoffte er sich, seine Vision woanders umsetzen zu können.
Gelang ihm das?
Tibor Joanelly: Nein. Die Radikalität seines Denkens scheiterte an der Realität. Außer seinem eigenen Wohnhaus blieben seine Entwürfe in der Schweiz allesamt Papier. Er beschäftigte sich bis zu seinem Tod nahezu obsessiv mit Fragen des bezahlbaren Wohnens. So entwickelte er auch einen nichtelitären Do-it-yourself-Ansatz. In das Skelett eines Hochhauses – er nannte es eine "Megastruktur" – sollten die Bewohner ihre Häuser selbst einbauen. Ähnlich wie bei der Wohnungseinrichtung mit Möbeln von Ikea, basierend aber auf dem patentierten System seines Hauses.
Ein Mann der großen Visionen.
Tibor Joanelly: Und diese Megastrukturen wurden immer extremer. Er schwang sich zu immer gewagteren Konstruktionen auf, zuletzt mit einem Entwurf, der selbst Frank Lloyd Wrights The Illinois One Mile Skyscraper mit 4000 Metern um mehr als das Doppelte überragt hätte.
Was ist typisch für Zalotays Schaffen?
Tibor Joanelly: Er wandelte immer auf dem schmalen Grat zwischen Pragmatismus und Utopie. Zwischen Zwang und Überschuss berühren sich bei ihm Ordnung und Chaos. Das Manische trifft auf das akribisch Durchdachte.
Manisch erscheinen mir auch seine späten Zeichnungen, grossformatige, kunstvolle Wimmelzeichnungen, in denen handgeschriebene Postulate auf Baukonstruktionen treffen.
Tibor Joanelly: Es sind Bauanleitungen für eine bessere Welt – bis ins letzte Detail konstruiert und durchdacht. Ich stelle mir gerne vor, dass er jetzt vielleicht auf einem Ausleger seines DNA-Spiral-Wolkenkratzers sitzt und Gedanken-Drähte spannt.
Elemér Zalotay: Manic Modern
Bis 15. Mai 2021
BALTSprojects
Bernerstrasse Nord 180 1st floor
CH-8064 Zurich
Elemér Zalotay (*1932, Szentes, Ungarn; †2020, Worben, Schweiz)
Elemér Zalotay studierte Architektur und diplomierte 1957 an der Ungarischen Technischen Hochschule in Budapest. Kurz nach dem Studium wurde er bekannt durch seinen Entwurf für ein drei Kilometer langes "Streifenhaus". Bis zu seiner Emigration in die Schweiz 1973 baute er mehrere aufsehenerregende Gebäude im Westen von Ungarn, unter anderem das Sputnik-Observatorium in Szombathely. In der Schweiz arbeitete Zalotay bei mehreren bekannten Berner Architekten, bevor er sich selbständig machte. Bekannt in der Schweiz wurde er durch sein selbstgebautes Haus in Ziegelried, das er ab 1979 immer weiterentwickelte. 1993 wurde es unter Schutz gestellt.
Neben diesem Gebäude sind keine Werke in der Schweiz bekannt, die ausschließlich Zalotay zugeschrieben werden können. Der Architekt verfeinerte seine konstruktiven Konzepte auf dem Papier. Seine Projekte wurden in international angesehenen Fachzeitschriften publiziert und diskutiert. Zalotay war Preisträger des Molnár Farkas díj (die höchste Auszeichnung für Architekturschaffende in Ungarn), Ehrenmitglied der Széchenyi-Akademie für Literatur und Kunst. Er starb nach kurzer Krankheit in einem Alterszentrum in der Nähe von Biel. 2022 erscheint eine umfassende Monographie über sein Werk.