In der hügeligen Landschaft der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, an der Südseite der Bergkette Les Maurettes, verbirgt sich im Hafenstädtchen Hyères ein architektonisches Kleinod: die Villa Noailles. Wie ein mächtiges Kreuzfahrtschiff liegt das Gebäude, von Rasen- und Waldflächen umgeben, hoch über der Bucht von Hyères. Von der Villa aus genießt man bildartige Ausblicke auf die Hügellandschaft, deren Farben von der Sonne ausgeblichen wirken. In der Ferne glitzert das Meer, die Luft riecht nach Lavendel und Sommer, und über der Stadt herrscht eine ganz eigene, inspirierende Atmosphäre.
Die Villa Noailles entstand zwischen 1924 und 1933 und geht auf Pläne des Architekten Robert Mallet-Stevens zurück. Das Haus wurde allerdings kurz nach Abschluss des ersten Bauabschnitts von Léon David erweitert, was der Homogenität des Gesamteindrucks Abbruch tut. Der Bauherr Charles de Noailles beauftragte den Architekten ein "kleines, interessant zu bewohnendes Haus, das die Sonne nutzt" zu bauen, aus dem durch sukzessive Anbauten ein herrschaftliches Anwesen mit einer Gesamtfläche von rund 1800 Quadratmetern entstand. Die Villa verbindet unzählige Zimmer unterschiedlicher Gestalt labyrinthisch miteinander. An der Innengestaltung des beeindruckenden Baus waren zahlreiche Künstler, Innenarchitekten und Designer beteiligt, unter anderem Pierre Chareau, Eileen Gray, Henri Laurens, Theo van Doesburg, Sybold van Ravesteyn und Alberto Giacometti; den kubistischen Garten entwarf Gabriel Guévrékian.
Ein Ort wie geschaffen zum Nachdenken und Diskutieren über Architektur, Design und Kunst, über Gestaltung in all ihren Facetten. Diese Atmosphäre hat sich eine kleine, feine Veranstaltung zunutze gemacht und unter dem Titel Design Parade zum dritten Mal ein dreitägiges Festival durchgeführt. Das Programm ist eine Mischung aus Theorie und Praxis, Geschichte und Gegenwart in Form von Ausstellungen, Wettbewerben und einer Konferenz. Fokussiert wird in diesem Jahr das Thema Landschaft. Blickt man sich um, betrachtet die Architektur, die kubistische Gartenanlage, die Topografie des Ortes, ihre Formen und Strukturen, wird einem die Metaphorik des Begriffs rasch klar.
Im ältesten Teil der Villa werden in je einem eigenen Raum die Arbeiten von acht jungen Designern präsentiert. Eine Jury – bestehend unter anderem aus Konstantin Grcic (Designer, München), Jerszey Seymour (Designer, Berlin), Marie-Claude Beaud (Direktorin des Museum of Modern Art, Luxemburg) und Walter Bettens (Chefredakteur der Zeitschrift DAMn°) – hat im Verlauf des Festivals unter den acht Designern einen Gewinner für den Grand Prix und einen für den Group Seb Design Award ausgewählt; zudem gibt es einen Gewinner, der von der Öffentlichkeit bestimmt wird. Im Schwimmbad, der Squash- und Sporthalle der Villa wird eine große Ausstellung von den französischen Designern Erwan und Ronan Bouroullec gezeigt, in der Galerie des Hauses präsentieren die beiden Gewinner des Grand Prix der letzten Design Parade 02, Sébastian Cordoleani und Franck Fontana, ihre Arbeiten, im Rosa Salon zeigt der französische Designer Pierre Charpin seine Entwürfe für die traditionsreiche Porzellan-Manufaktur aus Sèvre, und im Gewölbesaal der Villa findet der fünfte Teil der Ausstellungsreihe „Documents“ statt, die sich in Vorbereitung auf die ab 2010 geplante Dauerausstellung mit verschiedenen Aspekten zur Geschichte der Villa Noailles beschäftigt. Die Ausstellung greift das Thema „moderne Gärten“ auf, die von Gabriel Guévrékians kubistischem Garten der Villa und anderen Beispielen der europäischen Moderne inspiriert wurden. Ein weiterer Schauplatz der Design Parade ist die Schau „Superarchitettura 66 - Reloaded“ in der Chapelle Sainte Blaise im Stadtzentrum Hyères.
Das Zentrum der Design Parade bildet zweifellos die Ausstellung „Ètapes“ der Gebrüder Bouroullec. In den drei, in Größe und Charakter ganz unterschiedlichen Räumen der Villa wird der kreative Prozess ihres Arbeitens von der Inspiration bis zur Produktion präsentiert: Neben Zeichnungen und Vorstudien sind Inspirationsquellen, kleine Modelle und Fotografien zu sehen, gezeigt werden aber auch Techniken, die in der Möbelproduktion zum Einsatz kommen, sowie fertige Produkte. Betrachtet man die Arbeitsweise der Bouroullecs genauer, so fällt der Brückenschlag zum Thema Landschaft nicht schwer: Blickt man durch die gläserne Front in das Schwimmbad der Villa, dann gleicht der Ausstellungsraum einem gerahmten Landschaftsgemälde, das sich aus riesigen, dreidimensionalen Objekten und Sitzmöbeln, die wie Berge wirken, zusammensetzt. Und auch die Raumteiler wirken wie Zweige im Herbst, die miteinander verflochten sind oder gleichen einer hügeligen Wabenstruktur. Das „Bild“, das die Bouroulecs entworfen haben, ist sogar begehbar wie eine Landschaft, durch die man wandert, die man berühren kann, in der man sich niederlassen und nachdenken kann, und in der man neue Ein- und Ausblicke gewinnt.
Erstaunlicher mag auf den ersten Blick die thematische Verbindung zur Superarchitettura-Ausstellung sein, die 1966 in einer kleinen Galerie in Pistoia stattfand und die das italienische Unternehmen Poltronova zum seinem fünfzigjährigen Firmenjubiläum rekonstruiert hat, um sie im Rahmen der Design Parade zeigen zu können. Die Ausstellung der beiden Florentiner Design- und Architekturstudios Archizoom und Superstudio wurde international als Manifest des radikalen, italienischen Designs verstanden. Beide Gruppen haben sich mit ihren unkonventionellen, ironisch-provokanten Entwürfen gegen Konsum und Funktionalismus, gegen ästhetische und ideologische Paradigmen und die althergebrachte Statusfunktion des Designs gewandt. Neben knallbunten, von der Pop-Art inspirierten Produktentwürfen, haben sich beide Gruppen aber auch intensiv mit Städteplanung und urbanen Konzepten beschäftigt.
Die Ausstellung im Dezember 1966 stand unter dem Eindruck der großen Flutkatastrophe in Florenz und Umgebung, ihre Eröffnung fand nur einen Monat nach dieser Tragödie im vom Unglück verschonten Pistoia statt. Das Projekt entstand somit vor dem Hintergrund einer menschlichen und urbanen Katastrophe, was die Eindringlichkeit der Entwürfe abermals steigerte. Vor allem aber bekamen die utopischen Ideen und Produkte in ihrer Realitätsferne auf diese Weise mit einem Mal einen ganz anderen Stellenwert.
Archizoom und Superstudio haben zu einem Aspekt beigetragen, der auch heute nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat: sie haben die Trennung von Design und Architektur aufgehoben, oder besser: sie haben architektonische Strukturen in die Formsprache des Designs integriert. Auch die Superarchitettura-Ausstellung baute eine Landschaft nach, mit Bergen, Blumen, einem Haus und einem Fluss, woraus Produktentwürfe abgeleitet wurden. Einige der in Pistoia ausgestellten Prototypen wie Superonda, Sofo, Passiflora und Gherp, wurden später nicht nur zu Ikonen, die Ideen von Archizoom und Superstudio veränderten die häusliche Wohnlandschaft von Grund auf.
Im Ganzen betrachtet scheint der Reiz der Design Parade vor allem darin zu liegen, dass sie einzelne Elemente frei mit einander kombiniert und ebenso assoziativ mit den verschiedenen Disziplinen wie mit deren Inhalten verfährt. Das gelingt deshalb, weil der Begriff der Landschaft zwar offen und unscharf ist, gleichwohl aber genügend metaphorische Kraft entfaltet, um die unterschiedlichsten Aspekte und Themen miteinander zu verbinden. Doch je weiter man sich vom sicheren Kern entfernt, umso mehr Halt verliert man. Trotzdem ist es ein Schritt in die richtige Richtung, zumal in einer Zeit, in der Design als Disziplin ebenso kontrovers diskutiert wird wie die Art seiner Präsentation. Nur wer das Offene und Undefinierte als Potenzial betrachtet und ein Thema setzt, das die Grenzen zwischen den Disziplinen überschreitet, der wird durch die Freiheit des Denkens möglichen Antworten auf die Frage, was Design vermag, ein Stückchen näherkommen. Schließlich ist auch das Design eine bergige, mal steile, mal sanft abfallende, vor allem sich stetig verändernde Landschaft, in der hier etwas blüht, dort etwas verwelkt, und in der sich viele Gärtner ans Werk machen, den Boden zu kultivieren.
Die Design Parade fand vom 4. bis 6. Juli 2008 statt. Die Ausstellungen sind noch bis zum 21. September 2008 zu sehen.