Die Berichte von der Front sind eingetroffen. Was sie festhalten, wird in Venedig bis in den November hinein gezeigt. Ob der zwischen konkretem Ortsbezug und militärischer Terminologie schillernde Titel für eine Architektur des Engagements tatsächlich glücklich gewählt ist? Indes wichtiger wäre es, zu klären, wo genau diese Front eigentlich verläuft, die Aravena meint. Steht die Architektur etwa „mitten im Feuer“ oder wähnt sie sich, wie einst die historische Avantgarde, ganz weit vorne? All das bleibt unklar. Bei Front denkt offenbar der eine an einen vorgeschobenen Posten, ein anderer an die Vorder- oder Schauseite des Bauens. Zeigt her eure Bauten, das gehörte immer schon zum Hauptprogramm einer Architekturbiennale – und es steht nun doch auch bei „Reporting from the Front“ wieder vielfach im Mittelpunkt.
Die temporäre Abwesenheit der meisten Stararchitekten mitsamt all ihren spektakulären Signature-Buildings, die gerade irgendwo auf der Welt für viel Geld aus Stahl, Beton und Glas in die Höhe schießen, darf vermerkt werden, wird im Alltagsgeschäft aber kaum Effekt machen. Dass Aravena versucht, die Perspektive einer vielfach erstarrten Architektur zu erweitern und die Aufmerksamkeit von notorisch unbehausten Menschen, aber auch von Architekten, Bauherrn, Investoren und Politikern auf einen ganz anderen, sozial verpflichteten Typus des Bauens zu lenken, zeugt immerhin von noblen Absichten. Die allgegenwärtigen Geister einer smarten neuen Investorenwelt samt nach allen Seiten vernetzter Big-Data-Ströme werden sie kaum verscheuchen können. Dass diese sich rasch weiter ausbreiten werden, steht aufgrund gegebener Machtverhältnisse außer Frage. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich parallel zu oft sozialromantisch auftretenden Alternativen offensiv mit ihnen und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen.
Dementsprechend mischen sich ermutigende Ansätze, in konkrete Projekte und vielversprechende Pläne verpackt. Es wird analysiert, erforscht, ausgedacht und erprobt, wie eine Architektur agiert, die wieder etwas langsamer und achtsamer wird, die weiter als bis zur Gebäudeübergabe denkt, die ihren Preis wert, ökologisch und engagiert ist, und auf die Bedürfnisse ihrer Nutzer statt auf die Rendite der Investmentfonds achtet. Oft stammen die Beispiele aus besonders gefährdeten Randzonen, aber auch – Stichwort Migration – aus in ihrer Stabilität bedrohten Zentren. Daneben gibt es aber auch das: Nur gut gemeinte Visionen einer „guten Architektur“ die allzu verträumt auf eine bessere Welt hofft. Leicht wird sich nichts von alledem gegen die Interessen des Kapitals durchzusetzen können. Die Ansätze aber sind da und es könnte ihnen nachgeeifert werden.
Sorgen machen sich viele. Dass sich etwas ändern, dass es weniger soziale Ungleichheit und mehr Zusammenarbeit geben muss, glauben in Venedig eigentlich alle. Das Patchwork der Alternativen leuchtet in vielen Farben von Hochglanzpostern. Und es werden jede Menge Fragen gestellt, darunter viele richtige. Wie kann die Architektur neue Formen der Kooperation initiieren und unterstützen? Lassen sich Blockaden in einem Dreischritt aus „Thinking! – Meeting! – Acting!“ auflösen, wie im Pavillon Italiens zu lesen ist? Was bleibt von der Architektur, wie wir sie kennen? Lässt sich Zukunft überhaupt planen und bauen?
Durchwandert man die Ausstellung des Biennale-Chefs und erkundet die Länderpavillons, die Aravenas Generalthema dankbar-beflissen in großer Zahl aufgegriffen haben, so scheinen sich zwei Alternativen herauszukristallisieren: Pfeifen im Walde oder selbst Anpacken. Als Gegengift zum allgegenwärtigen Investoreneinerlei geht das prinzipiell in Ordnung, deckt das existierende Spektrum architektonischer Alltagsbewältigung aber nicht annähernd ab. Ganz abgesehen davon: Auch jede Art von Selbstschulung und Do-it-Yourself schafft seine Ästhetik. Über die wird aber nicht geredet. Was nicht nur schade ist, sondern überdies einen in der Sache unnötigen Gegensatz zwischen sozialen und ästhetischen Fragen aufbaut. Über die Schönheit des Engagements hat sich schon lange keiner mehr Gedanken gemacht. Immerhin glaubte einst ein ganz anderer Idealist, allerdings kein Architekt, der Weg zur Freiheit führe allein über die Schönheit zum Ziel.
Weil all das so ist, wie es ist, lässt sich in den Gärten und im ehemaligen Arsenal der venezianischen Flotte derzeit gut beobachten, wie gründlich die Architektur – und wir alle – derzeit zwischen zweierlei Fatalitäten feststecken: Auf der einen Seite verweist Aravena auf gelungene Projekte einer Architektur von unten, die unter Einbeziehung aller Beteiligten Lösungen anzubieten versucht; auf der anderer Seite scheinen Erstarrung und Ohnmacht durch deren oft dünne Haut hindurch, steht jedem Aufbruch ins Offene ein Verhängnis entgegen, das halb Naturprozess, halb höhere Gewalt zu sein scheint. Die Überlegung, die der Philosoph Peter Sloterdijk vor Jahren mit Blick auf die weltklimatischen Verhältnisse angestellt hat, beschreibt das Dilemma: „Immer mehr Agenten finden sich immer häufiger in Situationen, in denen sie nicht die Mittel besitzen, um zu tun, was sie dem Stand ihrer Kenntnisse zufolge auf der Stelle tun müssten.“
Schauen wir uns trotzdem einige Beispiele aus der Fülle all dessen an, was unsere Kenntnisse bereichert – zum Nachschmecken für all jene, die schon Biennale-Luft geschnuppert haben, und als Kostprobe für diejenigen, die erst noch nach Venedig fahren werden.
Aravenas Plattenbau und der Müll der Biennale
Aufklärung ist gut, ihre Wirkung meist gering: Unter dem Titel „Curator’s Project“ hat Alejandro Aravena am Eingang zum Arsenale und zum Padiglione Centrale in den Giardini einige bauliche Reste der letzten Biennale zusammengetragen und fein säuberlich zu einer Installation verarbeitet. Von der Decke hängen verbogene Metallprofile, an den Wänden sind Tonnen von Gipskartonplatten aufgeschichtet. Der Verlauf der Front, hier zumindest wird er deutlich: Was für gewöhnlich weggeworfen wird, taugt allemal dazu, Neues aufzubauen. In der Hauptausstellung in die Tat umgesetzt, hat es Aravena aber auch nicht. Es bleibt bei der Geste. Die Liste der Wörter und Begriffe, die Aravena seiner Ausstellung zugeordnet hat, passen dazu. Sie reicht von „Lebensqualität“ bis „Banalität“.
Rückzug ins Amorphe?
Auch im Schweizer Pavillon möchte Christian Kerez Architektur neu und anders denken, um anders bauen und Räume anders erlebbar machen zu können. Sein „Incidental Space“ hat es sich zum Ziel gesetzt, die Möglichkeiten zu untersuchen, die dem sowohl technisch, als auch in unseren Vorstellungen entsprechen. Auf der Grundlage eines experimentell hergestellten Gipsabgusses, digitaler Scans und diverser Übersetzungsschritte ist ein komplexer „atomisierter“ Raum entstanden, der sich nach innen unendlich ausdehnt, sich visuell nicht entschlüsseln lässt und kein Abbild von etwas Anderem darstellt. Kurz: Kerez sucht nach einem Raum, der in nichts mehr dem entspricht, was bisher als architektonischen Raum gedacht wurde. So spaßig es freilich ist, sich durch die so aufwendig generierte amorphe Hülle zu tasten und festzustellen, dass man deren voluminöses Äußeres nicht in Gänze ins Auge zu fassen vermag – mehr als eine simple Metapher dafür, dass selbst großer Aufwand zu bescheidenen Ergebnissen führen kann, ist dabei nicht herausgekommen. Selbst den Raum kennt man: Es ist eine, wenn auch artifizielle Höhle. Oder, von außen betrachtet, eine Wolke. Kurt Schwitters hätte die Idee jedenfalls rasch ausgemerzt.
Pool-Gemeinschaften
An dieser Front lässt es sich aushalten. Hier geht es australisch entspannt zu. Fehlt nur das Bier. Einen veritablen Pool haben Aileen Sage Architects in den neuen, erstmals während einer Architekturbiennale bespielten Australischen Pavillon hineingebaut. Wahrlich nützliche Architektur. Ein Pool muss nicht immer gebaut sein, als Pool kann vieles dienen: In der Wildnis ein Wasserloch, der tote Seitenarm eines Flusses oder ein Stausee; an der Küste ein betoniertes Becken oder eine von den Gezeiten ausgewaschene Höhlung im Fels. Immer aber, so die These, sei ein Pool ein Ort, an dem Einzelner und Gemeinschaft sich begegneten. Es stimmt: Hier lässt es sich wohl sein. Hier trifft man auf andere. Hier werden acht Pool-Geschichten erzählt. Die Kinder sind beim Anblick des Beckens ohnehin nicht zu bremsen; kaum haben sie den Pool gesehen, schon sind sie hineingesprungen. So unverkrampft kann Gemeinschaft auch entstehen. Zumindest im australischen Pavillon.
Magritte baut Fotos
Im Pavillon Belgiens regiert die Imagination. Man könnte auch sagen, hier darf ein Surrealismus à la René Magritte zusammen mit dem Nachdenken über einfache bauliche Elemente medial-architektonisch wiederaufleben. Die Überraschung gelingt denn auch. Erledigt wird das im Titel wie im Wortsinn mit „Bravoure“, und demonstriert mittels dreizehn Fragmenten aus dreizehn Gebäuden von dreizehn Architekten – einfachen gestalterischen Mitteln wie Lüftungsrohren oder Mauern. Ein wenig verheddert hat man sich dann aber doch. Dreizehn Fragmente, jedes als Triptychon dargestellt, hatten es sein sollen. Oder eben eine Betrachtung aus drei verschiedenen Perspektiven. Nun sind es oft vier geworden: Man erkennt ein fotografisches Dokument, ein reales Fragment und einen per Hand auf die Wand geschriebenen Text. Eingestreut werden dann noch Fotografien von Filip Dujardin, die mit den Fragmenten ein irritierendes, ins Surreale gesteigertes Spiel treiben.
Blaue Front
Die Niederlande überraschen, gehen tatsächlich an die Front und untersuchen die Architektur von UN-Friedensmissionen. „Blue“ listet nicht nur Staaten und Basen der verschiedenen Missionen auf, die Kuratorin Malkit Shoshan stellt auch überzeugend eine Recherche darüber an, auf welch vielfältige Weise die abgeschotteten, mit Stacheldraht umzäunten Militärbasen sowohl während ihres Aufbaus, als auch beim Abzug der Truppen auf die bestehende Struktur der jeweiligen Standorte einwirken – inklusive zahlreicher Altlasten. Vorgeschlagen wird, zumindest einen gewissen Teil der UN-Basen so zu gestalten, dass sie Blauhelme und Einheimische einander etwas näher bringen.
Ein neuer Reichtum
Die Art der Präsentation ist nicht sonderlich eingängig und man braucht eine Weile, bis man das Konzept versteht. Den Kuratoren des Französischen Beitrags, Obras Architekten und das Kollektiv AJAP14, geht es um eine neue, unerwartete Form des Reichtums. Nicht das Geld, so sollen zahlreiche Projekte belegen, definiere den Wert einer Sache, vielmehr entstehe kollektiver und sozialer Reichtum aus lokalen Ressourcen, Formen des Austauschs und einer demokratisch organisierten Zivilgesellschaft. Bei all dem spielt – wir sind in Frankreich – die Gemeinschaft der Bürger eine zentrale Rolle.
Architektur auf der Couch
Nun wird’s therapeutisch. „In Therapy: Nordic Countries Face to Face“ lautet tatsächlich der übergreifende Titel dessen, was im Nordic Pavillon präsentiert wird. Im Gemeinschaftspavillon von Finnland, Schweden und Norwegen, der von David Basulto kuratiert wurde, stehen dabei drei ¬Fragen im Zentrum: Was wurde getan? Was wird getan? Und: Was kommt dann? Aus allen drei Ländern mit ihren Unterschieden in Geschichte, Kultur und ihren Haltungen zum Gestalten, wurden Projekte ausgewählt, die eine Art „Nordischen Geist“ in der Architektur verkörpern sollen. Alles sehr vage. Naturbezug und Kultur spielen dabei eine wichtige Rolle. Wer das Klettern nicht scheut und große Lust hat, auf einer riesigen hölzernen Pyramide herum zu klettern, kann verschiedenfarbige Blätter zu einzelnen Projekten oder zum Konzept einsammeln. Er kann sich aber auch auf die Couch legen und sich anhören, was einer der „Therapeuten“ – leider spricht er nur vom Monitor zu einem – über die Gemeinsamkeiten und Konflikte zu sagen weiß, die es in den nordischen Ländern zwischen Architektur und Gesellschaft gibt. Therapie, sitzend oder liegend, ganz wie es beliebt.
Fragen, Sätze, Sprüche
Biennalen sind Orte voller verbaler Botschaften. Es werden Fragen gestellt und Aussagen gemacht. Ohne sie geht es nicht. Bilder und Pläne wären nicht genug. Dabei kann man sich oft nicht des Eindrucks erwehren, dass mehr als Thesen, Überschriften, Hinweise, zuweilen sogar recht platte Werbebotschaften dabei nicht herauskommen. Parolen sind offenbar zu jeder Zeit gefragt.
Räume öffnen
Die japanische Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren verändert. Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jüngeren, ist zur Regel geworden. Die Unterschiede zwischen arm und reich haben zugenommen, und das verheerende Erdbeben von 2011 hat zu weitreichenden Verlusten geführt. In dieser Situation wird danach gefragt, wie die japanische Architektur darauf reagiere, wie sie sich verändere, um sich auf die Herausforderungen der neuen Zeit einzustellen. Wie Antworten aussehen könnten, sollen einige gelungene architektonische Verbindungen zwischen Menschen und Dingen aufzeigen – allesamt, wie meist bei den Japanern, sehr durchdacht und wunderbar gestaltet.
Faires Bauen
Wer baut eigentlich? Weshalb wird so selten über diejenigen geredet, die die eigentliche Arbeit machen? Und wer entscheidet mehr über das Ergebnis, der Architekt oder der Handwerker? Im Polnischen Pavillon geht die Kuratorin Dominika Janicka gleichsam an die Heimatfront der Architektur. „Fair Building“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die physischen Aspekte des Bauens, auf die Handwerker und ihre Arbeitsbedingen. Zu Recht wird gefragt, weshalb es für Gebäude eigentlich noch keine „Fair Trade“-Zertifikate gibt.
15. Architekturbiennale Venedig
bis zum 27. November 2016
Zweibändiger Katalog zur Hauptausstellung mit 668 Seiten, 78 Euro