„Art Basel“, das ist und bleibt – auch im 44. Jahr ihres Bestehens – Europas wichtigste Kunstmesse. Auch in diesem Jahr präsentiert sie sich im alten neuen Glanz. Alles muss sein wie immer – das verlangt die Sehnsucht nach dem Ritual. Alles muss ein bisschen neu sein – das verlangt die Sehnsucht nach Abwechslung.
Das Ritual: Drei Tage vor der „Jedermann-Eröffnung“ dürfen die mit VIP-Karten Ausgestatteten um 11 Uhr die Messehalle stürmen, in ebenso brennender wie gieriger Sorge, den unerlässlichen Kunstkauf nicht zu versäumen, weil ein anderer schneller gewesen ist. Sonst erlebt man so herbe Enttäuschungen wie diese: Sechs hinreißende kleine Arbeiten von Frank Stella (je 30,5 mal 30,5 Zentimeter) hätten für 6,2 Millionen Euro gekauft werden können, wenn nicht bereits eine halbe Stunde nach Eröffnung ein anderer zugeschlagen hätte (bei Lévy, New York). Ein spätes Werk von Brice Marden (bei Mnuchin, New York) wäre für 9 Millionen Euro zu haben gewesen, wenn die Arbeit nicht schon einen neuen Besitzer gefunden hätte. Und all die hinreißenden Zeichnungen von Robert Longo (bei Hans Mayer, Düsseldorf) sind Minuten nach der Eröffnung für je 30.000 Euro verkauft, noch bevor der schlendernde Besucher seine erste Runde gedreht hat. Neun Galerien bieten Anish Kapoor an und verkaufen alle Arbeiten am ersten Tag in den ersten Stunden!
Das Neue: Trotz der immer gleichen Rituale beginnt der Besuch in diesem Jahr mit einer Überraschung: Was vor einem Jahr noch eine Baulücke war, ist geschlossen. Die Basler Architekten Herzog & de Meuron haben die Vergrößerung der Halle 1 ebenso sensibel wie eindrucksvoll, so vernünftig wie überzeugend vollendet. Damit findet nicht nur die Designabteilung großzügigere Räume, auch der Avantgarde ist noch mehr Platz eingeräumt, der Sektor „Unlimited“ merklich vergrößert worden, also noch mehr Raum für atemberaubende Installationen, die nun auch die Künstler verführen oder zwingen, mit Riesenprojekten die Hallen zu (über)füllen. Dass groß nicht immer gut ist, muss der Besucher der „Unlimited“ bald feststellen und im Übrigen viel Geduld mitbringen, um sich in den vielen Video-Räumen sachkundig zu machen. Viele der Künstler, die sich in diesen Hallen präsentieren, sind selbst für die Eingeweihten unbekannt, manche machen neugierig, viele lassen leider gleichgültig.
Aber der Besucher streift zunächst durch die „klassische“ Art Basel: Es ist auch in diesem Jahr unfassbar, welche museale Qualität im käuflichen Angebot dort zu sehen ist – und welche Preise dafür gefordert und gezahlt werden. Alle großen Namen tauchen vielfach auf: Miró (14 Galerien), Picasso (25 Galerien), aber auch Daniel Buren, Jean Dubuffet, Donald Judd, Sol LeWitt, Cy Twombly werden von zwischen 10 und 30 Galerien angeboten. Wie eine Oase im Buntgemischten empfinde ich die Galerie Blau (München), die ein nie gesehenes Konvolut von Andy Warhol-Zeichnungen zur One-Man-Show verdichtet und dafür sogar raisonable Preise aufruft. So sind die unteren Hallen wieder eine lachende (Kunst)Lust und ein dauernder (Kauf)Frust. Hinsichtlich der Preise gilt die Erkenntnis: Nach oben gibt es offensichtlich keine Grenze! Der Neu-Gierige und gar Kauf-Lustige wird sich bald in die obere Halle der Art Basel begeben: Zu den jüngeren Künstlern und Galeristen, die noch neue Wege suchen – und finden und noch nicht in der Preisspirale davonfliegen.
Natürlich könnte ich die nachfolgenden Zeilen füllen mit Hinweisen auf Präsentationen, die auch hier überraschend und manchmal auch überzeugend sind. Dennoch kann ich es nicht verhehlen: Beim abendlichen Verlassen der Messe bleibt in mir ein schaler Geschmack zurück. Vielleicht war ich diesmal schon „angezählt“, bevor ich die Messe betreten habe. Der frustrierende Besuch der Biennale in Venedig lag nur wenige Tage hinter mir. Noch nie sah ich in den Pavillons so viel läppische, nach Originalität schreiende, vom schnellen Witz gezeugte und sich im Witz erschöpfende Kunst wie in diesem Jahr in Venedig.
Dieser Eindruck – dass der schnelle Witz die ernsthafte Kunst verdrängen will – verstärkt sich bei meinem Rundgang in Basel insbesondere in der oberen Halle. Immer deutlicher wächst mein Unbehagen, wenn ich sehe, wie viele junge Künstler und Künstlerinnen krampfhaft das Noch-Nicht-Dagewesene suchen und dabei dem schnellen Witz Gestalt geben: Da krabbeln kleine Holz-Mannequin-Puppen einen Felsen hoch, da ist ein etwa 20 Zentimeter hohes Totengerippe mit Boxhandschuhen zu sehen, da sitzt ein alter Mann, hyperrealistisch à la Duane Hanson, 50 Zentimeter groß, auf einem Holzkasten und schaut sich im Spiegel an. Wirklich, sehr witzig! Die Sucht, originell sein zu wollen, findet ihre Befriedigung im Witz. Das Entscheidende selbst am guten Witz aber ist, dass man ihn nicht zweimal denselben Menschen erzählen darf und ihn niemand zweimal hören will. In der vermeintlichen Notwendigkeit, originell sein zu müssen, wird das Unbedingt-Neue krampfhaft gesucht. Die Leinwand, die Skulptur, die Zeichnung, die Collage scheinen „von gestern“ zu sein. Der „Witz auf Teufel komm raus“ aber ermüdet schnell. Dieses Pauschalurteil ist sicher ungerecht, weil verkürzt, denn es gibt ja viele wunderbare Arbeiten in Basel zu sehen, aber gerade bei der Suche nach dem Neuen treffe ich allzu häufig auf den Versuch, Aufmerksamkeit durch Originalität statt durch Qualität zu erzeugen.
Auf dem Heimflug denke ich darüber nach, was geblieben ist, wovon ich berichten könnte, wenn ich gefragt würde: „Was hat dir denn gefallen in Basel?“. Und das sind dann erstaunlicherweise zwei Arbeiten aus der „Unlimited“.
Da baut Roni Horn eine ihrer schönsten Installationen: Mannshohe transparente Glasbehälter, in verschiedenen Farben gefüllt mit Wasser – unglaublich poetisch, weit entfernt von laut schreiender Skulptur, auch und gerade bei „Unlimited“.
Und dann taucht es wieder vor mir auf: Das bewegende Video von dem aus Chile stammenden Künstler Alfredo Jaar (der bei Thomas Schulte, Berlin, eine großartige Fotoarbeit zeigt, ausgehend von einem 1946 entstandenen Foto: Lucio Fontana in seinem zerbombten Atelier in Mailand). Jaars acht-minütiges Video mit dem Titel „The Sound of Silence“, 2006, (das ist wohl keine Anspielung auf das Simon & Garfunkel-Album aus dem Jahre 1966, das denselben Titel trägt) wird mir lange nicht aus dem Kopf gehen. Es besteht nur aus kurzen, mit der Schreibmaschine geschriebenen Sätzen. Jeder Satz steht für sich allein, blackout nach jedem der Sätze, die das verwirrte und verwirrende Leben von Kevin Carter – es ist dessen wahre Geschichte, er hieß auch so – einem weißen, in Südafrika geborenen Mann erzählen, der als Sanitäter in der Armee scheitert, mit Arbeitslosigkeit konfrontiert ist, bis er als Kriegsfotograf Erfolge hat, die ihn aber nicht glücklich machen. „He tried to kill himself swallowing rat poison“, heißt der eine Satz und nach einem dunklen Moment folgt der kurze: „He survived“. Blackout.
Im Sudan fotografiert er – damals schon ein renommierter Fotograf – ein kleines, schwarzes, am Boden kriechendes und offensichtlich hungerndes Kind. Hinter ihm ein großer, seltener Geier, der sich dort niedergelassen hat. Dieses atemberaubend-schreckliche Bild – es taucht für wenige Sekunden auf und ist das einzige Bild in diesem Video, der Rest besteht aus Text – wird ein Welterfolg, dafür bekommt Kevin Carter 1975 den Pulitzer-Preis für Fotografie.
Und nun setzt weltweite harsche Kritik ein über die vermeintliche (oder wirkliche?) Herzlosigkeit dieses Fotografen, der das Produzieren eines Fotos (also eines Kunstwerks!) für wichtiger hält, als sich um ein hungerndes Kind zu kümmern. Was für ein Thema! Zwei Monate nachdem Kevin Carter für dieses Foto den Pulitzer-Preis angenommen hat, nimmt er sich das Leben. Seine letzten Worte in einem Brief: „I am very, very sorry“. Nach diesem Video – die Unlimited-Halle verlassend – schien mir die laute, lärmende, witzige Kunst im Umfeld noch überflüssiger. Aber eine unvergessliche Begegnung an einem Tag: das ist doch viel!
Prof. Dr. Peter Raue ist Rechtsanwalt, Notar und Kunstförderer. Von 1977 bis 2008 war er Vorsitzender des Vereins der Freunde der Nationalgalerie in Berlin. Er ist Partner und Namensgeber der internationalen Kanzlei Raue LLP in Berlin und seit 2005 Honorarprofessor für Urheberrecht an der Freien Universität Berlin.