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Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) in der Nähe ihres Hauses E.1027 in Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich

Rekonstruktion eines Dramas

Ende Oktober startet der Film E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer in den Kinos. Wie sie mittels der Dokufiction den Blickwinkel der Architektin und Designerin erfahrbar machen wollen, sagen uns Regisseurin Beatrice Minger und Co-Regisseur Christoph Schaub im Interview.
von Simone Kraft | 03.10.2024

Die irische Designerin Eileen Gray errichtet gemeinsam mit Jean Badovici 1929 ein Sommerhaus an der Côte d’Azur: E.1027, eine kryptische Kombination aus ihren Initialen und denen von Badovicis, dem sie es bereits wenige Jahre später überlässt. Als Le Corbusier das Haus entdeckt, ist er fasziniert. Später überzieht er die Wände mit Wandmalereien und veröffentlicht Fotos davon, E.1027 wird berühmt – als sein Werk. Le Corbusier korrigiert den Fehler nie; vielmehr stellt er sein Cabanon in unmittelbarer Nähe des Gebäudes auf. Gray hingegen bezeichnet seine Malereien als Vandalismus und fordert ihre Rücknahme. Direkt begegnet sind sich Gray und Le Corbusier höchstwahrscheinlich nie.

Der Film "E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer" der Schweizer Regisseurin Beatrice Minger, gemeinsam mit Christoph Schaub, ist eine filmische Reise in die Gedankenwelt von Eileen Gray. Der Film rekonstruiert die dramatische Geschichte einer avantgardistischen Designerin und ihres atemberaubend schönen Hauses. Die Design-Ikone Eileen Gray war zudem unmittelbare Inspiration für die Gestaltung des Films, welche sich in klaren Linien, besonderen Farbgebungen und Formen wiederspiegelt.

Simone Kraft: Christoph Schaub, Sie haben bereits zahlreiche Architekturfilme realisiert, etwa "Bird’s Nest – Herzog & De Meuron In China" und "Architecture of Infinity" etwa, Beatrice Minger, für Sie ist es der erste Langspielfilm. Wie kam es zu Ihrem gemeinsamen Projekt?

Christoph Schaub: Tatsächlich gab es hier einen äußeren Anstoß, der Produzent Philip Delaquis hat mich auf das Thema Le Corbusier angesprochen. Zunächst war ich etwas skeptisch, habe mich dann aber mit Bea zusammengesetzt, wir haben recherchiert und sind auf die Geschichte um Eileen Gray gestoßen, die ja nicht zuletzt durch die Gender Thematik hochaktuell ist. Davon haben wir den Produzenten überzeugt – dieser Film oder keiner!

Beatrice Minger: Dann ging die Arbeit los mit intensiven Recherchen, Gesprächen mit Expertinnen für Eileen Gray, für Le Corbusier. Die Geschichte um das Haus, um E.1027, wird sehr unterschiedlich erzählt. Es gibt verschiedene Blickwinkel darauf, jeder erzählt eine etwas andere Version. Überhaupt ist Eileen Gray eine sehr geheimnisvolle Figur, von der wenig bekannt ist. Sie hat alle persönlichen Dokumente, Notizen, Korrespondenzen kurz vor ihrem Tod vernichtet, vernichten lassen. Es gibt ganz große Lücken und die habe ich versucht, durch viele Gespräche zu füllen.

Christoph Schaub: Zeitzeugen, die sie gekannt haben, gibt es übrigens nahezu keine mehr.

Beatrice Minger: Das Thema wird gerade dadurch interessant, weil es so viele Lücken gibt. Es gibt einen relativ großen Interpretationsspielraum. An E.1027 zeigen sich ganz viele Diskurse der Moderne, die in den 1920er Jahren sehr aktuell waren und die heute, rund 100 Jahre später, wieder oder noch immer aktuell sind, aber auch mit einem neuen Blick betrachtet werden. Sich diesen Geschichten und Diskursen anzunähern, die im Haus stecken und die man erzählen kann, war ein sehr spannender Prozess.

E.1027 an der Küste v. Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich

Entwickelt wurde, für einen Dokumentarfilm eher ungewöhnlich, ein sehr genau geschriebenes Drehbuch, fast wie für einen fiktionalen Film. Entstanden ist eine "Dokufiction". Welche Überlegungen und Entscheidungen standen dahinter, den Film auf diese Weise zu erzählen?

Christoph Schaub: Wir haben bei diesem Film die Fiktionalisierung recht weitgetrieben, wir arbeiten in einer hybriden Form – mit Archivbildern und alten Aufnahmen, aber auch mit szenischen Elementen, mit Drehbuch, mit Inszenierung, mit Proben. Es gibt mehrere Ebenen im Film. Das ist eine Entwicklung im Dokumentarfilm, die in letzter Zeit oft gemacht wird.

Beatrice Minger: Wir haben viel experimentiert. Ich gehöre zu den Autorinnen, die immer schreiben, die eigentlich nie aufhören zu schreiben. Das geht bis kurz vor die Aufnahme der Szenen, es werden immer noch Sachen verändert, weil man gerade im Prozess noch viele neue Erkenntnisse gewinnt – etwa auch in der Zusammenarbeit mit Natalie Radmall-Quirke, unserer Hauptdarstellerin, die sich sehr intensiv mit dieser Figur auseinandergesetzt hat.

Christoph Schaub: Im klassischen Sinne haben wir viel Material gesammelt von der Architektur, von der Stimmung, der Atmosphäre vor Ort, der Landschaft, dem Garten, der Umgebung, die dann in die Narration montiert wurden. Unser Ziel war nicht, einen Film nur über diese Künstlerin zu machen, sondern über sie und ihr Werk oder eher auch: über ihr Werk und sie. Es gilt, beim Drehen sozusagen die Augen aufzumachen vor Ort, um eine lebende Architektur einzufangen.

Es gibt bereits einiges zu Gray und zur Thematik rund um E.1027, es gibt Filme, Graphic Novels et cetera. Worauf haben Sie Ihren Schwerpunkt gelegt bei Ihrem Film? Welche neue Facetten wollen Sie zeigen?

Beatrice Minger: Richtig, es gibt "Gray Matters", ein toller Dokumentarfilm von 2014, "The Price of Desire", schon ein fiktionaler Film von 2015, und natürlich "Einladung zur Reise" von Jörg Bundschuh. Es ist kein komplett neuer Stoff und wir wollten sehen, was können wir hier Neues hinzufügen? Daher haben wir uns entschieden, es gibt keine Interviews mit Expertinnen, es gibt keinen alles erklärenden Off-Text, wir wollen einen physischen Zugang finden zur Architektur, aber auch zur Figur Eileen Gray. Wie könnte sie das alles erlebt haben, was könnte Le Corbusiers Übergriff auf ihre Architektur für sie bedeutet haben? Wir wollten Gray Blickwinkel filmisch erfahrbar machen – als eine mögliche Sichtweise. Daraus ist der Studioraum als "Möglichkeitsraum" entstanden, in dem die Schauspieler aufeinander treffen und miteinander über theoretische, aber auch sehr emotionale Fragen debattieren. Neben den Szenen im Haus selbst sollte dies ein wandelbarer Raum sein, der ebenso installativ-abstrakt wirken kann wie fast schon realistisch, wenn man mit der Kamera näher geht. Wir wollten erzählen "so hätte es sein können", um aber im letzten Moment auch zu sagen: Wir erzählen nicht die Wahrheit, es gibt viele verschiedene Wahrheiten. Wir zeigen einen Möglichkeitsraum.

Christoph Schaub: Deswegen zeigen wir etwa auch keinen Grundriss im Film. Es geht um eine Interpretation des Raumes, die ja auch immer eine subjektive Erfahrung ist. Pläne helfen dabei nicht, sie sprechen das Intellektuelle an.

Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses E.1027 in Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich

Sie haben vor Ort im Haus E.1027 gedreht. Wie war das – ganz praktisch gesehen, aber auch im ganz persönlichen Erleben?

Christoph Schaub: Wie so oft beim Dokumentarfilm, war dies in der Tat ein etwas kompliziertes Terrain, schon rein rechtlich und versicherungstechnisch gesehen. Eigentümer des E.1027 ist heute der französische Staat, das Haus ist ein Museum, wir mussten daher sehr vorsichtig vor Ort arbeiten. Es war deswegen nicht ganz billig, dort zu drehen. Zudem gab es in der Hinsicht relativ viele Zwänge – aber oft genug entsteht das Besondere daraus, in der Reduktion Lösungen zu finden.

Beatrice Minger: Zugleich hat uns das Museum sehr unterstützt. Neben den strengen Auflagen, die uns sehr eingeleuchtet haben – sie dienen dem Erhalt des Gebäudes! –, war man dort sehr, sehr offen und hat vieles möglich gemacht. So haben wir etwa viel ausgestattet, wir wollten keinen musealen Raum filmen, sondern einen Ort zeigen, in dem jemand lebt. Die Ausstattung variiert etwas zwischen der Zeit, in der Eileen Gray dort lebt, und in der Zeit, in der Badovici allein dort ist, wenn mehr gefeiert wird, wenn mehr Unordnung herrscht. Das sollte man sehen, den Raum so spüren. Denn genau dies ist Eileen Grays großes Thema – ein Raum verändert sich, wenn Menschen ihn nutzen, darin wohnen. Ein Haus ist eben keine Maschine. Besonders berührend war es übrigens, als wir mit den Schauspielern vor Ort gedreht haben – wir haben natürlich viel "leer" vor Ort gedreht – und "sie", also Natalie Radmall-Quirke als Eileen Gray, endlich da war. Die Museumsfrauen, die fast jeden Tag im Haus verbringen, hatten Tränen in den Augen und sagten uns, genau so hätten sie sich Eileen Gray vorgestellt, es sei so berührend, dass sie nun sozusagen "zurückkommen" sei.

Wie war Ihr Eindruck des Hauses, etwa als Sie das erste Mal vor Ort waren? Sicher hat sich durch die Vorbereitungen ein inneres Bild geformt?

Beatrice Minger: Eindrucksvoll! Wir waren etwa 12 Mal vor Ort im Laufe des Projekts, und jedes Mal war das Erleben anders. Besonders dann, wenn man allein, ohne Touristen dort sein durfte.

Christoph Schaub: Ich muss ehrlich sagen – beim ersten Mal bin ich erschrocken. Und zwar weil das Haus wirklich sehr klein ist. Es ist ja ein Zwei-Personen-Haus, das insgesamt etwa 100 Quadratmeter hat. Wie sollen wir hier drehen, wie können wir es mit Geschichten füllen?

Jean Badovici (Axel Moustache) und Le Corbusier (Charles Morillon)

Und wie war die Erfahrung die Wandgemälden Le Corbusiers in E.1027 zu betrachten? Auch da hatte sich sicher eine gewisser Erwartungshaltung geformt?

Christoph Schaub: Ich finde, es sind an sich interessante Bilder, wenn man sie losgelöst, etwa in einem Buch, betrachtet. Für mich kommt eine sehr aggressive Grundhaltung in ihnen zum Ausdruck, die vielleicht noch aggressiver, offensiver wirken mag in unserem Kontext. Das macht gerade das Spannende an diesem Konflikt aus, ob die Gemälde nun "passen" oder nicht. Denn man kann nicht sagen, "Das sind schreckliche Bilder und darum ist das eine Schweinerei". Es ist der Kontext, der die ganze Thematik interessant macht.

Beatrice Minger: Ja, das würde ich auch so sagen. Ich finde die Gemälde nicht unglaublich toll, noch finde ich sie unglaublich schrecklich. Im Kontext dieses Hauses und dass sie die Wirkung der Architektur komplett zerstören, dadurch bekommen sie eine zerstörerische Wirkung. Ich hatte einen Gänsehaut-Moment, als ich die Räume zum ersten Mal digital sah – wir haben für den Film mehrere Bilder mit Computertechnik bearbeitet und die Wandbilder entfernt – und man sehen konnte, wie der Raum ohne Bilder wirkt. Wenn man so viel Zeit im Haus verbringt, kann man es sich gar nicht mehr ohne die Gemälde vorstellen, das ist zu einem Ganzen zusammengewachsen. Die Wirkung der Wände "pur" zu sehen, das war schon sehr, sehr beeindruckend, und umso stärker hat man die Intervention Le Corbusiers gespürt. Wie könnte Eileen Gray diese empfunden haben? Worauf könnte sich ihr Schmerz bezogen haben, was sie verletzt haben an diesem malerischen Übergriff? Diesen Fragen wollten wir nachspüren. Denn sie ist auch nicht in großer Bitterkeit gestorben und hat nicht bis ans Ende ihres langen Lebens an nichts anders als diesen Übergriff gedacht.

Haus und Gemälde sind zu einer Einheit geworden, die Wahrnehmung des Gebäudes und nicht zuletzt auch seine Erhaltung ist sehr stark an Le Corbusier gebunden. Auch zu Beginn Ihres Films stand ja zunächst die Figur Le Corbusier. Über "Corbu", den Platzhirsch, stößt man erst auf Eileen Gray. Wie geht man damit um, diese Person zu ihrem Recht kommen zu lassen, ohne sie in die Opferrolle zu drängen?

Christoph Schaub: In den letzten Jahren, seit den 1970ern letztendlich, hat dieser Konflikt sehr viel Bedeutung bekommen. Le Corbusier als dominanter Typ, der für seine eigene Dokumentation sorgt, Eileen Gray als Persönlichkeit, die sich zurückzieht, sich ins Private entzieht. Dies hat auch ihr Werk überdeckt. Wir hoffen, dass unser Film hilft, hier einiges wieder aus dem Hintergrund zu holen.

Beatrice Minger: Gray hat sich ganz bewusst aus dem Haus zurückgezogen, sie hat es Badovici ganz überlassen. Uns war wichtig, dies auch so zu erzählen: Sie wurde nicht vertrieben, sondern sie hat selbst ganz bewusst diese Entscheidung getroffen. Es ist auch wichtig, diese Geschichte in die Zeit einzuordnen, sie ist ja auch ein Porträt der Zeitgeschichte. Wir haben zwei sehr unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten, das darf man nicht aus den Augen verlieren: Eileen Gray, die, wie gesagt sehr, sehr private Persönlichkeit, die immer die Freiheit wählt, um künstlerisch maximal frei sein zu können, ohne Kompromisse eingehen zu müssen – und Kompromisse muss man eingehen, wenn man mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommt, vor allem als Frau, wenn man sich etwa in Künstlerinnengruppen einfügt, wenn man ausstellt und sich für einen Markt zugänglich macht. Gray hat sich sehr, sehr oft dafür entschieden, diese Kompromisse nicht einzugehen. Le Corbusier steht sozusagen im Spektrum diametral auf der anderen Seite. Er hat von Anfang an eine eigene "Marke" entwickelt, hat sehr bewusst publiziert, hat Slogans entwickelt und Manifeste veröffentlicht, hatte Fotografen dabei und darauf geachtet, dass er gefilmt wird. Damit war er eigentlich nach unserem Verständnis heute ein sehr moderner Künstler. Und ist deswegen eben auch unglaublich gut dokumentiert. Eileen Gray überhaupt nicht. Ich glaube, das hilft auch zu verstehen, warum ihm dieses Haus doch irgendwie unangenehm war, warum er das Bedürfnis hatte, dort eingreifen zu müssen, E.1027 zerstören zu müssen. Denn eigentlich konnte Gray ihm ja nichts wegnehmen, er war schon der Star der Architekturszene in den 1920er Jahren? Wenn man genau hinschaut und all diese Momente für sich stehen lassen kann, formt sich eine vielschichtige Sicht auf diesen Konflikt.

E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer
Regie: Beatrice Minger
Ko-Regie: Christoph Schaub
Drehbuch: Beatrice Minger in Zusammenarbeit mit Christoph Schaub
Schweiz 2024, 89 Min., Farbe
Sprache: Englisch, Französisch
Untertitel: Deutsch

Kinostart: 24.10.2024

E.1027