Hoffnungsschimmer
Tripoli als zweitgrößte Stadt im Norden des Libanons gelegen, wurde schon oft abgeschrieben. Nicht nur, weil die meisten Investitionen in Beirut stattfinden und Tripoli der Ruf als "arm und gefährlich" vorausgeht. Seit 2019 befindet sich das gesamte Land in einer schweren Krise – politisch, wirtschaftlich und sozial. Seit Oktober letzten Jahres gibt es keine gewählte Regierung mehr, das libanesische Pfund ist im freien Fall, die Bevölkerung verarmt zusehends. Zudem zerstörte im August 2020 eine gewaltige Explosion falsch gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut weite Teile der Stadt, dem wirtschaftlichen Zentrum des Landes – inmitten einer weltweiten Pandemie. Keine gute Voraussetzung also für das Gedeihen von Kunst, Design und Architektur. Doch inmitten der Misere tauchen in Tripoli kleine Hoffnungsschimmer auf. Gerade wurde die Stadt von der Arabischen Liga zur "Arab Capital of Culture 2024" ernannt, was ihr endlich positive Aufmerksamkeit beschert, auch aus dem Ausland. Nicht nur gab es in Tripoli vor dem Libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) zahlreiche Kinos und Theater. Zwischen der historischen Altstadt und dem Hafen befindet sich ein architektonisches Kleinod, das es verdient entdeckt zu werden: die vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer zwischen 1962 und 1975 geplante Rachid Karami International Fair. Ursprünglich sollte das permanent angelegte Messegelände bis zu zwei Millionen BesucherInnen jährlich empfangen, doch der Ausbruch des Bürgerkriegs verhinderte die Fertigstellung der Gebäude und die Messe wurde nie eröffnet.
Im Januar dieses Jahres wurde das Ensemble, das in einen gepflegten Landschaftspark eingebettet ist, in die UNESCO-Liste der bedrohten Welterbestätten ("List of World Heritage in Danger") aufgenommen. Der Entwurf von Oscar Niemeyer sei "ein herausragendes Beispiel für den Städtebau und die Architektur des 20. Jahrhunderts", so der Bewerbungstext für die Aufnahme in die Welterbeliste. Auf einer Fläche von 72 Hektar gruppieren sich Hauptgebäude wie die große Ausstellungshalle, der libanesische Pavillon, das Amphitheater und die Direktorenvilla sowie zahlreiche Nebengebäude. Einige der markanten Strukturen wurden in den letzten Jahrzehnten – teils unter völliger Missachtung von Niemeyers Ideen – bis zur völligen Unkenntlichkeit umgebaut oder gar zerstört, verfielen aufgrund von Stahlkorrosion und Alterserscheinungen des Betons oder sind von Bäumen und Gestrüpp überwuchert.
72 Hektar Architekturikone
Von Beirut geht es Richtung Norden auf dem einzigen Highway des Landes, das Mittelmeer immer in Sichtweite. Wir sind unterwegs mit Charles Kettaneh und Nicolas Fayad, den beiden Gründern des Architekturbüros East Architecture Studio. Kennengelernt haben sich die Mittdreißiger beim Architekturstudium an der American University von Beirut. Der Umbau des Gästehauses sei ihr erstes größeres Projekt gewesen, erzählen sie. Doch natürlich kannten sie den Architekturkomplex vorher schon, hatten sie das Messegelände bereits als Studenten besucht. Doch erst durch den prestigeträchtigen Auftrag vertieften sie sich in die Materie, studierten das Werk des brasilianischen Architekten, suchten in den Archiven der Stadt nach Plänen, Grundrissen und anderen Materialien. Auch die Oscar Niemeyer Foundation in Rio de Janeiro kontaktierten sie, allerdings ohne großen Erfolg. Niemeyer habe sich nach dem Baustopp von dem Projekt distanziert und es quasi nie erwähnt, erzählen Charles Kettaneh und Nicolas Fayad – was dazu beigetragen haben dürfte, dass es in Vergessenheit geriet. Das sich das nun endlich ändert liegt auch daran, dass East Architecture Studio für den Umbau im letzten Jahr den renommierten "Aga Khan Architecture Award" erhalten hat. Das habe auch dazu geführt, dass sie nun vermehrt für den Umbau von denkmalgeschützten Gebäuden angefragt würden, freut sich Charles Kettaneh.
Von der Autobahn kommend umrundet man fast das gesamte, inzwischen eingezäunte Messegelände. Und so wird einem die Größe des Geländes erst richtig bewusst. Allein der Vorplatz ist riesig – mit einem in den Boden eingelassenen Kiosk, der für den Ticketverkauf vorgesehen war, dem Administrationsgebäude und einer weit auskragenden Dachstruktur, die den Eingang zur Messe markiert. Wir fahren mit dem Auto über eine Rampe, wobei Niemeyer geplant hatte, dass diese von einem Wasserbecken umgeben sein sollte, was sehr effektvoll gewirkt hätte. Leicht erhöht gelegen, kann man von hier aus das gesamte Messegelände überblicken – auch, weil einige Gebäude wie der Wasserturm und das Amphitheater mit ihren klaren geometrischen Formen markant herausstechen.
Wir biegen vor der als Bumerang bezeichneten, rund 700 Meter langen Ausstellungshalle ab, um zum Gästehaus zu gelangen. Das von East Architecture Studio umgebaute Gebäude liegt auf einer großen Wiese, kaum geschützt von der sengenden Sonne. Es wirkt hermetisch geschlossen, da die Fassade fensterlos ist. In den Außenbereichen kommt Kies als Bodenbelag zum Einsatz – inspiriert von den Farben, Texturen und Materialien, die der Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx in seiner Zusammenarbeit mit Niemeyer verwendete, so die Architekten. "Minjara" steht am Eingang auf großen Lettern, wobei das Schild auf die Neunutzung hinweist. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich in Tripoli eine florierende Holz- und Möbelindustrie entwickelt, von der heute nicht mehr viel übrig ist. Unterstützt von der Europäischen Union, soll die 2018 gegründete Plattform Minjara Handwerkern und Möbelherstellern vor Ort helfen – mit gut ausgestatteten Werkstätten, aber auch mit Business-Kontakten. Außerdem stellt Minjara in diesem Gebäude auch die eigenen Möbelkollektionen aus.
Das rund 2.500 Quadratmeter große Gästehaus ist baulich zweigeteilt: In den ehemals öffentlich genutzten Räumen befinden sich heute die Tischlerwerkstätten, Ausstellungs- und Büroräume von Minjara – diesen Bereich hat East Architecture Studio innerhalb eines eng gesteckten Zeitraums von nur vier Monaten umgebaut und saniert. Im hinteren Teil des Gebäudes hatte Niemeyer 14 Gästezimmer mit eigenen Bädern und Höfen vorgesehen, die in einem halbfertigen Zustand sind und aus Kostengründen bisher nicht saniert wurden. Das Innere entwickelt sich von einem zentralen Atrium aus, dessen vier Seiten mit raumhohen Fensterflächen versehen sind, durch die natürliches Licht fällt. Die Freifläche ist mit Gräsern bepflanzt und mit Stahlbetonstreben in markanter Rasterstruktur überdacht, die ein interessantes Licht- und Schattenspiel schaffen. Von hier geht der Blick in die angrenzenden großflächigen Werkstätten, Ausstellungsräume und in die Materialbibliothek, während die Büros, Waschräume, Lager- und Technikräume am Rand des Gebäudes untergebracht sind.
Behutsame Sanierung
East Architecture Studio orientierte sich bei seinem Vorhaben an fertiggestellten Gebäuden des brasilianischen Architekten, wobei sämtliche ihrer Interventionen reversibel sind. Dazu gehören beispielsweise die hinzugefügten Glastüren mit feinen Metallrahmen, die die großflächigen Räume geschickt voneinander abtrennen. Sie nehmen das Raster der Betondecke auf, berühren sie aber nicht. Zudem trennen sie die großflächigen Räume geschickt voneinander ab. Der neue Bodenbelag aus Beton wurde so verlegt, dass er nicht ganz an die originalen Wände aus Naturstein heranreicht, die einen schönen Kontrast zur geradlinigen Architektur des Gästehauses schaffen. Bei diesem gestalterischen Element ließ sich Niemeyer von der traditionellen libanesischen Baukunst inspirieren. Strukturelle Elemente werden von East Architecture Studio geschickt hinter Sperrholzplatten verborgen, während die Deckenleuchten maßgefertigt sind und sich am Deckenraster orientieren.
Ein Masterplan von UNESCO und Getty Foundation, der die Wiederbelebung und ganzheitliche Erhaltung des Geländes Rachid Karami International Fair von Oscar Niemeyer zum Ziel hat, erscheint unter den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Libanon derzeit kaum umsetzbar. Doch immerhin ist mit dem Umbau von East Architecture Studio und der Neunutzung des Gästehauses ein vielversprechender Anfang gemacht – vor allem wenn man bedenkt, dass das Budget nur rund 750.000 Dollar betrug. Derweil träumen Charles Kettaneh und Nicolas Fayad übrigens davon, die 14 brachliegenden Gästezimmer des Gebäudes in ein veritables Gästehaus zu verwandeln. Architekturinteressierte und Oscar-Niemeyer-Fans, die hier übernachten würden, dürfte es jedenfalls genug geben.