REVIEW – MILAN DESIGN WEEK 2023: DROPCITY & U.F.O.G.O.
Auf der Überholspur
Die Milan Design Week ist auch immer Plattform für die NewcomerInnen des Designs, deren Arbeiten überwiegend einen lösungsorientierten Fokus für die Gestaltung unseres künftigen Lebens und Wohnens zeigen. Zwei Ausstellungen stachen besonders hervor: Dropcity mit zirkulären Projekten und Produkten internationaler DesignerInnen und U.F.O.G.O. der Schweizer Hochschule ÉCAL mit innovativen Konzepten für Windanlagen. Der experimentelle und forschende Charakter spielte an beiden Orten eine große Rolle, ohne jedoch an Realitätsnähe zu verlieren. Das Fokussieren auf spezifische Herausforderungen schien außerdem eine gute Möglichkeit, sich den komplexen Zukunftsaufgaben mit einer gewissen Lässigkeit – und dann auf Überholspur – zu nähern. Nach dem Motto: Einfach machen.
Die Zirkularität, wenn Altprodukte zum Rohstoff der Zukunft werden, erfordert eine andere Herangehensweise an Gestaltung, an Prozesse und Abläufe. Dass dies nicht als lästige Notwendigkeit begriffen wird, sondern mit lösungsorientierter Gestaltungsfreude passieren kann, zeigten die Präsentationen von Dropcity. Ein neues, von Architekt Andrea Caputo gegründetes Architektur- und Designzentrum in Mailand, das zum diesjährigen Fuorisalone 15 Ausstellungen in den Tunnelräumen des Mailänder Hauptbahnhofs, den Magazzini Raccordati, versammelte. Auffällig war die starke Präsenz asiatischer up-and-coming DesignerInnen. "Hackability of the Stool" von Daisuke Motogi etwa zeigte eine szenische Installation von 100 Neuinterpretationen des 1933 von Alvar Aalto für Artek entworfenen und inzwischen legendären Hockers "Stool 60": Durch Abwandlung oder Ergänzung um andere Alltagsprodukte hatte er der Ikone spielerisch weitere, mitunter sehr pfiffige und neue brauchbare Funktionen hinzugefügt. Die Idee dahinter: Wie lassen sich in Zeiten von Massenproduktion Kosten, Ressourcen minimieren, indem man sich des Potentials einer universell nutzbaren Möbelbasis bedient und diese einfach erweitert?
In einem anderen Tunnelgewölbe ging es um die konkrete Darstellung fluider Materialzyklen: Die DesignerInnen Daisuke Yamamoto und Taketo Masui führten in einer Art Live-Werkstatt vor, wie sich konkret ein kontinuierlicher Verwertungsprozess an einem Ort realisieren lässt, von der Demontage alter LGS Platten bis hin zur Gestaltung und Zusammenbau zu einem neuen Produkt. Das Ergebnis war die aus wenigen Komponenten bestehende Möbelserie "FLOW". Happening Charakter hatte auch die Installation "Re;Code", eine nachhaltige koreanische Modemarke, die sich mit der Designunit Dekasegi des japanischen Büros Schemata Architects zusammengetan hatte und 12 Projekte zum Thema Upcycling vorstellte. Auch hier wurde das Potential von Industrieabfällen für Möbel, Leuchten, Stadtmöbel sowie Mode ausgelotet. Teil dessen war das Konzept "Re;Table": Es lud die BesucherInnen ein, an einem umfangreichen Workshop-Programm teilzunehmen und am gemeinsamen Tisch vorgegebene Produkte aus alten Materialien per Hand zu fertigen. Die Arbeitsplätze dazu waren voll besetzt, ganz im Sinne der Maker-Culture!
Unter dem Titel "The Thinking Piece / Obscure Solutions" zeigte außerdem ein Kollektiv aufstrebender japanischer DesignerInnen – Studio We+, Takt Project, Sae Honda, Satomi Minoshima und Takuto Ohta – ihre aktuellen Prototypen zu gesellschaftlichen Themenfeldern, wie Abfallentsorgung, Beziehung zwischen Natur und Produkt oder auch Veränderungen unseres Lebensumfelds. Satomi Minoshima hatte Letzteres aufgegriffen und sich dabei auf das moderne Nomadenleben fokussiert. Wie können wir mit all unseren Habseligkeiten künftig leichter zwischen den Städten zirkulieren? Inflatable Leather, ein minimal gestalteter, runder Sitz, dessen Gummischläuche mit echtem Leder überzogen sind, ist ihre Antwort und demonstriert das Potenzial von aufblasbaren Möbeln in eleganter und langlebiger Lederversion.
In Mailands Brera Viertel war die Ausstellung U.F.O.G.O. der Schweizer Hochschule ÉCAL zu finden und präsentierte acht innovative Konzepte für Windkraftanlagen – allesamt sehr konkrete Lösungen. Erneuerbare Energien spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Energiekrise, Windturbinen gelten dabei als vielversprechende Idee. Doch ihr Einsatz ist umstritten, gern diskutiert, die Bedenken bezüglich ihrer ökologischen, sozialen Auswirkungen stellen ein erhebliches Hindernis für ihren Einsatz dar: Wie kann man mit dem Problem des visuellen Eingriffs in die Landschaft also umgehen? Im Oktober 2022 reisten sechzehn Master-Studierende des Fachs Produktdesign nach Fogo Island, Kanada, einer besonders rauen und unwirtlichen Region, die aufgrund ihres Klimas ein idealer Standort für den Einsatz umweltfreundlicher Stromerzeugungsanlagen ist. Die jungen DesignerInnen suchten nach Möglichkeiten, den Bedürfnissen der BewohnerInnen gerecht zu werden und gleichzeitig auch logistische Vorgaben sowie Umweltauflagen zu berücksichtigten.
Die acht überraschenden und visuell ansprechenden Designkonzepte waren als Modelle umgesetzt. Sie wurden in Kooperation mit IngenieurInnen der HEIG-VD/School of Management and Engineering Vaud entwickelt. Was bedeutet, dass sie damit die für ihre Umsetzung notwendigen technischen, technologischen und rechtlichen Grundlagen integrieren. Das Windrad "EVIND" etwa dient gleichzeitig auch als Ladestation für Elektroautos. Die Struktur von "PNEUMA" ist so angelegt, dass sie ein Gewächshaus integriert, ein Mix aus Lebensmittelproduktion und Selbstversorgung. Die Konstruktion von "PYRE" ist nicht auf teure, importierte Baumaterialien angewiesen, sondern entsteht durch 3D-Druck vor Ort. "WINDSEED" wiederum präsentiert eine horizontale Offshore-Windturbine mit der sich auch Algenzucht realisieren lässt – eine boomende Wirtschaft auf Fogo Island. Die Insel beherbergt alte Fischverarbeitungsfabriken, deren architektonische Strukturen zur Grundlage der Idee "RR REUSE" wurden, einem Modell, das somit auch das kulturelle und historische Erbe der Insel aufwerten möchte. "CLIFFHANGER" versucht, sich der Architektur der traditionellen Stelzenhäuser auf der Insel anzunähern und nutzt das extrem feste Klippengestein zur Verankerung. Und das Windrad "FOGO FLAGS", das mit Flaggen geschmückt ist und am Rande der Küste stehen soll, positioniert sich als das Wahrzeichen von Fogo. Aus Gründen der Flugsicherheit dürfen Windturbinen nur weiß sein, aber die Idee "FLO" umgeht diese Einschränkung mit einer schön gestalteten Reliefstruktur, die vom Boden aus betrachtet eine Palette von Farben aufweist und oben weiß bleibt.
"U.F.O.G.O." ist ein brillantes Exempel dafür, dass Windräder viel Gestaltungspotential bieten, sich nachhaltig, ästhetisch und sogar auch mit Doppelnutzen künftig besser in die Landschaft integrieren ließen, wenn das Design in den Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses gestellt wird. Innovative Lösungen sind möglich und könnten nicht nur auf Fogo Island für eine größere Akzeptanz von Windkrafträdern sorgen, sondern überall auf der Welt.