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Die „100% Design“ zeigt sich neu, eingangs mit einem von Studio Design UK entworfenen 66 Meter langen Tunnel mit Spektrallicht, und durch Arbeiten von Nachwuchstalenten wie „Worldscape” von Atmos Studio und DHH Timber. Fotos © Antje Southern
Digital aufgemotzt
von Antje Southern
06.10.2013

Eine der positiven Überraschungen des diesjährigen „London Design Festival“ ist die „100% Design“ in Earl Court, deren Besuch dank der neuen Organisatoren mit Hilfe von Designer Thomas Matthews ein geradezu vergnügliches Erlebnis ist. Gleich im Eingang hat Studio Design UK einen 66 Meter langen Tunnel mit Spektrallicht konstruiert, der geradewegs auf die runde Bar im Zentrum zuführt, die von einem spiralförmigen Kristallbandleuchter der tschechischen Firma Preciosa gekrönt wird.

Gelungen und innovativ setzen die Veranstalter mit „Creative balance” auf eine Mischung von aufstrebenden Marken mit etablierten Firmen und schaffen damit eine Atmosphäre der gegenseitigen Befruchtung. Sichtbarer Beweis dafür ist der neue „International Pavilion“, in dem gemeinsame Projekte von jungen Designtalenten mit gestandenen Firmen gezeigt werden, wie im Falle von Atmos Studio und DHH Timber, die hier „Worldscape” präsentieren, eine riesige, digital hergestellte Tischarchitektur der verschiedenen geografischen Regionen der Welt.

Sardinenbüchse in Kensington

Turkishceramics, der Hauptsponsor des „International Pavilion“, hat zusammen mit der Architektin Ferhan Azman die VIP-Bar der Messe gestaltet und ihr den passenden Namen „Chockablock” verpasst, was übersetzt „wie in der Sardinenbüchse“ bedeutet. Die Bar erstreckt sich über die gesamte Breite des Gebäudes und überzeugt trotz ihrer länglichen und damit schwer zu gestaltende Grundfläche als einladender Treffpunkt. Darüber hinaus präsentieren die türkischen Hersteller an sieben Meter hohen Säulen architektonisch geschickt ein vielfältiges Spektrum an Keramiken in kräftigen Farben und Texturen.

Zur Auflockerung des für Messen so typischen Rastersystems haben die Organisatoren über die gesamte Ausstellungsfläche der Messe so genannte “Features” verteilt: Dazu zählen die digital gesteuerte „Sensory Sky”-Dusche von Dornbracht und ein futuristisches Einzelhandelskonzept, das Zaha Hadid mit Samsung entwickelt hat. Ein Besuch der geschäftigen „3D Home Factory“ wirkt ebenfalls als Mittel gegen Messemüdigkeit: iMakr in Clerkenwell, der weltweit größte 3D-Drucker-Laden, beeindruckt mit einer großen Auswahl an 3D-Druckern und 3D-gedruckten Objekten, darunter die Sonnenbrillen von Ron Arad. Für gerade mal 99 Britische Pfund kann man ein 3D-Ganzkörperporträt der eigenen Person erstehen. Das scheint vor allem für Uneingeweihte ein großes Vergnügen.

Eklektisches Dies und Das im Postamt

Weiter geht es zur „Designjunction” die durch ihr eklektisches Zusammenspiel von „Diesem und Jenem“ und durch eine entspannte Stimmung anzieht. Im quirligen Ambiente der abgetakelten Industrieräume des Holborn Briefzentrums aus den 1960er Jahren finden sich zeitgenössisches Design neben Objekten von Vintagemöbel-Händlern ein, globale Marken, unabhängige Designer und Pop-up-Shops zusammen. Kein Wunder, dass Paul Cocksedge diesen Ort gewählt hat, um hier vor einer Wand aus alten Lautsprechern seinen „Vamp” vorzustellen, ein über „Crowdfunding“ finanziertes kleines Gerät, das alte Lautsprecher wieder verwendbar macht.
Der winzige Verstärker wird über ein Kabel mit einem alten Lautsprecher verbunden und lässt Musik von Bluetooth-fähigen Geräten erklingen. Ebenso wie Cocksedge stellen hier viele kleine „Boutique”-Designerfirmen aus, die Finanzierung, Herstellung und Vertrieb selbst steuern. So zeigt die in London ansässige Textilweberei Wallace & Sewell ihre erste Kollektion von Polsterstoffen, deren lineare Muster und kräftige Farbkombinationen dem „Daybed“ von William Plunkett ein ungewöhnlich erfrischendes Erscheinungsbild verleihen.

Ein Blick hinter die Kulissen des Design-Prozesses dokumentiert die mehr als gut besuchte „Money”-Installation des Markenentwicklungsunternehmen Hyundai Card: Bewaffnet mit einer metallenen Kreditkarte checkt man an diversen Stationen ein und erhält einen gedruckten Beleg, auf dem die verschiedenen Designpraktiken beschrieben sind. Überdies veranschaulichen Live-Demonstrationen unterschiedlicher industrieller und 3D-Druck-Prozesse in den „Flash Factories” die zunehmende Bedeutung des digitalen Handwerks.

Akademische Hauswirtschaft in Southbank

Unsere Tour führt uns auf die andere Seite der Themse, ins brutalistisch gebaute Southbank Centre, wo die Veranstalter des „Designersblock” mit „Fifth Element” eine neue separate Plattform ins Leben gerufen haben, um Arbeiten vorzustellen, die von wissenschaftlicher Forschung, innovativer digitaler Technologie, neuen Materialien und Verfahren sowie aktueller Diskussionen inspiriert sind. Für ihr Projekt „The Milk of Human Kindness” hat Masami Charlotte Lavault mit biologisch abbaubarem Kasein experimentiert. Sie plädiert dafür, die bei europaweiten Protesten der Landwirte weggeschütteten 15 Milliarden Liter Milch pro Jahr in originelle Produkte zu verwandeln wie beispielsweise ein Melkschemel aus Kaseinkunststoff.

Alex Duffners „Domestic Science Machines” hingegen zeigen wie leicht Küchengeräte in wissenschaftliche Instrumente umfunktioniert werden können. So verwandelt er eine Salatschleuder in eine Zentrifuge zum Trennen von Flüssigkeiten, eine Kaffeemaschine zum Spektrometer für die Analyse von Materialien und einen temperaturgesteuerter Kochtopf zum „PCR-Cycler“ für die Anzucht von DNA.

Handwerkliche Kreativität in Spitalfields

Bei unserer letzten Station in der „Old Truman Brewery“ im East End von London stehen handwerkliche Kreativität und materielles Know-how im Fokus. Auf der „Superbrands” kann uns der ungarische Betonhersteller Ivanka mit seinen leichten farbigen und gestanzten Betonfliesen beeindrucken. Ebenso kompetent hinsichtlich Architektur-Materialien zeigt sich das Material Council mit seiner Präsentation „In the scale of Carbon”, deren verschieden große Kuben die CO₂-Emissionswerte von Baumaterialien veranschaulichen und vergleichbar machen.

Darüber hinaus haben die Organisatoren vielversprechende Designer eingeladen, die im Bereich „Super Design Gallery” ausstellen. Ihr Interesse gilt der Oberflächenbeschaffenheiten von Materialien. So zeigt das in Stockholm ansässige Designstudio Färg & Blanche den nagelbespickten Lederstuhl „Nailed Succession” und Meike Harde ein mit softem Nylon bespanntes Aufbewahrungssystem für Kleider. Jess Shaws Hängeleuchte hingegen, die aus einer Waldpflanze mit dem umgangsprachlichen Namen „Old Man’s Beard“ gefertigt ist, sticht aus den ansonsten prozessorientierten Designideen heraus.

Weitere spannende Beispiele handwerklicher Kreativität befinden sich im ersten Stock der „London Section“: Auf der Cross-Culture-Plattform zeigen junge Designer aus Korea ihr Können. Zu den überzeugenden Entwürfen gehört eine „Schreibtisch-Tasche“, die sich bei Bedarf zu einem individuellen Arbeitsplatz auffalten lässt.

Digitales Upcycling?

Mit „Brink“ hat Autorin Katie Tregidden (“Confessions of a Design Geek”) einen neuen Bereich auf der „Tent London“ ins Leben gerufen, der die besten Nachwuchsdesigner der britischen Insel versammelt. Dazu zählen die Keramikteller auf einer geneigten Basis von Bilge Sur Saltik, aus denen man sehr schön zu zweit essen kann – und die ohne die Fertigkeiten türkischer Manufakturen wohl nicht möglich gewesen wären. Tobias Gutmans „Face-o-mat” ist der Fotokabine nachempfunden und spielt ironisch mit den Prozessen der Digitalära: Für fünf Britische Pfund erhält man ein vom Designer grob gezeichnetes Porträt, während es in der Fotokabine gewöhnlich drei Minuten für die Entwicklung eines Fotos braucht.

Man könnte annehmen, hier macht sich ein Hochschulabsolvent lediglich über digitale Verarbeitung lustig, gäbe es da nicht “The Impossible Project”. Das in Wien ansässige Unternehmen hat vor sechs Jahren die letzte Polaroid-Fabrik aufgekauft und stellt nun auf der „Tent London“ „Instant Lab” vor, eine Kamera, die Smartphone-Bilder in reale Fotos verwandelt. Man fühlt sich an dieser Stelle wieder an Paul Cocksedges „Vamp“ erinnert, denn beide Projekte wurden über Kickstarter.com finanziert und ermöglichen mit Hilfe digitalen Know-hows eine Wiederverwertung von überholten Technologien. Nach unserer 16 Meilen langen Tour übers "London Design Festival" gehen wir mit tausenden Eindrücken und einer Frage nach Hause: Stehen wir womöglich an der Schwelle zu einer neuen Generation des digitalen Upcyclings?

www.100percentdesign.com
www.thedesignjunction.co.uk
www.verydesignersblock.com
www.tentlondon.co.uk

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Wie in der Sardinenbüchse: „Chockablock”-Bar von Turkishceramics und Architektin Ferhan Azman. Foto © Antje Southern
Gefeatured: Dornbrachts „Sensory Sky” auf der „100% Design“. Foto © Dornbracht
3D-Ganzkörperporträt für 99 Britische Pfund, bei iMakr. Foto © Antje Southern
Erst gedruckt, dann mit Gold plattiert. Foto © 100% Design
Vorhang auf für Paul Cocksedges „Vamp“, ein Verstärker, der alte Boxen zum Klingen bringt. Foto © Designjunction
Der britische Hersteller Lazerian hat sympathische Vierbeiner mitgebracht. Foto © Graham Turner for Designersblock
„The Milk of Human Kindness”: Melkschemel aus Kaseinkunststoff. Foto © Antje Southern
Alex Duffner hat eine Salatschleuder in eine Zentrifuge zum Trennen von Flüssigkeiten verwandelt. Foto © Antje Southern
Sie beherrscht „Schreibmaschinen-Kunst": Keira Rathbone im „Designersblock“. Foto © Graham Turner for Designersblock
„Porzellan Federn“ von Rachel Harrison, im „Designersblock“. Foto © Graham Turner for Designersblock
„Journeywoman Boat“ von Xenia Moseley, im „Designersblock“. Foto © Graham Turner for Designersblock
Ivanka aus Ungarn zeigt Fliesen aus farbigem Beton. Foto © Antje Southern
„Old Man’s Beard” von Jess Shaw. Foto © Antje Southern
Die „100% Design“ zeigt sich neu, eingangs mit einem von Studio Design UK entworfenen 66 Meter langen Tunnel mit Spektrallicht, und durch Arbeiten von Nachwuchstalenten wie „Worldscape” von Atmos Studio und DHH Timber. Fotos © Antje Southern5