Radikal normal
Diébédo Francis Kéré, in diesem Jahr ausgezeichnet mit dem Pritzker-Preis, dem Nobelpreis der Architektur, verkörpert eine neue Generation von ArchitektInnen: Die Gemeinschaft von Häusern ist bei ihm nicht nur eine baukünstlerische Komposition und die Verwendung lokaler Materialien nicht nur eine politisch korrekte Geste, sondern der Garant für eine Identifikation der NutzerInnen mit einem Gebäude. Der 1965 in Burkina Faso geborene Kéré führt die architektonische Weltelite damit wieder zu den Ursprüngen des Bauens zurück. Dabei zählt der in Berlin lebende Architekt seit Jahren zu den Geheimtipps der internationalen Szene. Dass ihm am 27. Mai 2022 in London die renommierteste Auszeichnung der Architekturwelt verliehen wurde, bestätigt ein längst bestimmendes Wesen zeitgenössischer Architektur: Traditionen respektieren, auf die NutzerInnen eingehen, Bauten behutsam in ihren Kontext integrieren – im Fall von Kéré meist Landschaften.
Mitte der Achtzigerjahre mit einem Stipendium der Carl-Duisberg-Gesellschaft und des Deutschen Entwicklungsdienstes für eine Tischlerlehre nach Deutschland gekommen, erinnert Kéré mit seiner Sensibilität und seiner architektonischen Haltung ein wenig an Hassan Fathy. Der Ägypter vermochte es Mitte des 20. Jahrhunderts die vernakuläre Architektur eines arabischen Dorfes in die Moderne zu übertragen. 1945 hatte die ägyptische Antikenverwaltung Fathy mit der Planung von New Gourna in der Nähe von Luxor beauftragt. Westlich des Nils sollte ein neues Dorf in sicherer Entfernung zu den antiken Königsgräbern errichtet werden. Anstatt eine für die Moderne typische Siedlung im Internationalen Stil zu planen, orientierte sich Fathy an den lokalen Bautraditionen in Oberägypten. Mit seiner Haltung, die traditionelle islamische Architektur wieder zu neuem Leben zu erwecken, blieb Fathy in seiner Heimat jedoch unpopulär. So warfen ihm Kritiker vor, er lehne einen möglichen Technologietransfer zwischen der westlichen Welt und einem – wie es damals hieß – Entwicklungsland ab. Als von internationalen Bewunderern gefeierter Wiederentdecker der arabischen Lehmbauweise und ihrer archetypischen Formen leistete Fathy jedoch einen bedeutenden Beitrag zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Tradition sei für die ländliche Bevölkerung, so Fathy in einer 1969 veröffentlichen Dokumentation zu New Gourna, der einzige Schutz ihrer Kultur. Denn sie könnten nicht unterscheiden zwischen ihnen unbekannten Stilen, und wenn sie die Gleise der Tradition verließen, führe dies unweigerlich in eine Katastrophe.
Was bei Hasan Fathy einer architektonischen Revolution gleichkam, ist längst fester Bestandteil der Entwurfsseminare in den Architekturschulen weltweit. Wenn der an der Technischen Universität München lehrende Francis Kéré von aktuellen Themen wie Energiegerechtigkeit, Ressourcenschonung und Partizipation spricht, mag das auf dem Papier in das heutige Bild der politischen Korrektheit passen. Aber wer den Sohn eines Dorfvorstehers mit seinen Schmucknarben im Gesicht persönlich erlebt, versteht sofort, dass sich Kéré diese Begriffe nicht angelesen hat. Er lebt sie. Noch mehr: Er könnte diese Begriffe erfunden haben – so authentisch vermag er es mit ruhiger Stimme und wohlklingendem Akzent auszudrücken. Die Erzählkunst, eine Tradition der meisten Völker in Afrika, liegt ihm im Blut. Kérés Familie gehört zu den Mossi, die in Burkina Faso, Mali und im Norden von Ghana beheimatet sind. Willkürliche Grenzziehungen während der Kolonialzeit teilen die Kulturen bis heute.
Erzählkultur im Schatten der Baumkrone
Francis Kéré entstammt einer Kultur, in der das geschriebene Wort für die meisten Menschen erst seit wenigen Generationen ein Teil des Wissenstransfers ist. In der Religion spielt das gedruckte Wort in Form des Korans dafür eine umso bedeutendere Rolle. In Westafrika wird die Buchreligion allerdings nicht so radikal ausgelegt wie in ihrem Ursprungsland Saudi-Arabien. Die bunte Lebenslust überdeckt die strengen Rituale. Denn auch im Glauben vermischen sich Pragmatismus, lokale Traditionen und Lebensweisheiten, die bis heue in Form von Fabeln von den Alten an die Jungen überliefert werden. Die Architektur, die sich im Voltabecken mit dezent bemalten Lehmfassaden und Strohdächern präsentiert, ist ein Teil dieser Erzählkultur. Der deutsche Afrikaforscher Leo Frobenius trug vor 100 Jahren dazu bei, dass diese Oral History erstmals schriftlich festgehalten wurde.
Das Sprechen über das Bauen liegt dem Hochschullehrer Kéré, der über München hinaus auch an renommierten US-Universitäten wie Harvard und Yale sowie in Weimar unterrichtet hat, folglich mehr als das Schreiben über Architektur. In Interviews spricht er eloquent über den Bauprozess in seiner Heimat, wo das Planen und Konstruieren immer eine Gemeinschaftsaufgabe der Familie oder des ganzen Dorfes ist. Eine solche Planungskultur auch in Deutschland wie etwa bei dem aktuellen Projekt für die Freie Waldorfschule Weilheim zu pflegen, gelingt nur einem Architekten, der keine ästhetischen Eitelkeiten kennt und seinen Auftraggebern gerne zuhört. Beim Schulbau in Oberbayern begeistert der Afrikaner mit seinem partizipativen Ansatz LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen gleichermaßen.
Licht und Schatten
Zu den großen Stärken von Kéré gehört auch, dass er Niederlagen einstecken kann. Er zeigt sich immer leidenschaftlich, seine Haltung ist stets nach vorne gerichtet und lösungsorientiert. Dass beim Neubau des Goethe-Instituts Dakar der Auftrag für die Ausführungsplanung und die Bauleitung an einen anderen Architekten übergeben wurde, nagt freilich auch an einem Pritzker-Preisträger. Aber der vornehme und stets höfliche Burkiner äußert keinen Groll. Ein Monopol für deutsche Projekte in Westafrika hat Kéré ohnehin nicht. Dass der Auftrag für den Neubau der Deutschen Botschaft Ouagadougou statt an Francis Kéré, der in seiner Heimat vom Staatspräsidenten als baukultureller Botschafter hofiert wird und regelmäßig vor Ort ist, von der Bundesrepublik Deutschland kürzlich an einen Konkurrenten ohne Afrika-Bezug vergeben wurde, ärgert allenfalls die späteren NutzerInnen. Im Berliner Büro klingelt das Telefon seit dem Bekanntwerden des Pritzker-Preises ununterbrochen. Über fehlende Aufträge muss sich die Kére Architecture GmbH derzeit keine Gedanken machen.
Mit viel Dankbarkeit und Respekt spricht der Endfünfziger über seine WegbereiterInnen und WegbegleiterInnen. So motivierte ihn der Berliner Architekturprofessor Peter Herrle, sein Studium an der Technischen Universität Berlin trotz seines ersten erfolgreichen Schulbaus im Heimatdorf Gando abzuschließen. Für seinen Erstlingsbau erhielt Kéré 2004 noch zu Studienzeiten den ebenfalls renommierten Aga-Kahn-Award, der Auftakt für eine steile Karriere. Die für ihre Spürnase bekannten Berliner Architekturgaleristen Kristin Feireiss und Hans-Jürgen Commerell boten Kére eine frühe Plattform, bevor er 2009 mit Christoph Schlingensief das Projekt eines Operndorfes in Burkina Faso initiierte. Das eine Autostunde östlich der Hauptstadt Ouagadougou gelegene Dorf Laongo erlangte bereits in der Planungsphase internationale Aufmerksamkeit. Als der Theaterregisseur Schlingensief 2010 verstarb, drohte das Operndorf als Bauruine in Vergessenheit zu geraten. Aber Kérés unermüdlicher Optimismus hält den Gedanken am Leben, in der westafrikanischen Savanne ein einzigartiges Kulturprojekt zu realisieren.
Dass dem jungen Tischlergesellen aus Afrika mal eine akademische Karriere als Hochschullehrer für Entwerfen und Partizipation gelingen sollte – daran hat Andres Lepik großen Anteil, der Direktor des Architekturmuseums der Technischen Universität München und Professor für Baugeschichte und kuratorische Praxis. Lepik würdigte seinen späteren Professorenkollegen in vielbeachteten Ausstellungen und Katalogen. Der Titel "Radikal einfach" beschrieb treffend, was die Architektur des Afrikaners charakterisiert. Der Minimalismus drückt sich nicht in der Form sondern im Prozess des Bauschaffens aus. Um diese Schlichtheit ins richtige Licht zu rücken, braucht es jedoch nicht nur schöne Worte, sondern auch Bilder. Es sind Freundschaften wie etwa mit dem niederländischen Starfotografen Iwan Baan, der Kérés Bauten in Szene setzt wie kaum ein anderer. Baans Aufnahmen haben die Projekte an entlegenen Orten in Afrika so ästhetisiert, dass sie inzwischen in Galerien und Museen der westlichen Welt ausgestellt werden. Sie tragen auch zur zunehmenden Popularität der subsaharischen Architektur insgesamt bei.
Anekdoten aus der Welt der Architektur
Wer den viel beschäftigten Architekten eine längere Zeit begleitet, wird voller Bewunderung und Respekt sein, mit wie viel Diplomatie, Empathie und Begeisterung Kéré seinen Geschäftsalltag bewältigt. Es vergeht keine Stunde, in der er nicht eine Anekdote erzählen kann, in der die großen Namen der Architektenwelt ebenso Platz finden wie seine Familie in Burkina Faso. Seine Herkunft aus dem entlegenen Dorf, das er als Siebenjähriger verließ, um zu Verwandten in die Stadt und in die Schule zu gehen, charakterisiert ihn bis heute. Das von Landwirtschaft und Viehzucht geprägte Burkina Faso ist Teil der Biografie von Francis Kéré. In seiner beruflichen Karriere paart sie sich mit einer Architektur, die sich schwer in den Stilkanon der zeitgenössischen Architektur einordnen lässt: ein- bis zweigeschossige Ziegelbauten aus Lehm und Laterit, Photovoltaik-Panele auf einem Dach, das als Leichtkonstruktion wie ein Regenschirm die einfachen Kuben gegen Regen und Sonne schützt und oft auch ein Gemüsegarten, der die Eigenversorgung ermöglicht. Und immer gibt es das Motiv des Baums, unter dem die Menschen zum Gespräch zusammenkommen: Arbre à Palabres. Die Architektursprache à la Kéré erscheint selbstverständlich und erfordert keine weiteren Erläuterungen.
Wer dem afrikanischen Baukünstler allerdings ein schriftliches Statement abverlangt, um ihn auch architekturtheoretisch einordnen zu können, muss Geduld aufbringen. Nur selten meldet sich Francis Kéré schriftlich zu Wort – und wenn, dann ist aus seinen Zeilen eine leise Kritik am an der permanenten Suche nach zitierfähigen Schlagzeilen herauszulesen: "Ich befürchte, dass es keine einzige Theorie gibt, die in der Lage ist, die Wahrheit über den afrikanischen Kontinent oder seine Architektur zu sagen. Aber wenn wir eine solche Theorie formulieren, beziehen wir hoffentlich die Besonderheiten, die Details und die Geduld der Menschen in Afrika mit ein." Seine Worte klingen ganz normal – radikal normal.