Würde man auf die Idee kommen, wegen schlechter Provinztheateraufführungen Bestimmungen darüber zu erlassen, wie Theater an den großen Häusern gespielt werden muss? In der Architektur ist das anders. Christian Holl geht in unserer neuen Kolumne „Bauen in Deutschland" solchen Phänomenen nach.
Es gibt zwei Welten der Architektur, sagen wir mal: mindestens zwei. Die eine wird in Fachzeitschriften, auf Internetportalen, Biennalen und Ausstellungen gezeigt und diskutiert. Zu ihr gehören all die Auszeichnungen, die „Preise der Baukultur“, die das aktuelle Handbuch der Baukultur auf über vierzig Seiten verzeichnet: best architects, das beste Einfamilienhaus, der Deutsche Fassadenpreis für vorgehängte hinterlüftete Fassaden, der Deutsche Verzinkerpreis. Studierende wie Professoren bewegen sich in dieser Welt und beziehen sich auf sie. Architekten freuen sich darüber, wenn Architektur nicht nur im Feuilleton der Tageszeitungen der Kommentare und der Kritik als wert erachtet wird, sondern auch auf anderen Seiten in idealerweise bebilderten Berichten erscheint. Denn das heißt, dass Nichtarchitekten diese Architekturwelt besuchen, weil sie sich für sie interessieren.
Das gilt allerdings nur solange, wie die Autoren solcher Berichte die Architekten beim Namen nennen, was keineswegs selbstverständlich ist. Anderenfalls kann man sich fast schon sicher sein, dass es hier nicht mehr um diese eine Welt des Diskurses und des Ringens um gute Gestaltung geht. In solchen Berichten geht es um Baukosten, um Schülerzahlen, um Wohnraumversorgung oder um ein örtliches Unternehmen, vor allem geht es nicht um den Entwurf und also auch nicht um Entwurfsverfasser. Willkommen in der zweiten Welt der Architektur.
Diese zweite Welt ist die der Bauvorlagen und der Bauvorlagenberechtigten, der Bebauungspläne und der Bauabwicklungen, der Kostenkontrolle und des schlüsselfertigen Bauens. Es ist die Welt der Maßnahmen, der Anordnungen, der Immobilien und der Objekte. Es ist die Welt, die 2012 täglich neu auf einer Fläche von 113 Fußballfeldern entstand. Bis 2020 soll sich diese „Neuinanspruchnahme“ – ein typisches Wort aus dieser zweiten Welt – auf 30 Hektar pro Tag reduzieren. Aber auch 30 Hektar sind immer noch 46 Fußballfelder, und was man auf ihnen tagtäglich bauen kann, ist viel zu viel, als dass man es in der ersten Welt reflektieren könnte. Es detailliert zur Kenntnis zu nehmen, würde all die überfordern, denen eigentlich an der Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt liegt.
Deswegen beschränken sie sich auf die Welt eins, schon allein, weil sie sich ständig darüber verständigen müssen, was denn zu ihr gehören darf; so klar sind die Grenzen ja nicht. Das ist aber nicht das Problem, denn es ist eine ganz normale Leistung des Gehirns, radikal zu filtern, um leistungsfähig zu sein. Die Welt zwei nämlich, das sind die Häuser, von den wir, kaum dass wir an ihnen vorbeigegangen sind, schon wieder vergessen haben, wie sie aussehen. Das sind Gebäude, über welche die Nutzer nicht mehr viel wissen, wenn sie sie eine Weile nicht mehr genutzt haben, weil ihr Gehirn die Information darüber kurzerhand als unwesentlich weggefiltert hat. Möglicherweise ist es nicht einmal ein Problem, dass es auch die überfordert, die diese Neuinanspruchnahme „realisieren“: Die Bauvorlagenberechtigten wie die Bauabwickler, die Produzenten schlüsselfertigen Bauens wie die Bauherren oder die Investoren. Viele begegnen dieser Überforderung damit, ein Haus genauso aussehen zu lassen wie unzählige andere auch. Damit sollte man leben können. Das Problem aber ist, dass die Überforderung als ein Problem erkannt wurde und dass – oder wie – manche meinen, dieses Problem lösen zu müssen.
Kein Mensch käme auf die Idee, wegen schlechter Provinztheateraufführungen Bestimmungen darüber zu erlassen, wie Theater an den großen Häusern gespielt werden müsse. In der Architektur ist das anders. Dort stehen alle unter Generalverdacht. Der, der will, dass sein Haus so aussieht wie tausende andere auch, genauso wie der, der will, dass ein Haus so viele Unterschiede wie möglich zu den Häusern seiner Nachbarn aufweist. Also der, der will, dass man sein Haus so schnell wie möglich vergisst ebenso wie der, der will, dass man sich möglichst lange daran erinnert, auch wenn man es möglicherweise so schnell wie möglich vergessen will. Unter Verdacht stehen sie alle. Und deshalb muss sich jeder Architekt durch absurde Verfahren und verworrene Verordnungen kämpfen, groteske Satzungen und überzogene Vorschriften einhalten. Er muss sich mit einem Bauherren auseinandersetzen, der seine eigene Überforderung damit kompensiert, dass er sie dem Architekten unterstellt. Und so kann es geschehen, dass ein Haus, das vielleicht in seinen ersten Anlagen das Zeug gehabt hätte, zur Welt eins zu gehören, ausschließlich eines der Welt zwei wird. Diese Welt zwei ist keine sehr fröhliche Welt mehr. Keine authentische und schon gar keine ursprüngliche.
Was heißt das nun? Das heißt, dass auch in der Architektur das Gutgemeinte das Gegenteil des Guten ist. Das heißt, dass es manchmal besser sein könnte, sich mit der Welt zwei abzufinden, als zu meinen, sie bekämpfen zu können. Das heißt, die absurden Folgen unseres Verbesserungs- und Selbstbehauptungsbetriebs als Folgen unseres Verbesserungs- und Selbstbehauptungsbetriebs zur Kenntnis zu nehmen.
All das werden wir in den kommenden Monaten hier genauer unter die Lupe nehmen, auf einer Expedition in die Welt des Alltags, des Kampfes und des Krampfes. Des Bemühens und des Scheiterns, der bizarren Schönheit und der schönen Bescherungen. Des Brandschutzes und der Stellplatzverordnung. Wir wollen in eine Welt reisen, die die Spieltheorie unaufhörlich verifiziert: Warum sollte ich etwas tun, wenn auch ein anderer davon profitiert? Nennen wir es einfach „Bauen in Deutschland“.