„Früher war selbst die Zukunft besser." Zugegeben, das Schmankerl von Karl Valentin ist arg abgegriffen. Doch der Satz kam mir tatsächlich in den Sinn, als ich den armen Menschen zusah, wie sie in drückender Schwüle hinter transparentem Plastik saßen und bei gefühlten fünfzig Grad einer der unzähligen Diskussionsrunden zu folgen versuchten, die diesmal die Eröffnungstage der 12. Biennale di Architettura begleiteten. Der pneumatische Veranstaltungssack, von dem hier die Rede ist, bläht sich neben dem Eingang des Palazzo del Esposizioni in den Giardini auf, heißt „Küchenmonument" und wurde von Raumlaborberlin erdacht. Ob die Planer dabei die Wiener Architektur-muss-brennen-Aktionisten der späten Sechzigerjahre vor Augen hatten, von denen einer mit weißem Anzug und Zigarre kurz vorher an mir vorbeigeschwänzelt war? Der Benutzer jedenfalls musste sich spätestens nach zehn Minuten eingestehen, dass das Klima (auch ohne Wandel) in Venedig ein anderes ist als kurz vor Bratislava. Und dass die heutigen Blasen nicht mehr für eskapistische Einsamkeit stehen, sondern Menschen versammeln und damit dem Motto der Architekturbiennale, „People meet in Architecture", genügen. Immerhin.
Das Erste, was einem bei der aktuellen Biennale auffällt, ist: Das Fehlen der Zukünfte. Jedenfalls wenn man darunter die radikal eingestellten sogenannten Avantgarden versteht, deren selbstgewählte Aufgabe es ist, das zu entwerfen, was noch nie da war. Oder zumindest so aussieht. Unter den Länderbeiträgen währe da der Wiener, pardon, österreichische Pavillon zu nennen. Der Kalifornier Eric Owen Moss zeigt dort, nach eigenen Aussagen, „new ideas, new approaches, new suggestions, new methods, new systems, new thinking", kurz Formenspielereien aus Wien und Übersee. Die unzähligen Modelle haben meist die Form von Pflanzen oder Tieren; die Gerüste biegen sich unter der Last des Neuen. Und waren da nicht noch andere Beiträge, die sich dezidiert der Zukunft verschrieben haben? Bei den Franzosen blickt Dominique Perrault auf die fünf größten Städte seines Landes und fragt sich: „Metropolis?" Das Fragezeichen steht wohl dafür, wie es weitergeht. Doch bevor sich mir das erschlossen hat, wurde ich durch Rundumprojektionen, durch unglaubliches Gedröhne und durch die Dämpfe des Teppichbodenklebers in den Nachbarpavillon getrieben. Dort: Technosound, Neon, 3D mit Brille. Später las ich im Katalog, die Ausstellung heiße „Now + When - Australian Urbanism" und sie frage danach, „what the future is and what it will look like." Nun gut, die orangefarbenen Stofftaschen aus dem Pavillon sind schön und in den Giardini ein gefragtes Souvenir.
Demgegenüber ist der Blick in die Zukunft Kopenhagens, den der dänische Beitrag wagt, geradezu, nun ja, real-utopisch. Bjarke Ingels (BIG) beispielsweise entwarf eine Ringbahn, die nicht nur den Norden und Süden der Stadt miteinander verbindet, sondern gleich auch die gegenüberliegende schwedische Künste bedient. Quasi nebenbei generiere diese Infrastruktur „eine neue Form von Urbanität" - die Bahn saust durch riesige Hochhäuser und über bewohnte Viadukte - und löse „die zehn großen Probleme Kopenhagens". Die dazugehörige Filmprojektion in einer Raumecke mit Modelltorso ist sensationell.
Paolo Portoghesi, der Direktor der ersten Architekturbiennale von 1980, gab dieser den Namen „The Presence of the Past" - die Gegenwart der Vergangenheit. In der Corderie dell'Arsenale ließ er riesige Säulen zur „Strada Novissima" aufmarschieren, entworfen von der Crème der damals durchbrechenden Postmoderne. Nun lesen wir im Beitrag von Tony Fretton und Mark Pimlott in demselben Raum: „The presence affected by the past". Und auch wenn wir die Ansammlung von Gegenständen in ihrem Beitrag nicht ganz verstehen - vom Alfa-Romeo GT 1300 Junior bis hin zum mittelalterlichen Taufbecken, dazwischen große abstrakte, weiße Objekte -, so zeigt sich hier doch etwas, das uns bei der gesamten Biennale immer wieder begegnen wird (neben den natürlich sehr gegenwärtigen japanischen Raumideen): Das Nachdenken über Geschichte, Tradition, Handwerk.
Das zeigen „Mumbai Studio" mit ihrer wunderschönen Schauwerkstatt in den Arsenalen oder das chinesische „Amateur Architecture Studio" ebendort mit einem Kuppelgespinnst aus kurzen Holzbalken und Metallhaken. Das zeigen auch der niederländische Beitrag über leerstehende Kirchen, Hochhäuser, Fabriken, Kaufhäuser und Windmühlen und der russische Pavillon, der von einer schrumpfenden Industriestadt und deren Wiederbelebung durch Umnutzung der Fabriken handelt. Das zeigt der Beitrag Belgiens, der Bauteile ausstellt mit Kratzern, Löchern, Brandflecken oder Fettspuren als Ode an den Gebrauch, und schließlich zeigt das auch ein zur alten Form zurückgekehrter Rem Koolhaas. Frisch geehrt mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk, beackert er brillant die Themen Erhaltung und Bewahrung von Gebäuden, Themen die seit Portoghesi im Giftschrank der Biennalekuratoren lagen.
„Natürlich habe ich keine Antwort darauf, wie die Architektur der Zukunft aussehen wird", sagte eine sympathische Kazuyo Sejima in einem Interview. „Ich weiss ja auch nicht, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen wird." Die 12. Architekturbiennale vermittelt aber immerhin eine wage Idee, wie es in nächster Zeit mit der Architektur weitergehen könnte. Und das ist ja nicht nichts. Vielleicht war die Zukunft ja auch früher nicht besser.
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale
› Axel Simon über den japanischen Pavillon und Tokio als metabolistische Stadt voller Puppenhäuser
› Annette Tietenberg über den Pavillon Bahrains, der mit einem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde