Militärische Tarnung - nicht nur mittels belaubter, auf den Helm gesteckter Äste - gab es lange, bevor Tarnkappen-Bomber existierten. So bezeichnet das englische Wort razzle-dazzle zunächst ganz allgemein eine Form von Effekthascherei, eine Art von Durcheinander oder Tumult. Während des Ersten Weltkriegs wurden optische razzle-dazzle-Effekte auf Schiffen dazu genutzt, deutsche U-Boot-Kapitäne zu täuschen. So hat beispielsweise die britische Marine Künstler damit beauftragt, auf der Grundlage des Kubismus flirrende Muster zu entwerfen, die, auf den Rumpf von Schiffen gemalt, es einem feindlichen U-Boot-Kommandanten erschweren sollten, Position, Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes exakt zu bestimmen. Dieser musste nämlich, wollte er ein Torpedo auf das sich bewegende Schiff abfeuern, den Ort bestimmen, wo es sich befinden würde, wenn das Geschoss es erreicht. Er musste also auf ein vorausberechnetes Ziel feuern. Traf das Torpedo zu früh oder zu spät ein, verfehlte es das Schiff.
Aufgabe der Tarnbemalung war es also nicht, das Schiff unsichtbar zu machen, sondern es dem Beobachter zu erschweren, dessen Position und Geschwindigkeit exakt bestimmen zu können. Wie zeitgenössische Fotografien solcher Schiffe zeigen, war es in der Tat schwer auszumachen, in welche Richtung der Bug eines entsprechend bemalten Schiffs zeigte. Die Engländer nannten das Camouflage-Verfahren Dazzle Painting, die Amerikaner Razzle Dazzle. In jüngster Zeit ist es in der Automobilindustrie wieder in Mode gekommen, wenn es darum geht, Erlkönige zu tarnen. Wobei dabei heute meist großflächige und schwarz-weiße abstrakt-florale Muster verwendet werden, die es dem neugierigen Betrachter erschweren, die genaue Form des Autos zu erkennen.
Solche Tarnmuster, künstlerisch virtuos aufbereitet, verwendet Tobias Rehberger bei der Gestaltung seiner italienischen Bar im ehemaligen Padiglione Italia, der jetzt „La Biennale" heißt und künftig auch zwischen den Kunst-Biennalen Ausstellungen beherbergen soll. Für das funktionstüchtige, in Zusammenarbeit mit dem finnischen Hersteller Artek realisierte Environment mit dem Titel „Was du liebst, bringt dich auch zum Weinen", das dauerhaft im Pavillon verbleibt, wurde er als bester Künstler mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Mittels schwarz-weißer Streifen, Spiegeln und allerlei psychedelischer Muster, die Boden, Wände, Versorgungsschächte und Einrichtung komplett bedecken, irritiert er die Wahrnehmung des Betrachters derart gründlich, dass sich dieser jeder stabilen Orientierung im Raum beraubt sieht. Jeder, der sich hier aufhält, ist wie geblendet von all den schillernden Mustern, einem Spiel mit Illusionen, die sich nicht synthetisch zu einer Wahrnehmung zusammensetzen lassen, sondern permanent in einzelne Teile zerfallen. Als gewöhnlicher Hungernder oder Dürstender ist man hereingekommen, und nun fühlt man sich obendrein trunken, hungert und dürstet überdies nach Ruhe und überschaubarer Ordnung. Doch nicht man selbst ist trunken, sondern der Raum, der einen umgibt; alles Vertraute scheint zersplittert, die Synapsen im Gehirn überfordert. „Ein leichter Korken, tanzt ich dahin auf steiler Welle" - heißt es in Arthur Rimbauds Gedicht „Le Bateau ivre"; und so fühlt sich auch, wer zu lange in Rehbergers Cafeteria verweilt.
Spätestens seit seiner Ausstellung „the chicken-and-egg-no-problem wall-painting" im Amsterdamer Stedelijk Museum, bei der er - aus Projektionen, dem Schattenwurf eigener Werke und bemalten Flächen - ein Wandgemälde der besonderen Art realisiert hat, konnte jeder, der Tobias Rehbergers Arbeit verfolgt hat, wissen, mit welcher Lust an der Verwirrung der Sinne und des Denkens er arbeitet. Was gehört in welche Kategorie? Ist ein aus dem Gedächtnis gezeichneter Designklassiker, der aufgrund der Skizze in Afrika nachgebaut wird, noch ein Designklassiker? Ist es eine Kopie? Oder wird dabei aus Design Kunst? Ist es ein Muster oder eine Wand? Wo endet der Tisch und wo beginnt die Wand? Nicht weniger als die Sinne gerät auch das Denken ins Taumeln, wenn es Rehbergers Kunst zu ergründen sucht.
Rehberger, der an der Frankfurter Städelschule lehrt und 2008 für die von Stylepark kuratierte Designmesse „The Design Annual - inside: Showtime" in der Frankfurter Festhalle gemeinsam mit Claus Richter eine veritable kleine Stadt gebaut hat, die zwischen Disneyland und Favela changierte, löst immer wieder mit Vorsatz scheinbar feste Bezugspunkte auf. Das vermeintlich Stabile beginnt wegzudriften, was man eben noch für Realität hielt, erweist sich als bloßer Schein. An die Stelle verlässlicher Grenzen und Ordnungen tritt die reine Sensation sinnlicher Daten, die sich im Subjekt zwar bündeln, sich aber nicht mehr zu einem einheitlichen Bild der Welt zusammensetzen lassen. Für Rehberger ist Kunst eben nicht nur zum Anschauen da. Sie umgibt uns, hüllt uns ein, man erfährt sie mit am eigenen Leib. Vor allem als Irritation. Razzle Dazzle am Rande der Lagune.
53. Internationalen Kunstausstellung der Biennale Venedig
7. Juni - 22. November 2009
www.labiennale.org