Es ist wie in einer griechischen Tragödie: Der Vater der Moderne dringt in das Haus der Mutter der Moderne ein, schändet es und treibt sie in die Verbannung. Er habe ein „rasendes Verlangen, diese Wände zu verdrecken“, schreibt Le Corbusier 1939: „Zehn Kompositionen sind fertig, genug, um alles vollzuschmieren.“ Die Rede ist von E.1027, Eileen Grays ultramodernem Haus. Zehn Jahre zuvor hat sie es in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’ Azur für sich und ihren Geliebten, den rumänischen Architekten Jean Badovici, entworfen und erbaut. Zu diesem Zeitpunkt hat Gray sich bereits getrennt und ihm E.1027 geschenkt. Badovici öffnet seinem Freund Le Corbusier die Tür und lässt ihn eine Reihe von semi-abstrakten Wandgemälden mit teils erotischen Motiven malen, deren Wucht den delikaten Minimalismus des Hauses geradezu sprengt. Gray ist entsetzt. Die Fotografien, die Le Corbusier nackt beim „Vollschmieren“ zeigen, dokumentieren den plumpen Versuch einer Einverleibung, den Willen, einen weiblichen Kunstkosmos zu überschreiben.
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Von Oliver Koerner von Gustorf | 09.06.2015
Doch was trieb den weltberühmten Architekten zu dieser „Vergewaltigung“, wie es Peter Adam, der Biograf und Freund von Eileen Gray, nennt? Eine Erklärung wäre, dass ein egomanischer Meister sich nicht mit der Virtuosität einer ehemaligen Schülerin abfinden kann. Tatsächlich ist Grays E.1027 von den Plänen zu Le Corbusiers Villa Le Lac am Genfer See und seinen „Fünf Punkten zu einer neuen Architektur“ inspiriert, zu denen etwa die horizontalen Langfenster und die Stelzenarchitektur gehören. Doch was die irische Designerin und Innenarchitektin aus Le Corbusiers Ansätzen macht, ist mehr als eine Weiterentwicklung seiner Pläne, es ist ein Gegenentwurf zu seiner Idee der „Wohnmaschine“, die sich später in dessen „Unité d’Habitation“ manifestierte. „Ein Haus ist keine Maschine“, widersprach sie, „es ist das Gehäuse, die Schale des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine spirituelle Ausstrahlung.“
Die Villa E.1027 sei „ein Haus voller Geheimnisse, verborgener Schrankfächer, Paravents und Schiebetüren – es zeigt und verbirgt gleichzeitig“, schreibt Jennifer Goff in ihrem jüngst erschienenen Buch „Eileen Gray – Her Work and Her World“. Dem Funktionalismus von Le Corbusier setzte Gray eine individualistische Haltung entgegen. Ihre Architektur und ihr Design entstanden nicht systematisch für „den Menschen“, sondern organisch; für bestimmte Personen, Orte und Situationen – wie etwa der „Adjustable Table“, den Gray 1927 entwarf, damit ihre Schwester im Gästezimmer des E.1027 im Bett frühstücken konnte. Jetzt bringt ClassiCon eine limitierte, schwarz lackierte Edition dieser Designikone heraus – der Prototyp von Gray zierte 2013 auch das Plakat ihrer Retrospektive im Centre Pompidou. Für ClassiCons Chef Oliver Holy ist Gray neben Coco Chanel und Louise Bourgeois eine der herausragenden Künstlerinnen, die das Gesicht des 20. Jahrhunderts verändert haben.
Wie in kaum einem anderen Design-Œuvre der Moderne verzahnen sich bei Gray Biografie und gestalterische Vision. Fragil und schiffsgleich, ist ihr E.1027 auch keine Familien-Behausung für jedermann. Der modulare „Campingstil“, den sie für das Innere entwickelt, die mechanischen Blenden, die Licht- und Luftzufuhr minutiös regeln, die Raffinesse, mit der ihre Innenarchitektur den Besucher durch den Raum lenkt, sind Teil einer Inszenierung, die bei aller Funktionalität das Un-eindeutige, Verspielte, Geheimnisvolle liebt.
1878 als Spross einer irischen Adelsfamilie geboren, gehörte Gray in den 1920ern und 1930ern zum Inner Circle der Pariser Avantgarde. Sie war mit dem Okkultisten Aleister Crowley eng befreundet und verkehrte in „sapphischen“ Salons wie etwa dem von Gertrude Stein. Ihre Beziehung mit der Chansonsängerin Marisa Damia, mit der sie gerne in Lanvin gekleidet und mit einem Panther auf dem Rücksitz über die Boulevards fuhr, war talk of the town. Sie stattete mit ihren ultramodernen Möbeln und Teppichen die Häuser der beau monde aus. In ihrer Galerie Jean Désert kauften James Joyce, René Clair, Elsa Schia-parelli oder die Rothschilds ein. Jennifer Goff, die auch die große Gray-Retrospektive 2013 im Irischen Nationalmuseum kuratierte, hat das Leben der Designerin detektivisch recherchiert. Sie verfolgt es allerdings weniger anhand biografischer Anekdoten, sondern entlang ihrer Werke – von den frühen mystisch-abstrakten Lackparavents zu Beginn des Jahrhunderts über den berühmten „Non Conformist Chair“ (1926) bis hin zu den pinkfarbenen Zelluloid-Wandschirmen, die sie noch wenige Tage vor ihrem Tod entwarf.
Um Grays schillernde Biografie, ihre Liebesbeziehungen und das komplexe Verhältnis zu Le Corbusier geht es allerdings in Mary McGuckians Spielfilm „The Price of Desire“, der dieses Jahr in die Kinos kommt. Neben Orla Brady als Eileen Gray spielt die Sängerin Alanis Morissette deren Geliebte Marisa Damia. Der Filmtitel bezieht sich auf ein Statement, das die Händlerin Cheska Vallois 2009 bei der Christie’ s-Auktion der Sammlung von Yves Saint Laurent und Pierre Bergé der Presse gab. Als sie gefragt wurde, wie man für Grays „Dragon Chair“ fast 22 Millionen Euro bezahlen könne, antwortete sie: „Das ist der Preis der Begierde.“ Regisseurin McGuckian, die zugleich auch den Dokumentarfilm „Gray Matters“ von Marco Orsini produziert hat, geht es genau um diese Diskrepanz: Sammler zahlen Höchstpreise für die wichtigste Designerin des 20. Jahrhunderts, doch ihr Werk und ihre künstlerische Vision sind abseits einiger weniger Möbel der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.
Nachdem Le Corbusier E.1027 entstellt hatte und ihr nächstes Haus im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen geplündert worden war, zog Gray sich fast ganz zurück. Ihre Wiederentdeckung erlebte sie nur noch in den Anfängen. Als sie 1976 mit 98 Jahren in Paris starb, kamen nur drei Personen zu ihrer Beisetzung. Ihr Haus in Roquebrune galt aufgrund der Wandmalereien zwischenzeitlich als von Le Corbusier erbaut. Der setzte in den 1950ern seine eigene modernistische Blockhütte Le Cabanon direkt daneben.Nach dem Tod Jean Badovicis 1956 versuchte er erfolglos, E.1027 zu erwerben. Stattdessen besorgte er eine Käuferin, Madame Schelbert, die kurzzeitig überlegte, sämtliches Mobiliar verbrennen zu lassen. Le Corbusier hielt sie davon ab. Als er im August 1965 gleich unter der Steilküste vor E.1027 im Meer badete, erlitt er einen Herzschlag. Das Letzte, was er sah, war Grays Haus.
Dass „The Price of Desire“ an diesem Originalschauplatz gedreht werden konnte, war an die Bedingung geknüpft, das Haus zu sanieren. Denn auch das erlitt nach Le Corbusiers Ableben ein Martyrium: In den 1980ern wurde Madame Schelbert tot aufgefunden – drei Tage nachdem ihr morphiumsüchtiger Gynäkologe Peter Kägi fast sämtliche E.1027-Möbel nach Zürich abtransportiert hatte. Er behauptete, sie habe ihm das Haus 1974 überschrieben, zog vor Gericht, gewann den Prozess und durfte einziehen. In den 1990ern gingen auch die letzten Möbel an Auktionshäuser, 1996 wurde Kägi in Grays Villa ermordet. Das Haus verfiel und wurde von Landstreichern und Junkies verwüstet. Die Streitigkeiten um seine Renovierung dauern bis heute an. In diesem Mai soll es nun endlich für das Publikum geöffnet werden – dieses Haus der Liebe, das zu einem Schlachtfeld wurde.
www.facebook.com/EileenGrayE1027
www.thelittlefilmcompany.com/thepriceofdesire
www.thelittlefilmcompany.com/graymatters
Ausflugstipp:
Besuch der Villa E.1027
in Cap Martin-Roquebrune, Frankreich (Côte d'Azur)
Öffnungszeiten: 3. Mai bis 31. Oktober 2015
Nur mit Voranmeldung: Telefon 0033 06 48 72 90 53 (10 bis 17 Uhr) oder per Mail contact@capmoderne.com
Der Besuch mit Führung (Start 10 oder 14 Uhr) dauert 2,5 Stunden und kostet 15 Euro
www.capmoderne.com/lavillae1027
Buchempfehlung:
Eileen Gray: Her work and her world
von Dr. Jennifer Goff
Irish Academic Press
www.irishacademicpress.ie
Ausstellungsempfehlung:
Die Eileen Gray Ausstellung des Centre Pompidou aus dem Jahr 2013 wird von September 2016 bis Januar 2017 im Bard Graduate Center Gallery New York laufen:
www.bgc.bard.edu
Oder sie ständige Ausstellung über Eileen Gray im National Museum of Ireland:
www.museum.ie