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Kommentar
Ein Grabmal des technischen Fortschritts

In Tschernobyl ist der 1986 havarierte vierte Reaktorblock unter dem „Großen Bogen“ verschwunden. Er ist keine bloße Hülle, sondern das größte Signature-Building unserer Zeit.
von Thomas Wagner | 01.12.2016

Nun war es endlich soweit: Am Dienstag, dem 29. November 2016, verschwand der havarierte vierte Block des Kernkraftwerks von Tschernobyl unter einem mächtigen, silbern glänzenden Bogen. Um die Baumannschaften vor Strahlung zu schützen, war das Gewölbe mehrere hundert Meter vom Katastrophenmeiler entfernt montiert und in den letzten Wochen auf Teflon-Schienen Zentimeter für Zentimeter über die Ruine geschoben worden. Nach Auskunft der EBRD, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die das Projekt koordiniert hat, wurde es kurzzeitig zum größten Landfahrzeug aller Zeiten. Um den „Großen Bogen“, dieses weniger als halbe Riesenfass samt einigen Nebenanlagen bauen zu können, hat sich die sogenannte Weltgemeinschaft zusammengetan und 2,1 Milliarden Euro aufgebracht. 

Von Architektur war dabei überraschenderweise keine Rede, allein von Sicherheit und Technik. So soll der „Neue Sichere Einschluss“, wie die Techniker den Bogen nennen, durch spezielle Vakuumtechnik in seinen Doppelwänden den Austritt von Strahlung ebenso verhindern wie spezielle Verfahren das Verrosten seiner Stahlträger unter dem Einfluss der Radioaktivität. Im Innern des Hallenbaus stehen zudem gewaltige Kräne bereit, um eines Tages, wenn die Wissenschaft weiß, was sie noch tun kann und will, weitere Arbeiten an dem geborstenen Reaktor vornehmen zu können.

Viele werden sich noch an den panischen Schrecken und an das ungläubige Staunen erinnern, die hierzulande kollektiv alle ergriffen haben, als der Reaktor von Tschernobyl in die Luft geflogen und der befürchtete GAU in einem AKW schlagartig Realität geworden war. Als die unsichtbaren und geruchlosen radioaktiven Partikel damals nach Westen wehten, wurden nicht nur die Folgen einer bestimmten Technologie offenbar, es wurde auch schmerzlich deutlich, wie sehr der Mensch bei Gefahr auf seine Sinne angewiesen bleibt. Wo es nur ein ungefähres Wissen und etwas zu messen gibt, aber keine Chance zu einer unmittelbaren Erfahrung besteht, bleibt jede Bedrohung seltsam abstrakt und geisterhaft. 

Mehr 30 Jahre nach diesem so folgenreichen 26. April 1986, an dem der neue Gott der Energie Opfer einforderte und die Hoffnung auf sauberen und billigen Strom explodierte, ist nicht nur irgendeine Ruine unter einem gewaltigen Dach verschwunden, es ist auch ein ganz besonderes Signature-Building seiner Bestimmung übergeben worden. Wie bei den gesichtslosen Industriehallen in den Speckgürteln der Metropolen dieser Welt, so kennt auch bei dieser Kathedrale des Scheiterns niemand den Namen ihres Architekten, ganz gleich ob aus Ignoranz oder kollektiver Scham. Wer auf all die Signature-Buildings der vergangenen Jahrzehnte blickt, begreift indes sofort, wie groß der Bedarf an zeichenhafter Architektur, an nicht virtuellen Orientierungszeichen in Stadt und Land heute ist –  an Bauten, die mehr sind und mehr verkörpern als bloße Funktion und Information. 

Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang der „Große Bogen“ von Tschernobyl? Superlative und Vergleiche haften diesem Sicherungsbau schon jetzt an, als wollten sie die Folgen der Katastrophe noch Jahrzehnte nach jenem schicksalhaften Datum durch den enormen Aufwand bannen und symbolisch durch die ungeheuerliche Dimension des Bauwerks aufwiegen.

Was sogleich an Vergleichen und staunenswerten Details mitgeliefert wurde, scheint das zu bestätigen: Dreimal so schwer wie der Eiffelturm, ist zu hören, sei dieses Ding, die Pariser Kirche Notre Dame würde locker hineinpassen – und auch die Freiheitsstatue fände darin Platz. Offenbar verlangt, was in seiner zeitlichen Konsequenz (die Halbwertszeit von Uran 235 beträgt 703 Millionen Jahre) nicht einmal annähernd erfasst zu werden vermag, nach einem ganz besonderen Architekturzeichen. Dass uns dieses nun ebenso anonym wie gigantisch entgegentritt, passt ebenso ins Bild wie die Tatsache, dass der „Neue Sichere Einschluss“, den havarierten und zerborstenen Reaktor unsichtbar macht und somit das Unglück zumindest medial-architektonisch zum Verschwinden bringt. Hundert Jahre soll die Hülle halten. 

Womit wir es zu tun haben, ist also keineswegs nur ein simpler technischer Schutzbau. Symbolisch betrachtet wird er als ein den ägyptischen Pyramiden vergleichbares Memorialgebäude erkennbar, auch wenn dieses technoide und megalomane Memento mit seinen 108 Metern Scheitelhöhe an deren kulturelle und bauliche Dimensionen dann doch nicht heranreicht.

Bleiben wir aber noch für einen Moment im Bild: Wenn der Panzer aus Beton, der nach der Havarie eilig über dem Unglück ausgegossen wurde, einen Sarkophag darstellt, was ist dann die große, Ruine und Grab umfangende Hülle? Eine Kathedrale, in der ferngesteuerte Kräne stellvertretend für Technokraten und politischen Hohepriester des Fortschritts die nächsten hundert Jahre bang ihre stummen Lieder singen? Im Rückblick aus noch ferner Zeit könnte sich der „Große Bogen“ einmal als die Grablege des technischen Fortschrittsglaubens der Moderne und seiner Folgen erweisen. Einige mögen sich noch an das eisig-klamme Bild aus Andrei Tarkowskis Film „Stalker“ von 1979 erinnern, auf dem im Hintergrund die Blöcke des Atomkraftwerks Tschernobyl zu erkennen sind.