Sammler kennen das. Es ist immer zu wenig Platz da, um zu lagern, auszubreiten und zu präsentieren, was über lange Zeit zusammengetragen wurde. Was sichtbar wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Als das Vitra Design Museum in Weil am Rhein mit einer Schau über „Meisterstücke“ 1989 eröffnet wurde, widmete sich das Haus noch hauptsächlich der Sammlung und Präsentation von Stühlen. Inmitten der luftig arrangierten Ausstellung, die zugleich die damals sensationell neue Architektur des Museumsgebäudes von Frank Gehry zum Thema machte, gab es unter anderem einen großen mehrreihigen Setzkasten zu sehen, in dem etwa vierzig ausgewählte Stühle und Sessel auf mehreren Etagen eine knappe Entwicklungsgeschichte der Sitzmöbel europäischer und amerikanischer Provenienz anschaulich machten. Dieses Konzept der Inszenierung steigerte 2002 die Neue Sammlung in München zu einer monumentalen zweigeschossigen Regalpräsentation, die Objekte vom Einzelding bis zum Massenprodukt, vom Prototyp über das Werkzeug bis zum Serienfabrikat kontrastreich aufreihte. Florian Hufnagl, der damalige Leiter des staatlichen Museums, wollte mit diesem verdichteten Schaufenster in die Designgeschichte nicht weniger als die „Humanisierung der Gesellschaft durch Gestaltung“ deutlich machen.
Am Beginn standen zwei Sammlungen
Die Ansprüche in Weil am Rhein mögen bescheidener sein. Und doch auch wieder nicht. Anfangs umfassten die Bestände des Vitra Design Museums rund 1000 Objekte, die sich aus zwei maßgeblichen Quellen speisten: Möbel, die der damalige Vitra-Chef Rolf Fehlbaum seit Beginn der 1980er Jahre zusammengetragen hatte, und solche, die der von Fehlbaum berufene Gründungsdirektor des Museums, Alexander von Vegesack, bereits rund 20 Jahre zuvor zu sammeln begonnen hatte. Die Teile ergänzten sich komplementär: Während Fehlbaum sich auf bedeutende Entwürfe von Charles & Ray Eames und George Nelson konzentrierte – sämtlich Grundpfeiler der Möbelproduktion seines Unternehmens – und darüber hinaus Möbel von Architekten und Gestaltern der Avantgarde der 1920er Jahre wie Alvar Aalto, Jean Prouvé und Gerrit Rietveld erwarb, hatte Vegesacks Kollektion ihre Schwerpunkte bei den Thonet- und Bugholzmöbeln inklusive ihrer Vor- und Seitengeschichten, aber auch bei den Stahlrohrmöbeln der 1920er Jahre.
Aus dem Untergrund wieder aufgetaucht
Fast 30 Jahre nach der Gründung des Vitra Design Museums werden in den Depots der Sammlung rund 7000 Möbel verwahrt, etwa 1000 Leuchten und rund 20.000 Objekte, insgesamt 100.000 Archivalien unterschiedlicher Art, zu denen eine Bibliothek, aber auch Nachlässe von Charles und Ray Eames, von Verner Panton und Alexander Girard gehören. Das Museum ging bald dazu über, thematische und monografische Ausstellungen zu entwickeln, die nach ihrer Erstpräsentation vor Ort wandern und in bedeutenden Design- und Architekturmuseen überall auf der Welt gezeigt werden. Mateo Kries und Marc Zehntner, die das Museum seit 2011 leiten, erweiterten die Perspektive des Blicks aufs Design um Kunst, Architektur und soziale Zusammenhänge. Die Sammlung, und damit das Ausgangsmaterial aller Forschungs- und Projektarbeit, blieb mehr und mehr im Hinter-, ja im Untergrund.
Den großen Brand auf dem Vitra-Gelände 1981 hatten unterkellerte Hallen an dessen westlichem Rand überstanden. Dort lagern dicht aneinander gedrängt bedeutende Schätze der Geschichte der Möbelgestaltung seit 1800, darunter einmalige oder äußerst seltene Stücke, die nur in wenigen Exemplaren oder als Unikat überliefert sind. An diesem Ort arbeiten die Kuratoren, Sammlungsleiter, Restauratoren. Und an diesem westlichen Ende des Vitra-Campus entstand nun ein neues Gebäude von Jaques Herzog & Pierre de Meuron: das Vitra Schaudepot.
Ein Blick hinter die Kulissen
Es entspricht der gegenwärtigen Tendenz vieler Museen, einen Teil ihrer Lagerräume begehbar zu machen. Dabei steht weniger die didaktische Inszenierung der Einzelobjekte auf gut ausgeleuchteten Sockeln im Zentrum, nicht die Betonung des Einzelstücks, sondern das Zusammenspiel, der innere Zusammenhang mit anderen, benachbarten Objekten. Eine Ästhetik des Provisorischen, des transformierten Raums, entspricht diesem inhaltlichen Konzept. Es ist der permanente Blick hinter die Kulissen, der so zur Attraktion wird. Hinzu kommt die spezifische Basler Tradition des Einlagerns, Versteckens und Bewahrens besonderer Güter – etwa des Kunstmarkts.
Die Architekten Herzog & de Meuron haben 2003 mit dem „Schaulager“ der Emanuel-Hoffman-Stiftung bereits einen bedeutenden Bau dieses Typs geschaffen, der sich für Forscher und aus Anlass einzelner Ausstellungen öffnet. Nicht öffentlich zugängig ist dagegen das Basler „Helsinki Dreispitz“-Gebäude. Benachbart zum frei zugänglichen Gelände der Hochschule für Gestaltung und Kunst, verwahrt es in seinen drei, weitgehend geschlossenen Sockelgeschossen die Archivalien des Architekturbüros, Modelle und Pläne, während in den acht Stockwerken darüber eine Etage für Büros und sieben fürs Wohnen entstanden.
Eigenwilliger Monolith
Wie beim 2010 an der nördlichen Spitze des Campus fertiggestellten Vitra-Haus, spielt die äußere monolithische Struktur des Gebäudes mit dem Grundmotiv eines archetypischen Wohngebäudes mit Giebeldach. Doch anders als bei den aufeinander getürmten, sich durchdringenden Wohnhäuschen mit riesigen Aussichtsfenstern und Ausblicken auf Weinberge, Industrie- und Stadtlandschaften, schließt sich der Bau des Schaudepots hermetisch ab. Fotografien, die Vitra vom Neubau verbreitet, zeigen ihn im Mittagslicht der Maisonne. Farblich erinnert dieses Bild beinahe an Bauten von Luis Barragán in Mexiko. Nähert man sich dem Bau, löst sich diese Assoziation rasch auf. Deutlich werden materielle und farbliche Nuancen der Klinker zwischen dem Neubau und dem benachbarten Bestandsbau, der die Büros der Mitarbeiter des Museums sowie ein eigenes Café enthält – und zum großen Platz, der das Schaudepot mit einem leicht getreppten Sockel von der Umgebung abhebt. Je näher man der Fassade kommt, desto mehr löst sich deren homogene Oberfläche in eine vielgestaltige Kleinteiligkeit auf.
Erkennbar wird der gebrochene Klinker, der vor Ort seine spezifische Form erhielt. Das standardisierte Industrieprodukt wurde der handwerklichen Individualisierung unterzogen. Dem beschriebenen Bautypus entsprechend, hat das Gebäude keine Fenster. Ein Bau von Schildbürgern? Ganz und gar nicht. Beinahe wie im rein konservatorischen Depot isoliert das Gebäude die wertvolle Sammlung von äußeren Licht- und Witterungsverhältnissen. Architekten und Bauherr sprechen anlässlich der Eröffnung von einer „Basilika“.
Der Campus öffnet sich
Wohl nicht zuletzt aus ästhetischen Gründen wird die westliche Giebelwand durch eine hohe Tür unterbrochen, die dem Bau eine wohlproportionierte Schauseite verleiht. Wie die benachbarte „Fire Station“ von 1993, das erste realisierte Gebäude von Zaha Hadid, ist auch das Schaudepot kürzlich aus dem eigentlichen Firmengelände und dessen Umzäunung entlassen worden. So bilden der expressive Beton- und der nüchterne Klinkerbau einen neuen Schwerpunkt des Vitra-Campus. In zehn Minuten gelangt man zu Fuß von der Weiler Endstation der Basler Trambahnlinie 8 bis zum neuen Zugang des Geländes. So ist das Schaudepot eben kein Erweiterungsbau des bestehenden Museums, sondern ein Pilgerort für Möbelbegeisterte eigener Art.
Zeiten, Materialien und Formen überblicken
Im Innern ist das Schaudepot mit traditionellen Leuchtstoffröhren bestückt, die allerdings aktueller Lichttechnik entsprechen. Auch dieses Prinzip findet sich ebenso bei Museumsbauten von Herzog & de Meuron wie auch im neuen Anbau zum Basler Kunstmuseum von Christ & Gantenbein. Gleichmäßige Lichtverteilung statt betonender Ausleuchtung entspricht dem Selbstverständnis der Sammlung. Dieter Thiel hat das Ausstellungsszenario entworfen. Große dreistöckige Regale mit Glasböden sind links und rechts eines Mittelgangs aufgestellt. Zum Eingangsbereich mit Kassen und Shop sowie zum Gang hin sind die Regale mit einer durchschimmernden Folie versehen. Ansonsten ermöglichen sie einen freien Durchblick über Zeiten, Materialien und Formen hinweg. Die Sammlung ist chronologisch präsentiert. Ein langweiliges Orientierungsmuster? Keineswegs, denn es handelt sich nicht um eine sture Chronologie exakter Jahreszahlen, sondern um eine, die Gruppen schafft, Zeitgenossenschaften und Kontraste erkennbar werden lässt, Widersprüchliches wie Gemeinsames verdeutlicht. Der analytische Blick auf die Objekte der unteren Regalreihen ist direkt und inspirierend, da man auch Details erfassen kann. Im dritten und obersten Regalboden bleibt es bei einer Betrachtung aus der Ferne. Vielleicht bräuchte es hier eine neue Art des begehbaren Museumsmöbels, ähnlich einem Leiterobjekt wie es Jurgen Bey einmal für Vitra geschaffen hat?
Die Besucherführung bietet Basisinformationen unten an jedem Regal. Vorbildlich ist ein vertiefender Online-Führer, der per WLAN allen Besuchern zur Verfügung steht, ob per eigenem Smartphone oder mittels vor Ort ausleihbarer Geräte. Jedes gezeigte Objekt ist mit einer vierstelligen Nummer am Regalboden bezeichnet. Diese Nummer ermöglicht Recherchen in der Online-Datenbank, die allerhand Querverweise und Vertiefungen anzubieten weiß. Deutlich wird der Anspruch, zu den „weltweit größten Dauerausstellungen und Forschungsstätten zum modernen Möbeldesign“ zu gehören. Manche staatliche Sammlung gerät, was Intensität der Sammlungs- und Forschungstätigkeit, vertiefte Kenntnis und allemal eingesetzte Mittel betrifft, dabei ins Hintertreffen.