Die Veränderung unseres alltäglichen Lebens und seiner Grundlagen vollzieht sich in rasantem Tempo. Allein das Internet mitsamt seinen globalen Kommunikationsmöglichkeiten verlagert das Schwergewicht unserer Bezüge zur Welt und den Mitmenschen immer öfter ins Virtuelle durch medial vermittelte Kontakte. Das ist aber längst nicht alles. Glaubt man den Technik-Freaks in aller Welt und den Auguren einer Zukunft, die gerade erst begonnen zu haben scheint, so werden schon bald neuartige Materialien und Produktionsmethoden unser Leben abermals umkrempeln.
Wie werden wir unter diesen Bedingungen wohnen? Werden die Räume, in denen wir uns aufhalten, transitorisch werden, also bloße Durchgangsräume sein? Wie wird sich unsere Wahrnehmung mittels neuer Technologien verändern? Was werden wir als sublim oder poetisch empfinden? Werden wir in der hybriden Welt der Zukunft andere und neue Erfahrungen machen? Und welche Dinge werden wir als luxuriös empfinden?
In Halle 4 der Kortrijk Xpo dreht sich ein seltsames Gebilde. Es gehört zu den sogenannten „Future Primitives“, einer von Lowie Vermeesch, dem Kurator der Biennale, initiierten Reihe von Vorschlägen, die sieben namhafte Designer, Künstler und Architekten wie Muller van Severen, Ross Lovegrove, Makking&Bey, Troika, Nendo, David Bowen und Greg Lynn mit Blick darauf entwickelt haben, welche Elemente künftig zu einer „Grundausstattung unseres Lebens“ gehören werden. Die sieben Konzepte – vier beziehen sich auf das Wohnen in der Zukunft, drei auf unser Verhältnis zur Natur – lösen nicht nur das bisherige Konzept eines „guest of honour“, eines einzigen Ehrengastes, ab, sie versuchen auch, den Betrachter für anstehende Veränderungen zu sensibilisieren.
Wie das seltsame Gebilde in Halle 4, das Greg Lynn ersonnen hat. „RV (Room Vehicle)“ nennt er seinen Versuch, einen Wohnraum ganz anderer Art zu kreieren. Was er präsentiert, ist eine bewegliche, höhlenartige Raumkapsel, die denjenigen, der sich in ihr aufhält, wie eine Übungs- oder Trainingsmaschine körperlich fordert, indem sie sich permanent dreht, also andauernd ihre Position verändert. Wie eine Bergziege oder wie Spiderman muss man ständig die eigene Lage und Position ändern, weiterkraxeln, umherrollen oder sich durch den ergonomisch gestalteten Kokon in Sandwich-Bauweise bewegen, dessen komplett nutzbare Oberfläche einmal einer sechzig Quadratmeter-Wohnung heutigen Zuschnitts entsprechen soll. Werden Wohnkapseln in Zukunft so aussehen? Wird also die Wohnung selbst zu einem Möbel werden, das uns in Bewegung und somit auch fit hält? Oder werden wir Kombi-Möbel aus einfachen Materialien bevorzugen, wie sie die Künstler Fien Muller und Hannes Van Severen entworfen haben?
Nicht nur an ausgewählten Orten innerhalb der Messehallen, auch in Projekträumen auf der inmitten durch Kortrijk fließenden Leie gelegenen Buda-Insel, dem zweiten Ort der diesjährigen Biennale „Interieur 2012“, stößt man auf solche mehr oder weniger anregenden Entwürfe und Installationen. Mal begegnet man ihnen auf einer freien Fläche, mal in einem „White Cube“, mal in einer „Black Box“ oder in historischen Räumen am Fuß des Buda Towers. Womit allein schon bewiesen wäre, dass man sich in Flandern tatsächlich darauf versteht, sowohl eine „Biennale in der Stadt“ zu präsentieren, als auch die Stadt mittels der Biennale. Mehr noch: Aus dem Wechselspiel von Messekojen und kuratierten Bereichen, von Arealen für Nachwuchsdesigner und Kunsthandwerker, in unterschiedlichen, sich durch die Messehallen ziehenden Ausstellungskorridoren und Laborsituationen, in denen man Designern, Studenten und Künstlern dabei zusehen kann, wie sie mittels Rechner und 3-D-Drucker irgendwelche Dinge herstellen, kann man nicht nur fertige Produkte in Augenschein nehmen, sondern an ganz unterschiedlichen Facetten des Prozesses des Gestaltens teilhaben.
Es ist die Mischung, die den Reiz dieser Biennale ausmacht: In Kortrijk kann man ganz selbstverständlich bei einem der dreihundert ausgewählten Markenhersteller – bei Arper, Moroso oder Zanotta, bei Molteni, Jan Kath oder Extremis, bei Spoing, Next oder Flos – ein Sofa oder einen Stuhl ausprobieren, eine Leuchte, einen Gartentisch oder einen Teppich in Augenschein nehmen, oder sich gleich nebenan umfassend beraten lassen. Man kann aber auch – je nach Bedarf, Lust oder Laune – beim Betrachten edler Holzmöbel oder bunter Tassen über die Vielfalt aktuellen Designs sinnieren. Wodurch es sich plötzlich als Vorteil erweist, nicht zu viel anschauen und nicht unbedingt auf die Jagd nach Neuheiten gehen zu müssen, wie sie alljährlich in Mailand stattfindet.
Die – trotz allem reichhaltige – Überschaubarkeit des Angebots wissen die Besucher offensichtlich zu schätzen, ganz gleich, ob man sich einfach treiben lässt und wie nebenbei bei Sky-Frame dazu angeregt wird, das eigene Haus mit isolierten Schiebefenstern ohne Rahmen auszustatten. Oder ob man – am Stand von Pastoe – nicht nur die Eleganz und Präzision der Produkte aus der aktuellen Kollektion, sondern auch jene von Möbeln früherer Zeiten bewundert – und zudem darüber staunt, dass die Firma im kommenden Jahr bereits ihr hundertjähriges Bestehen feiert.
Plötzlich entdeckt man – nicht nur bei den Jungdesignern inmitten der Messe oder in der Buda-Factory – einige ebenso praktische wie gut gestaltete Regalsysteme aus Einzelelementen in unterschiedlichen Dimensionen, etwa bei Cubit aus Düsseldorf, wo man sich ein variables System aus einfachen Kästen ausgedacht hat, die sich leicht zu kleinen Einheiten oder ganzen Wänden verbinden lassen. Oder man stöbert in der Lagerregalwand von Lensvelt und erfährt, dass einige der stets originellen Produkte nun „on stock“ sind und binnen einer Woche geliefert werden können. Und wenn einem zwischendurch nach etwas Ruhe ist, erprobt man einfach die Eleganz der Entwürfe von Finn Juhl aus den 40er und 50er Jahren und nimmt für einen Moment bei „onecollection“ Platz.
Am Eröffnungstag gab es zudem eine spannende Diskussionsrunde darüber, wie das Auto, die Mobilität und die Stadt der Zukunft aussehen könnten. Audi Belgien ließ eben nicht nur zahlreiche Limousinen und SUVs zirkulieren, um die zahlreichen Gäste zwischen Xpo und Buda-Island hin- und her zu chauffieren. Die Debatte kreiste um die wesentlichen Aspekte einer effektiveren Mischung unterschiedlicher Mobilitätsformen und immer wieder um die Frage, ob und vor allem was wir in Zukunft alles zu teilen bereit sein werden. Mit Eric Höweler von Höweler + Yoon Architects aus Boston hatte die Runde zudem – was zum Zeitpunkt der Einladung niemand wissen konnte – den aktuellen Gewinner des „Audi Urban Future Award 2012“ zu Gast, der eloquent seinen neuen amerikanischen Traum vom Teilen erläuterte.
Mit Hilfe ganz unterschiedlicher, stets wohl kalkulierter Elemente, aber auch mit Geschick und kluger Selbstbeschränkung, hat man es in Kortrijk – das keineswegs irgendwo in der Provinz, sondern nur rund hundert Kilometer von Brüssel entfernt liegt – auch dieses Mal geschafft, aus der Biennale ein sympathisches Miteinander von Herstellern, jungen Talenten, Architekten, Designern, Aficionados und an Design interessierten Kunden zu machen. Es kommt eben auf die Mischung an.