Mailand bleibt eben doch Mailand. Nirgendwo sonst als bei der größten Möbelmesse der Welt entsteht aus Geschäft, Spektakel, norditalienischer Lebensart und städtischer Kultur eine derart hektische, flirrende und randvolle Mixtur. Selbst in der Krise, die auch im Design viele Gesichter hat und sich nicht ignorieren lässt. Was dieses Mal alles bestaunt, erlebt, beklagt und verdaut werden wollte? Nun, versuchen wir es in einen Satz zu pressen, auch wenn dieser hernach aufgelöst werden will wie ein Brühwürfel. Er könnte lauten: Die Zona Tortona verliert als Bühne rapide an Gewicht, wichtige Hersteller kehren auf die Messe und zum Kerngeschäft zurück, bei der Gestaltung der Stände gibt man sich überwiegend bescheiden, für Extravaganzen fehlt das Geld und auf wirklich überraschende Neuheiten stößt man eher selten.Und was die Designer angeht: Ross Lovegrove stylt sich wie sein Auto, Rem Kohlhaas transformiert die Moderne, Konstantin Grcic zeigt mal wieder, wie es geht, Stefan Diez zaubert weiter, und während sich die Bouroullecs in „Quiet Motion“ im Kreise drehen, zündet Jaime Hayon die eine oder andere Rakete. Alles klar? Nein? Nun, dann also der Reihe nach.
Erleichtertes Wohnen
Möbel sind nun mal keine Immobilien. Stühle können weggetragen werden und selbst meterlange Schlafzimmerschrankwände lassen sich zerlegen. Die Erkenntnis ist alles andere als neu. Gleichwohl lässt sich in unseren permanenter Beweglichkeit huldigenden Zeiten die Tendenz kaum übersehen, dass Stühle, Tische, Sessel und Regale unter dem Diktat der Effizienz erleichtert werden. Versprechen wie jene, es ließen sich komplette Wohnzimmer im Sommer nach draußen verlagern, gehören ebenso zu dieser Entwicklung wie Stapelstühle, kleine Sessel und der Siegeszug von Netzgeweben, Schichtholz und Aluminium. Doch nicht nur was die Materialien angeht, wird Schwere durch Leichtigkeit ersetzt. In den Jahren des Booms hatte die fiebrige Suche nach dem Rausch des Neuen oft genug zu exaltiertem Durchschnitt geführt. Auch empfand man die Designgeschichte als Ballast, den es abzuwerfen galt. Nun besinnt man sich hier und da wieder auf sie, greift spielerisch etwas auf und formuliert es selbstbewusst um. Keine Frage: Je mehr am Sinn einer Beschleunigung aller Lebensverhältnisse gezweifelt wird, desto deutlicher gewinnt das Programm einer Erleichterung an Kontur. Alles soll leichter werden: die Stühle und Sessel, das Wohnen und am Ende auch das Leben. Ob und wie es gelingt, weiß keiner. Es ist, als ob wir glaubten, nur mit leichtem Gepäck ließe sich die Zukunft gewinnen.
Wie jedes Jahr, wenn der Mailänder Salone-Marathon vorüber ist und wir das feste Schuhwerk, das uns tage- und nächtelang durch Messehallen, Showrooms, Straßen, Fabrikhallen und Bars getragen hat, wieder gegen den Schreibtischstuhl eingetauscht haben, tauchen aus den Mailänder Tagträumen altbekannte Fragen vor unserem geistigen Auge auf: Was haben wir da eigentlich erlebt? War es ein mehr als solider Salone? Wovon wurden wir überrascht, wovon enttäuscht? Und nicht zuletzt: Wie macht sich die Krise in der Branche bemerkbar, die in Europa schwer daran zu tragen hat, dass Sich-neu-einrichten wegen geplatzter Immobilienblasen und den Erschütterungen des Finanzmarkts nicht gerade oben auf der Prioritätenliste steht?
Konsolidieren und abwarten
Eines war nicht zu übersehen: Anno 2013 übt man sich im Bereich hochwertigen Designs in Zurückhaltung. Wo die Hersteller pathetisch-rückwärtsgewandter Luxusartikel für die nouveaux riches in Russland und Asien bei Gold und Brokat in die Vollen gehen, ist Vorsicht zum Ratgeber all jener geworden, die sich erklärtermaßen um die Artikulation eines zeitgenössischen Designs bemühen. Konsolidieren und abwarten, bis die Krise vorbei ist, lautet vielerorts die Devise. Was nicht heißt, sich zu verstecken oder die Hände in den Schoß zu legen. Man macht weiter und hält Kurs. Konkret bedeutet das zunächst: Vorbei sind die Zeiten, als die großen Hersteller sich beim Feuerwerk der Neuheiten zu überbieten versuchten.
Wer es, aus alter Gewohnheit oder um das eigene Angebot zu verbessern, trotzdem wagt, Neuheiten vorzustellen, der reduziert deren Zahl oder vertraut auf die bekanntesten Namen. Sie sollen für den dringend nötigen Markterfolg sorgen. Was zu der nüchternen Feststellung führt: Eine geringere Zahl hektisch zusammengezimmerter Prototypen, von denen ohnehin immer nur wenige in Serie gingen, tut der Branche durchaus gut. Und was die Stars der Szene angeht, so bietet der Jahrgang 2013 besonders jenen eine Chance, die schon immer daran gearbeitet haben, ein Produkt präzise und bis zur Serienreife zu entwickeln, statt auf oberflächliche Wirkung zu setzen. Anders ausgedrückt: Dass die zur Überhitzung neigende Branche in Krisenzeiten zu Einschränkungen gezwungen ist, führt – nicht nur im Sinne nachhaltigen Produzierens – am Ende zu einer Beruhigung, bei der auch für den Konsumenten die positiven Effekte überwiegen.
OMA und die Katze vor dem Fenster
Das Sprichwort sagt: „The first cut is the deepest“. Man durfte also besonders gespannt sein, wenn sich Rem Kohlhaas nach Mailand aufmacht, um seine erste Möbel-Kollektion vorzustellen. Auf den ersten Blick erscheint, was Meister Rem und sein „Office for Metropolitan Architecture“, kurz OMA, unter dem Namen „Tools for Life“ für Knoll International entwickelt haben, überraschend amerikanisch und modernistisch. In den Räumen der Prada-Stiftung wurde opulent und mittels einer – projizierten – Siamkatze vor kühlen Glasfensterfronten in Szene gesetzt, was sich als bewusst kalkulierte transatlantische Mischung aus den Ingredienzen Architektur, Design und Ingenieurskunst erweist. Ins Auge springen mächtige zylindrische Teleskopfüße, auf denen kistenförmige Sessel, vor allem aber massive Platten aus Plexiglas oder Travertin ruhen, deren Höhe mittels eines roten Knopfes nach Bedarf gesteuert werden kann. („You Press the Button, We Do the Rest“ lautete schon Ende des 19. Jahrhunderts der Slogan des Kodak-Gründers George Eastmanauch wenn sich das damals auf den Entwicklungsprozess von Fotografien bezog.) Man muss es OMA schon lassen, sein motorgetriebener Modernismus entfaltet eine eigene Faszination, nicht nur, weil sämtliche Teile eine ganz eigene Synthese aus Arbeiten und Wohnen formulieren. Ästhetisch erinnern die Teleskopfüße an die modernen Zeiten solider Mechanik, aber eben auch an die hydraulischen Extremitäten der „Walking City“, die Archigram 1964 für eine Menschheit entworfen hat, die samt ihrer Wohnstatt als Reisearbeiter unterwegs ist.
Monoblock und Kommunikationstheke
Dass man Interaktivität und Variabilität in Rotterdam aus der Moderne heraus weiterdenkt, demonstriert besonders ein Element der Kollektion: Der „04 Counter“ besteht aus drei langrechteckigen, monolithischen Elementen, die zunächst eine Art Theke bilden. Da die beiden oberen Elemente zur Seite gedreht und fast beliebig gegeneinander verschoben werden können, wird aus dem Monoblock schnell eine Bank, eine Ablage oder ein Sitzmöbel. Was eben noch wie ein Klotz im Raum erscheint, wird mit einem Griff zu einem kommunikativen Zentrum, das man sich einrichtet, wie es einem gefällt. Nimmt man den Counter symbolisch, so demonstriert er spielerisch die Transformation einer erstarrten Modernität in ein „Tool“, das kommunikativ und sozial genutzt werden kann.
Dass berühmte Architekten im Design nicht per se reüssieren, zeigt ein anderes Beispiel. Der „Dream Chair“, ein Wipp- oder Schaukelsessel, den Tadao Ando für Carl Hansen & Son entworfen hat, bleibt nicht nur funktional hinter den Erwartungen zurück. Mag er frontal betrachtet auch als Bild bestechen, so sind weder der Fuß noch die Verbindung zwischen Fuß und Sitzschale überzeugend gelöst.
Ruhesessel, groß und fein
Wer heutzutage einmal nicht arbeitet, der scheint sich vorzugsweise in einem Lounge Chair zu entspannen. Zumindest scheinen das Hersteller und Designer zu glauben. Wo Sofas inzwischen wieder kubisch und nach historischen Mustern aus den 1950er und 1960er Jahren gestaltet werden – man schaue sich, um einige Beispiele herauszugreifen, „Bruce“ (Ludovica + Roberto Palomba) bei Zanotta, „My World“ (Philippe Starck) bei Cassina, „Larsen“ bei Verzelloni, ja sogar „Standard“ (Francesco Binfaré) bei Edra oder „Westhausen“ (Ferdinand Kramer) bei e15 an –, da gewinnt der gute alte Ruhesessel plötzlich neue Qualitäten hinzu und entwickelt sich immer mehr zu einem unverzichtbaren Möbelstück. Wie man das macht, hat vor wenigen Jahren erst Vitra mit Antonio Citterios „Grand Repos“ demonstriert. Nun fügt Jaime Hayon, der sich immer mehr zu einem Meister raffiniert-klarer Formen entwickelt und dem mit dem „Lounger“ für BD Barcelona bereits 2009 eine erfrischte Version des Klassikers der Eames gelungen ist, ein beachtenswertes Exemplar hinzu.
„Ro“, was auf Dänisch nichts anderes als „Ruhe“ heißt, ist ein Eineinhalb-Sitzer, den Hayon für Fritz Hansen und das entspannte Sitzen entworfen hat. Die Rundungen der Schale geben sich so sinnlich wie Oskar Niemeyers Architektur, erscheinen dabei aber weder aufdringlich noch manieristisch überzogen. Ihre Eleganz schmeichelt dem Auge, Breite und Polsterung versprechen Komfort, die Farben der Stoffe bleiben wohltuend zurückhaltend und, so wird uns versichert, der Sessel ist bei hoher Qualität obendrein noch recht preiswert. Wer weiß, vielleicht wird aus „Ro“ ja ein neuer Klassiker. Vor Arne Jacobsens legendärem „Egg-Chair“, den Fritz Hansen ebenfalls im Programm hat, muss sich Hayons eigenständige Kreation jedenfalls nicht verstecken. Wer den „Ro“ vor Augen hat, für den wirkt Patricia Urquiolas „Clarissa Hood“ (Moroso) wie eine Pflichtübung.
Clubsessel, klein und fein
Wer die Beine nicht hochlegen, lesen, dösen oder fernsehen möchte, oder schlicht wenig Platz zur Verfügung hat, der wird sich eher bei kleinen Sesseln umschauen. Schon im vergangenen Jahr war zu bemerken, das handliche Format des Clubsessels hat Konjunktur, ob zur Ergänzung eines vorhandenen Sofas, als Gesprächsinsel im Wohnraum oder einfach als komfortable Alternative. Entsprechend groß ist die Zahl runder, rechteckiger, schalenförmiger Exemplare auf festem Fundament, drei- oder vierbeinigen Drehgestellen. Kein Wunder also, wenn Vitra dem „Grand Repos“ nun den „Petit Repos“, ebenfalls gestaltet von Antonio Citterio, zur Seite stellt. Es braucht nicht viel Fantasie um sich vorstellen, dass der kleine, feine Edelmann mit seinen kessen „Ohren“ die Hotel-Lobbys dieser Welt erobern wird.
Bei Walter Knoll, wo man ohnehin einige solide oder pfiffige Exemplare im Programm hat, heißt der Neue „Haussmann 310“. Entworfen wurde er schon 1962 von den Schweizer Architekten und Designern Trix und Robert Haussmann, die sich explizit einem „kritischen Manierismus“ verschrieben haben. Auch wenn der „310“ mit seiner aufgeständerten halbrunden Form und einer Knopfpolsterung à la Chesterfield handwerklich veredelt auftritt, so greift er doch scheinbar verloren gegangene Traditionen auf und interpretiert sie – durchaus verschmitzt und selbstironisch – im Geist der Gegenwart. Und dann gibt es auch noch Konstantin Grcics „Traffic“ (Magis), auch wenn sich hinter dem Namen eine ganze Serie inklusive Ruhesessel verbirgt. Und, im Ansatz ganz und gar anders, „That“ (e15) von Stefan Diez. Doch davon später mehr.
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