Die Architekturbiennale ist vor allem eines: sehr, sehr groß. Wer sich einen ernsthaften Überblick über alles verschaffen möchte, was im Arsenale, in den Giardini und an verschiedenen Orten in der Stadt gezeigt wird, muss allein dafür wohl zwei Tage einplanen – und könnte erst am dritten Tag beginnen, sich die vielversprechendsten Ausstellungen noch einmal gezielt und mit mehr Ruhe anzuschauen. Hier sind ein paar Tipps für einige der sehens- und bemerkenswerte Ausstellungen jenseits der von Aravena kuratierten Schau „Reporting from the Front“. Gewissermaßen eine „Grand Tour“ zu den Länderbeiträgen dieser Biennale.
Albanische Gesänge, kroatische Nischen und ein irisches Raumschiff
Am Ende der Hauptausstellung gehen auf dem Gelände des Arsenale die neun Meter hohen Hallen der Corderie in die deutlich flacheren Räume der Artiglierie über. Dicht an dicht liegt hier in einer ganz eigenen Geographie Albanien neben Kuwait, Bahrain und Mazedonien – als wäre der Atlas für die Architekturbiennale einmal kräftig durchgeschüttelt worden. Albanien hat sich einen halben Raum mit durchsichtigen PVC-Streifen abgetrennt, auf seltsam archaischen Kunststoff-Hockern von Max Lamb kann man der Audio-Installation „I Have Left You the Mountain“ lauschen. Zehn Künstler und Theoretiker wurden eingeladen, für die Ausstellung einen persönlichen Text über das Auswandern, über die Fremde und die Heimat zu schreiben – darunter Yona Friedman, Anri Sala und Yanis Varoufakis. Diese Texte wurden dann als iso-polyphonischer Gesang vertont, eine traditionell albanische Gesangsform, die seit 2005 auf der Unesco-Liste des immateriellen Welterbes steht. Architektur findet hier zwar keine statt, aber wenn man durch die Folie hindurch die Gesichter der hektisch vorbeihastenden Architekten beobachtet und dabei den kräftigen, albanischen Männerstimmen zuhört, kann man das als durchaus angenehm empfinden. Tatsächlich waren manche Hörer hier so ergriffen, dass Tränen gerollt sind – bei Sternberg Press ist der Katalog mit einer ziemlich hippen Vinylscheibe erschienen.
Wem ein Gebäude aus Stimmen zu wenig konkrete Architektur ist, dem sei wenige Meter weiter der Beitrag Kroatiens empfohlen. Der sieht zwar mit seinem groß an die Wand geschriebenen Titel „We Need It, We Do It“ erstmal wie die Werbebotschaft eines Sportschuhherstellers aus und verschreckt viele Besucher durch eine ziemlich unübersichtliche Kleinteiligkeit. Wer sich davon aber nicht abschrecken lässt, dem offenbart sich das Ganze als kluge Ausstellung über die Umnutzung dreier Gebäude in Zagreb, Rijeka und Split. Was zunächst wie Regale voller Fundstücke aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als in die schwarzen Wände geschnittene Innenräume der drei Gebäude, in denen die neue Nutzung der Bauwerke in einer Mischung aus Fundstücken, Collagen und Zeichnungen wie in einem Setzkasten illustriert wird. So gelingt es, die Außenwirkung der Architektur hier komplett auszublenden, um sich stattdessen auf die „soziale Praxis“ der Umnutzung zu konzentrieren: Das ist eine gelungene Darstellungsweise und macht dann auch in der Kleinteiligkeit großen Spaß.
Wer nun eine Pause braucht, schaut sich die irre Installation der Iren an. 16 Beamer wurden hier senkrecht in den Raum gehängt und mit gelben Spanngurten so befestigt, dass sie fast wie ein Raumschiff wirken. Hastig werden hier Zeichnungen auf den Boden des Raums gekritzelt, und die gerade gezeigten immer wieder überschrieben. Eine eindrucksvolle Installation, denn es geht bei „Losing Myself“ um Architektur für Demenzkranke. Die Raumwirkung der Installation bleibt hier allerdings für sich, denn die dahinter stehende Untersuchung über das räumliche Verhalten von Alzheimerpatienten lässt sich nur schwer durchdringen.
Selbstbau in Mexiko, Typenbau in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kopien aus London und ein seltsames Schiff aus Istanbul
Gegenüber der Artiglierie und etwas abseits des Rundgangs, steht der Sale d’Armi. Im Erdgeschoss zeigt Mexiko seinen Beitrag „Unfoldings and Assemblages“. Die Kuratoren hatten landesweit nach guten Beispielen für eine Architektur ohne Architekten gesucht, nun präsentieren sie Häuser, Siedlungen und Bautechniken, die vor allem durch mündliche Weitergabe überliefert wurden oder durch kreative Verwendung handelsüblicher Standardelemente auffallen. Es ist eine Ausstellung des Do-It-Yourself von ungelernten Arbeitern, die sich den Traum vom eigenen Haus erfüllen – woraus manchmal sogar kleine Handbücher entstanden sind, wie man Häuser baut. Eine Ausstellung, die für dieses Thema vielleicht sogar ein wenig zu schick gestaltet wurde und ebenfalls sehr voll ist – auf den Tischen kann man sich in Fotos, Plakaten, Texten verlieren.
Deutlich aufgeräumter präsentieren sich die Vereinigten Arabischen Emirate direkt daneben, deren Ausstellung während der Eröffnung immer wieder komplett von Sicherheitsleuten geräumt wurde, um offensichtlich hochrangigen Staatsgästen Platz zu schaffen. „Transformations“ aber ist absolut sehenswert. Die Schau konzentriert sich auf eine bestimmte Haustypologie, das „Emirati National House“, ein recht komfortables Hofhaus, mit dem seit den 1970er-Jahren die Bevölkerung sesshafter gemacht werden sollte. Ganz wunderbar wird dieses politische Programm einer Verstetigung des Wohnens – also einer Urbanisierung der Gesellschaft – anhand der Modifikationen dieses Standardhauses über die Jahrzehnte hinweg erzählt – wie das Haus immer größer, komfortabler und individueller wurde, bevor es mehr und mehr an Bedeutung verloren hat.
Noch mehr große Gedanken gibt es einen Raum weiter in der „World of Fragile Parts“ des Londoner Victoria & Albert Museums. Hier geht es um die Kunst des Kopierens, verbunden mit den Fragen des Bewahrens. Das wird einerseits anhand der eigenen Abguss-Sammlungen des 19. Jahrhunderts verfolgt, andererseits durch Beiträge von Sam Jacob oder Eyal Weizman für unsere hochtechnologisierte Gegenwart hinterfragt. Wenn wir mit den neuesten 3D-Druckern alle Objekte scannen und kopieren könnten – sollten wir das tatsächlich tun, um diese Objekte für kommende Generationen zu bewahren? Was bedeutet „Original“ im Zeitalter seiner fast mühelosen Reproduzierbarkeit? Und: Nach welchen Kriterien suchen wir aus, was in Kopie bewahrt werden soll?
Wer nun eine Gedankenpause braucht, der findet sie beim türkischen Beitrag. Die beruhigende, raumgreifende Installation besteht aus Fundstücken einer ehemaligen Schiffswerft und soll auf die historischen Verbindungen der osmanischen und der venezianischen Seemächte verweisen. Und dann heißt das Schiff auch noch „bastarda“. Hübsch. Thematisch völlig unabhängig davon flimmern auf einigen Bildschirmen Werbefilme zu den neuesten Stadtentwicklungsgebieten Istanbuls. Hätte es zum Thema „Reporting from the Front“ aus der Türkei wirklich nichts Spannenderes gegeben?
Alles so schön voll hier: Dänemark und Südkorea
In den Giardini muss man die Hartnäckigkeit der Dänen einfach bewundern. Die sind bereits bekannt – manche sagen: berüchtigt – für immer wieder gewaltige Ausstellungen, die vor lauter Superbeispielen der neuesten dänischen Architektur aus allen Nähten platzen. Mit „Art of Many“ setzen die Dänen in diesem Jahr aber noch eins drauf, haben sie doch in ihrem sowieso schon ziemlich geräumigen Pavillon mit Gerüsten noch eine weitere Ebene eingezogen, um noch mehr Projekte zeigen zu können. Stolz verkündet der Pressetext: „Die Ausstellung zeigt nicht die Arbeit eines einzelnen, sondern von mehr als 70 Architekturbüros.“ Okay, ich gebe auf und fange gar nicht erst an, mich auf einzelne Projekte zu konzentrieren, sondern deute das als Installation: als Wunderkammer voller seltsamer, fein gearbeiteter, aber letztlich fremder Objekte, deren Sinn mir im Einzelnen verborgen bleibt. Als solches ist das Gesamtbild des dänischen Pavillons aber wunderschön.
Ziemlich ausgefüllt ist auch der Pavillon Südkoreas. Durch die klare thematische Sortierung fällt es hier freilich leichter, sich hineinzuwühlen, denn hier geht es um genau das: um die zunehmende Dichte in den Städten der südlichen Halbinsel. „The FAR Game“ zeigt, wie Architekten und Investoren immer neue Gebäude entwickeln, die nur eines im Schilde führen: noch mehr Fläche anbieten zu können. „FAR“ steht dabei für „Floor-Area-Ratio“. Gerade auf dieser Biennale, die so viele Beiträge zum ländlichen, handgemachten Bauen präsentiert, ist das ein immens wichtiger Hinweis auf die „Front“ in den wachsenden Städten unserer globalen Gegenwart.
Abhängen am Pool, Klauen für Uruguay
Wer nun wieder eine Pause gebrauchen könnte, kann im australischen Pavillon die Füße in ein großes Wasserbecken baumeln lassen und in einer ausgelegten Zeitung über die australische Pool-Kultur schmökern. Den meisten Spaß hatten aber wohl die Kuratoren Uruguays, in deren Pavillon ein Loch im Boden klafft, neben dem ein frischer Erdhaufen liegt. Die dürftigen Wandtexte sagen, dass sowohl die Guerilla der Tupamaros als auch die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in den Anden, die sich zwei Monate lang im Wrack einrichten mussten, ihre Umwelt mit geringsten Mitteln effizient verändert haben. „Wir werden verstehen, was Architektur für uns ist, wenn unser Leben davon abhängt“, steht dazu an der Wand. Okay, aber warum konnten sich dann während der Eröffnungstage Freiwillige am Pavillon melden, die dann eine stinkende Plastikplane übergeworfen bekamen, von der behauptet wurde, es handele sich dabei um eine Tarnkappe? Unsichtbar geworden, sollten diese Freiwilligen losziehen, um Objekte aus den Ausstellungen der anderen Länder zu stehlen – diese wurden dann gesammelt, beschriftet und säuberlich archiviert. Das Diebesgut soll später nach Montevideo gebracht werden, um dort daraus eine Ausstellung über die Biennale in Venedig zu machen. In Sachen Skurrilität konnten es dieses Jahr nur die Rumänen mit dem Beitrag Uruguays aufnehmen, deren interaktives Holzpuppentheater „Selfie Automaton“ bliebt allerdings in der Kategorie „kriminelle Energie“ deutlich hinter den Uruguayern zurück.
Die Moderne in Venedig
Jenseits der großen Ausstellungsareale liegt die Stadt, und neben dem portugiesischen Pavillon, den wir an anderer Stelle ausführlich beschreiben, ist es dort insbesondere zwei Beiträgen gelungen, die Architektur selbst zum Erlebnis beziehungsweise zum Ausstellungsgegenstand zu machen.
Die drei baltischen Staaten, die sich erstmals gemeinsam präsentieren, haben eine große, brutalistische Dreifachsporthalle direkt neben dem Haupteingang des Arsenale entdeckt, den „Palasport Arsenale“ von Enrichetto Capuzzo aus dem Jahr 1977. Die Halle ist eine wirkliche Entdeckung und einen Moment lang hält man den Atem an, wenn man aus der engen Gasse an der gestuften Betonfassade entlang gelaufen ist und über ein paar Stufen durch die relativ kleinen Türen in die hohe, weitgehend geschlossene Halle tritt. Die Kuratoren beschreiben das treffend als „eine Lichtung in der dichten, historischen Stadt“. Unter den beiden Seitentribünen liegen weitere Sportfelder, die auch während der Ausstellung in Betrieb sind und so den Raum mit längst vergessenen, aber vertrauten Sportunterrichtsgeräuschen füllen, während man die in der Halle verstreuten Objekte studiert. Schade, dass sich die Ausstellung damit begnügt, eine große Menge unsortierter Objekte, Materialien, Pläne und Fotografien auszulegen und den Besucher mit deren Einordnung weitgehend allein lässt. Irgendwo soll darin das Thema stecken, wie sich aus den Gebäuden und staatenübergreifenden Infrastrukturplanungen (Gasleitungen, Flughäfen, Bahnlinien, Straßen) eine transnationale, regionale Identität der drei baltischen Staaten erkennen lässt – was sicher ein aufregendes Thema wäre, wenn man es denn aus der Ausstellung heraus nachvollziehen könnte. So bleibt, eher unbeabsichtigt, das Gebäude selbst der Star.
Der „Unfolding Pavillon“ auf Dorsoduro hingegen entpuppt sich als gekaperte Ferienwohnung in dem beeindruckenden Nachkriegs-Palazzo „Casa alle Zattere“, der erstmals seit seiner Fertigstellung 1958 zumindest partiell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Diese modernisierte Neuinterpretation der historischen Palazzi Venedigs hatte in den 1950er- und 1960er-Jahren einige Aufregung verursacht, die von den beiden Kuratoren Davide Tommaso Ferrando und Daniel Munteanu als „kuratiertes Archiv“ aufgearbeitet wurde und nun auf der Webseite und in einer zum Ende der Biennale geplanten Publikation präsentiert wird. Die wunderbar leichte, privat organisierte Pop-Up-Ausstellung war nur sechs Tage lang in der Wohnung zu sehen; eingeladene Künstler und Architekten hatten in den Räumen kleinere Installationen aufgebaut, in denen sie Elemente oder die Geschichte des Gebäudes aufgegriffen haben. Der „Unfolding Pavillon“ soll zur Serie werden, die immer wieder am Rande von großen Architekturveranstaltungen bestimmte Häuser öffnet, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten – für die nächste Biennale in zwei Jahren haben die Kuratoren bereits ein Gebäude im Auge.
Am Ende dieser „Grand Tour“ durch die enorme Vielfalt der gebotenen Ausstellungen, die uns ferne Architekturen als Dokumentation, Analyse oder Installation vor Augen führen, ist es doch so simpel wie wohltuend: es kann die Eindrücke nicht ersetzen, wenn wir dann die echte Architektur in all der Alltäglichkeit erleben und durchschreiten können, wie es uns auch der portugiesische Beitrag auf Giudecca ermöglicht, den wir an anderer Stelle ausführlich beschreiben.
15. Architekturbiennale Venedig
bis zum 27. November 2016
Mehr Informationen zu den Beiträgen:
Albanien: I Have Left You the Mountain
www.albanianpavilion.com
Kroatien: We Need It, We Do It
http://we-need-it-we-do-it.org
Irland: Losing Myself
www.losingmyself.ie
Vereinigte Arabische Emirate: The Emirati National House
nationalpavilionuae.org
V&A London: World of Fragile Parts
www.vam.ac.uk
Dänemark: The Art of Many, The Right to Public Space
www.dac.dk
Südkorea: The FAR Game
www.korean-pavilion.or.kr
Australia: The Pool
wp.architecture.com.au/venicebiennale
Rumänien: Selfie Automaton
www.youtube.com/watch?v=vHHXO1ntNwc
The Baltic Pavillon: The Baltic Atlas
www.balticpavilion.eu
The Unfolding Pavilion:
www.unfoldingpavilion.com