Foto © Alvar Aalto Museum, Eino Mäkinen
Man hat sich daran gewöhnt, in Alvar Aalto (1898 bis 1976) den Vertreter einer „humanen Moderne“ zu sehen – als ob im Umkehrschluss Mies van der Rohe oder Le Corbusier inhumane Monster gewesen wären und „die“ Moderne überhaupt eine unmenschliche Veranstaltung. Nun wird jeder, der sich mit dem Werk eines Architekten und Designers und dessen über Jahrzehnte verlaufender Entwicklung beschäftigt, die Erfahrung machen: Umso genauer man sich Entwürfe, Pläne, Modelle und Bauten ansieht, je tiefer man in das weitverzweigte Netz aus Beziehungen zu Kollegen, Mitarbeitern, Auftraggebern, Herstellern, Künstlern und Wissenschaftlern eindringt, desto kleinteiliger wird das Gesamtbild. Wo ein differenziertes Bild gezeichnet werden soll, helfen pauschale Einordnungen nur wenig. Das gilt auch für den finnischen Architekten und Designer Alvar Aalto.
Seit den Feierlichkeiten zu Aaltos 100. Geburtstag im Jahr 1998, die unter anderem das Museum of Modern Art (MoMA) in New York mit einer Ausstellung und einem Katalog unter dem Titel „Between Humanism and Materialism“ beging, wurden, auch durch das Engagement der Alvar Aalto Foundation, zahlreiche Aspekte des Schaffens des „Magus des Nordens“ (Siegfried Giedion) beleuchtet, die bislang übersehen oder nicht ausreichend berücksichtigt worden waren.
Auch was das Konzept der Ausstellung „Alvar Aalto – Second Nature“ im Vitra Design Museum in Weil am Rhein angeht, hat man sich eine Menge vorgenommen. Jochen Eisenbrand, der Kurator der Schau, hat sich nicht für das Naheliegende entschieden. Angeregt und unterstützt von Eeva-Liisa Pelkonen und deren Studie „Alvar Aalto. Architecture, Modernity, and Geopolitics“, wird deshalb versucht, der kanonisierten Lesart von Aaltos Schaffen weitere, zum Teil überraschende Aspekte hinzufügen. Auch wenn – wie in solchen Ausstellungen üblich – dem Architekten Aalto der Designer gleichberechtigt an die Seite gestellt wird.
Nicht allein die Natur war sein Lehrmeister
Kurz gesagt sind es vor allem zwei Aspekte, die das übliche Bild erweitern und besonders ins Auge fallen: Aaltos Werk ist keineswegs allein von der Natur Finnlands und von organischen Formen inspiriert, die offensichtlich die Natur nachahmen. Sicher, der Umriss von Aaltos „Savoy-Vase“ etwa erinnert zuallererst an die Form eines finnischen Sees. Doch mit derartigen Assoziationen ist es bei weitem nicht getan. Vielmehr bezog Aalto viele seiner Ideen und Formen aus intensiven Beziehungen zu Künstlern wie László Moholy-Nagy, Alexander Calder und Fernand Léger, aus der Auseinandersetzung mit den in den 1920er und 1930er Jahren aufblühenden Medien Fotografie und Film und neuartigen Fertigungsmethoden und Standardisierungsprozessen. Aaltos zu Recht gerühmte Räume sind im Ergebnis also ebenso eine von Naturmetaphern geprägte Reaktion auf aktuelle kulturelle Entwicklungen. Der Raum erscheint insofern als ein multisensorisches Areal, bei dessen Gestaltung Aalto nicht nur die Natur des Menschen und dessen Sinnesorgane einbezogen hat, sondern auch auf neue Medien, einen Wandel der Produktionsmethoden und historisch-politische Umbrüche reagierte.
Was die Darstellung von Aaltos Bauten in der Ausstellung angeht, so stellen Armin Linkes Farbfotografien zweifelsohne eine Bereicherung dar – auch wenn man sich diese im Kontrast zu Möbeln und Modellen in größerem Format gewünscht hätte. Obwohl Linkes Aufnahmen die Gebäude in ihrer Massivität weniger vergegenwärtigen als bestimmte Details zu repräsentieren, so zeigen sie doch erhellend auf, wie sich Aaltos Architekturen auf den Verlauf und die prägenden Strukturen der sie umgebenden Landschaft einlassen, wie sie Innen- und Außenraum miteinander verschränken, mit einfallendem natürlichem Licht spielen und Durch- und Ausblicke präzise organisieren. Indem Linkes fotografische Annäherung das Gebaute gleichsam abtastet, erkennt man: Nie geht es Aalto darum, Bereiche abzugrenzen, sondern fließende Übergänge zu schaffen, „gewachsene“ Strukturen und Formen im Gebauten und dessen Gebrauch mitschwingen zu lassen, ja, den gebauten Raum selbst dann noch als Echo der Umgebung zu begreifen, wenn der Baukörper kubisch als Widerpart der Natur auftritt.
Bauen mit, nicht gegen die Natur
Aalto baut nie gegen, immer mit der Natur. Legendär sind seine geschwungenen Decken, die das Organische anstelle des Konstruktiven betonen. Konkret halten sie die atmosphärische Energie gleichsam im Raum fest, indem sie den Blick abbremsen, in und auf den Raum zurücklenken. Gleichsam exemplarisch lässt sich das im Maison Louis Carré beobachten. Oder in der Villa Mairea in Noormarkku, in der Aalto die Gliederung des Blicks und des Raumempfindens mittels runder, vertikaler Holzstäbe einem lichten Waldstück nachgebildet hat. Daran wird deutlich: Aaltos biedert sich der Natur nicht an, strebt aber danach, das Rational-Konstruktive als ein Grundzug der Moderne mit dem Organisch-Naturhaften zu versöhnen.
Linkes Fotografien sind – auch wenn sie lediglich Annäherungen sein können – umso mehr als Mittel der Erkenntnis gebauter Architektur gerechtfertigt, als sie aufgreifen und fortsetzen, was Aalto selbst in den 1920er und 1930er Jahren umtrieben hat und was sich besonders in seiner Neugier auf die Experimente seines Freundes László Moholy-Nagy in Fotografie und Film zeigt. Mit Blick auf Le Corbusier hatte Siegfried Giedion, mit dem Aalto in enger Verbindung stand, 1928 festgestellt: „Nur der Film kann neue Architektur fassbar machen.“ Auch Moholy-Nagys während der 1920er Jahre durchgeführte Experimente mit dem sogenannten „Licht-Raum-Modulator“ scheinen nicht ohne Wirkung auf Aalto geblieben zu sein.
Mit den Debatten der Avantgarde vertraut
Aalto war aber gegenüber neuen Medien keineswegs allein als Mittel zur Erschießung und Vermittlung von Architektur aufgeschlossen, er war, wie Jochen Eisenbrand betont, gemeinsam mit seiner Frau und Mitstreiterin Aino, auch selbst am Wandel beteiligt, „vom Theater- und Bühnenbildentwurf bis zur Planung von Kinogebäuden, von eigener Fotografie im Stil der Neuen Sachlichkeit bis zur Zusammenarbeit mit führenden Fotografen, vom Interesse am Film bis hin zur Organisation des ersten finnischen Filmclubs.“ Die Beschäftigung mit urbanen Massenmedien, dem Kino- und Theaterraum lieferte also wichtige Impulse für Aaltos „Embodied Rationalism“, der rationale Bauweise und Funktionalität mit Raumwahrnehmung und Raumempfinden verschmelzen lässt. Über die CIAM-Kongresse, Moholy-Nagy und Giedion war Aalto bestens mit aktuellen Tendenzen und den Debatten der Avantgarde vertraut. So fotografierte Aino Aalto um 1930 den Schornstein des „Turun Sanomat“-Gebäudes ihres Mannes in Stil und Perspektive der aktuellen künstlerisch-avantgardistischen Fotografie.
Aalto, auch das sucht die Ausstellung herauszuarbeiten, war Zeit seines Lebens der Kunst der Moderne zugetan und über befreundete Künstler wie Alexander Calder, Fernand Léger und den bereits erwähnten László Moholy-Nagy persönlich eng verbunden. Anders als bei Le Corbusier trat Aalto allerdings selbst nie als Künstler in Erscheinung. Auch wenn sich in seinem Werk keine direkten Verbindungen zwischen Kunst und Architektur ausmachen lassen, so hat Aaltos Biograf Göran Schildt doch auf einige formale Bezüge hingewiesen, die er auf ein „tiefes Verständnis für Cézannes Raumkonzeption“ zurückführt. Der Blick auf Aaltos Beschäftigung mit moderner Kunst erscheint also unumgänglich, will man dessen besondere Stellung innerhalb der Moderne verstehen.
Auch die Gründung von Artek im Jahr 1935 – das Typoskript des Gründungsmanifests kann in Ausstellung bestaunt werden – diente nicht allein dem Zweck, den Vertrieb von Aaltos Möbeln zu organisieren. Von Beginn an gehörten auch Ausstellungen von Kunst, Kunsthandwerk und Fotografie zum Programm sowie die Herausgabe von Publikationen und einer Fachzeitschrift. So zeigte die Galerie unter anderem die erste Ausstellung mit Werken von Calder und Léger in Finnland. Artek verstand sich also ebenso als Vertriebsorganisation wie als „Standartenträger des Geistes der Moderne“ und als Bildungsorganisation.
Formen wandern lassen
Zu den Besonderheiten im Schaffen Aaltos gehört es auch, dass er seine organisch-geschwungenen Formen von einer Nutzung zur anderen „wandern“ ließ – in der Architektur nicht anders als bei seinen Möbelentwürfen. Das von Stahlrohr- und Holzfreischwingern, etwa dem Stapelstuhl 23 von 1929 und dem Sessel 41 für das Tuberkulosesanatorium Paimo, von Hockern und Beistelltischen eroberte Gebirge aus weißen Sockeln im dritten Raum der Schau macht das nicht weniger deutlich als Aaltos Leuchten und die gleich daneben präsentierten Gläser und Vasen – allen voran die berühmte „Savoy-Vase“.
So vermittelt die Ausstellung dem Besucher nicht nur einen Eindruck von all dem, was Aalto am Ende realisiert hat. Sie öffnet darüber hinaus den Blick auf die Vielschichtigkeit der Überlegungen, Beziehungen und Prozesse, die nötig waren, um zu jener Synthese zu gelangen, die das Werk dieses großen finnischen Modernisten so einzigartig macht. Intensiver noch als es die in der Schau versammelten Dokumente, Pläne, Modelle, Leuchten, Vasen und Möbel auf den ersten Blick zu zeigen vermögen, erkundet das der umfangreiche Katalog. Erst im Netzwerk internationaler Verbindungen wird das Schaffen Alvar Aaltos im Horizont der Moderne fassbar. Schließlich hat er nicht nur Häuser gebaut und Möbel entworfen.
Alvar Aalto. Second Nature
Vitra Design Museum, Weil am Rhein,
bis 1. März 2015
tägl. 10 – 18 Uhr
Katalog, hrsg. v. Jochen Eisenbrand u. Mateo Kris
geb., 688 S., ca. 500 Abb.
deutsche u. englische Ausgabe
69,90 Euro
Begleitend findet ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm statt. Unter den Gästen sind Shigeru Ban, Claesson Koivisto Rune, Front Design, Harri Koskinen, Matthias Sauerbruch und andere. Mehr dazu finden Sie hier.
Foto: Esto Photographics, Ezra Stoller/Esto Photographics Inc., VG Bild-Kunst, Bonn, 2014