Architekturbiennale 2020
Die Vergangenheit von morgen
2023 kommt der Zusammenbruch. Zumindest wenn es nach den Machern des deutschen Beitrages für die diesjährige Architekturbiennale in Venedig geht. Erzählt wird von dieser ökonomischen und sozialen Weltkrise retrospektiv – das ist die Kernidee des Konzeptes, das die Initiatoren Arno Brandlhuber, Olaf Grawert, Nikolaus Hirsch und Christopher Roth vorgeschlagen haben und das von einer Jury unter dem Vorsitz von DAM-Direktor Peter Cachola Schmal einstimmig zur Realisierung ausgewählt wurde.
Im Stil einer Mockumentary wird die Geschichte dieser globalen gesellschaftlichen Kernschmelze und der anschließende Weg aus der Krise in Interviews mit "Zeitzeugen" rekonstruiert. Auch wenn erst ein knapp viertelstündiger Ausschnitt aus der fiktiven Dokumentation auf der Pressevorstellung des Projektes zu sehen war – die erzählte Geschichte konnte bereits, zumindest in ihren Grundzügen, erschlossen werden: Die Weltwirtschaftskrise von 2023 erschüttert den sozialen Zusammenhalt und den Glauben in die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung vollständig. Doch durch weitsichtige Entscheidungen entstehen aus der Krisensituation neue "radikaldemokratische" Regierungsformen und ein neues solidarisches und kooperatives Wirtschaftssystem, das sich nicht vorrangig an Gewinnerzielung orientiert.
Die kurzen Interviewausschnitte ließen bereits eine ganze Reihe von Schlüsselbegriffen anklingen, die in der Erzählung dazu beitragen, den Zusammenbruch zu überwinden: Solidarität, Kooperation, Nachhaltigkeit, Partizipation und Inklusion. Ein herrschaftsfreies Internet und eine digitale Revolution, die nicht von Weltkonzernen gelenkt wird. Künstliche Intelligenz und eine Robotik, die den Menschen ergänzt und nicht ersetzt. Architektur, die öffentliche Räume schafft, die der Verwertungslogik des Marktes entzogen ist und die, statt sich von der Natur zu isolieren, die Natur miteinbezieht.
All das sind Ideen, die bereits heute als Antworten auf die aktuellen Fragestellungen proklamiert werden. Und die "Zeitzeugen" des Jahres 2038, die in den Interviews die segensreichen Auswirkungen beschreiben, die diese Maßnahmen entwickelt haben, sind genau jene Akteure, die die Umsetzung dieser Vorschläge heute fordern. Da sind etwa Francesca Bria, die den Umbau Barcelonas zu einer führenden Smart City betreibt und ihre Kollegin Caroline Nevejan aus Amsterdam. Oder der Internetforscher Evgeny Morozov, der die Nutzung des Internets durch autoritäre Regime untersucht. Die Freeware-Programmiererin Audrey Tang, die kenianische IT-Expertin Juliana Rotich und Internet-Pionier Vint Cerf. Mit ihnen und vielen anderen hat das Biennale-Projektteam Interviews gedreht, in denen sie augenzwinkernd und offenbar mit einigem Vergnügen aus der erfundenen Zukunft zurückblicken.
Die fiktive Zukunft als Ermutigung für heute
Die Kuratoren begreifen das von ihnen erdachte Zukunftsszenario allerdings keinesfalls als Entertainment. Vielmehr geht es ihnen darum, durch ihre Zukunftserzählung dem Hypothetischen die Überzeugungskraft des Faktischen zu verleihen. Das Visionäre soll zum Denkbaren werden. Das ist fraglos ein origineller Ansatz. Die Durchführung des Biennale-Projektes selbst soll dabei übrigens eine Art Anschauungsunterricht sein. Auch das Team selbst versteht sich als offenes System, an das verschiedene andere Gruppen und Einzelpersonen temporär "andocken", um bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Die Macher der Straßenzeitung "Arts of the Working Class" etwa, deren Periodikum den Katalog ersetzt. Auf diese Weise soll Zugänglichkeit für Alle zum Biennaleprojekt geschaffen werden. Das Blatt soll nämlich nicht nur in Venedig, sondern auch in verschiedenen anderen Städten von Obdachlosen vertrieben werden. Außerdem werden die Filme des Biennalebeitrags gleichzeitig mit der Ausstellungseröffnung auch im Internet veröffentlicht werden. Für die Einrichtung des Pavillons arbeitet das "2038"-Team mit der Organisation Rebiennale zusammen, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Überreste vorangegangener Biennalen wiederzuverwerten. So werden etwa die Bänke im deutschen Pavillon 2020 aus des Resten des koreanischen Pavillons auf der Kunstbiennale 2019 gefertigt.
Mag man auch einige dieser Unternehmungen etwas sozialromantisch finden, so sind sie doch eine konsequente Umsetzung der Ideen, die die Kuratoren diskutieren wollen. Der bedenkliche Punkt könnte hingegen ein ganz anderer sein: Noch haben die Macher nicht in Gänze enthüllt, welche Geschichte vom gesellschaftlichen Umbruch sie ersonnen haben. Die Bilder von Straßenprotest und Polizeimacht in Kampfmontur, die während der Pressepräsentation des Projektes im Film zu sehen waren, lassen sofort an die alten linken Erzählungen vom revolutionären Protest gegen eine reaktionäre Staatsgewalt denken. Man möchte sich dringend wünschen, dass sich die Kuratoren im Klaren sind, dass sowohl überkommene links-rechts-Vorstellungen als auch Ideen eines revolutionären Umsturzes untauglich sind, um positive gesellschaftliche Entwicklung anzustoßen. Vielmehr würden sie die bedenkenswerten Überlegungen des Projektes diskreditieren. Gleiches gälte für eine generelle Ablehnung jeder Lenkungsfunktion des Marktes: Mehr denn je werden wir für die Bewältigung der enormen gesellschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen, auf Anreiz- und Belohnungssysteme angewiesen sein.
Im Übrigen scheint sich derzeit hierzulande in weiten Kreisen geradezu Enthusiasmus für den neuen "Überwert" Nachhaltigkeit zu auszubreiten. Die "Fridays for Future"-Proteste werden von weiten Teilen der bürgerlichen Mitte mitgetragen. Längst ist ein besonders nachhaltiger Lebensstil zum Distinktionsmerkmal der Early Adopters und Meinungsführer geworden. Kaum ein größeres Unternehmen, das derzeit nicht großen Aufwand betreibt, um nachhaltiger zu wirtschaften. Es steht also zu hoffen, dass wir im wahren Leben die soziale und ökonomische Kernschmelze überspringen und uns direkt an die Weiterentwicklung zu einer ökologischen und solidarischen, einer kooperativen und inklusiven Gesellschaft machen können. Auf dass wir 2038 mit derselben Gelassenheit zurückblicken, wie die "Zeitzeugen" des Biennale-Projektes.