Die Bilder haben sich weltweit eingebrannt, als Russland unter dem Rauch des Sommers in seiner Lebenskraft gefährdet war. Mütterchen Russland drohte an den Sünden der Vergangenheit zu ersticken, weil es den Wald, die Erze und alle anderen Rohstoffe maßlos ausgebeutet hatte - und es mit dem Erdgas noch immer tut. Einen „indolenten Riesen" hatte es die F.A.Z. genannt, ihm also eine notorische Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen attestiert. Vor diesem Hintergrund aus Wahrheit, Vorurteil und der Hilflosigkeit des internationalen Publikums erzielt der Russische Pavillon auf der venezianischen Architekturbiennale acht von zehn imaginären Punkten auf meiner persönlichen Bewertungsskala. Die Juroren des Goldenen Löwen indes haben diesen Beitrag ignoriert - ein Wermutstropfen für das Wodkareich. Wenn man böswillig ist, dann kann man die perfekte Show aus Ausstellung, Katalog und Film natürlich als aggressive und freche Akquisition gegenüber Projektentwicklern in Russland herunterreden. Doch genau das muss Ziel und Zweck sein: Es muss etwas gegen die Verkommenheit und den drohenden Verlust dieser mediokren Städte im „Nowhere Land" unternommen werden, es müssen Alternativen entwickelt werden - und das geht nur aus einem tiefen Verständnis für die Vergangenheit heraus.
Desillusion - Wer tief fällt, kann wieder aufsteigen
Warum dieser weite Anflug auf die Destination Vyshny Volochok 2.0 im vorbildlich restaurierten russischen Pavillon in den Giardini und der Biennale als dem derzeitigen Gastgeber für die wichtigsten Architektenstatements der Welt? Zusammen mit seinen Kollegen Grigory Revzin und Pavel Khoroshilov kuratiert der deutsch-russische Architekt Sergei Tchoban (Architekturbüros in Berlin, Hamburg, Moskau und Petersburg, wo er 1962 geboren wurde) die diesjährige Ausstellung „Factory Russia - Transformations for Vishny Volochok". Tschoban überfordert und reizt in ähnlicher Ambivalenz seine Besucher wie er in zwei Heimaten lebt. Und er arbeitet dabei mit extremen Gefühlswelten. Das beginnt ganz unten und lässt sich nur damit rechtfertigen, dass man als Architekt und Planer in Russland immer am Abgrund steht und manchmal auch hinunterstürzt.
Und so beginnt der Parcours für die westlichen Besucher mit einer „sentimental journey", für die russischen mit einer ganz und gar nicht schmerzfreien Erinnerung an die sozialistischen Hallen und Fabriken ehedem großer Zeiten. Diese erste der drei Gefühlswelten steht unter dem Titel: Die Zeit ist abgelaufen. Es wird ein melancholischer, morbider Film gezeigt, der von einer großen Uhr markiert ist, die das Wegsinken der alten Immobilien ins Nirgends zeigt. Der 1913 von Aleksey Shchusev entworfene Pavillon ist 2010 vom Architekten Clemente di Thiene komplett restauriert worden. Im Eingangskabinett bedeutete das einen Rückbau auf die rohen Ziegelwände. Das Haus verwandelt sich in eine Bauruine - und seine Wände in den Spiegel einer abgehalfterten Fabrik.
Illusion - im Innern des Leuchtturms
Aber Kurator Tschoban gibt keine Ruhe, weder in der persönlichen Führung, noch mit seinem Konzept. Er führt die Besucher über einige Stufen hinauf, durch eine kleine Tür - ins Licht. Und präsentiert in Form eines 360-Grad-Panoramas das Paradies, das Innere eines Leuchtturms für einen aufstrebenden Urbanismus in Russland. Man kann es auch Baukitsch und Disneyland nennen und es für unverschämt halten, hier die ungenierte Verführungswelt einer heilen Stadt zu entwerfen. Es wäre westlich überheblich. Denn diese so penetrant inszenierte Kluft zwischen gestern und morgen setzt Energien frei und die hat diese ehemalige Textil- und Glasindustriestadt Vydhny Volochok in der Mitte der Schnellbahnstrecke zwischen Moskau und St. Petersburg bitter nötig, weil sie von ehedem 100.000 Einwohner auf die Hälfte geschrumpft ist. Die Stadt existiert etwa seit dem 15. Jahrhundert, liegt an der Wasserscheide zwischen Wolga und Ostsee und wurde unter Peter dem Großen strategisch mit einem Verbindungskanal zwischen zwei Flüssen ausgebaut. Der Name deutet in etwa auf „obere Zollstation" hin. Dem gigantischen Aufstieg im Zaren- und Sowjetreich, folgte der tiefe Fall in der postsozialistischen Zeit, weil der Ort inzwischen fast zur Totenstadt mutiert ist und die Menschen hier zu Wirtschaftsflüchtlingen geworden sind.
Aber die Stadt der Fernpendler soll durch Transformation einer historischen Industrielandschaft zur offenen Stadt des 21. Jahrhunderts werden. Das ist die Botschaft: Das bauhistorische Erbe in einer Konversion für dringend benötigten Wohn- und Bildungsbauten, für Handel und Gewerbe und natürlich die kulturelle Aufarbeitung mittels Museenumsbauten retten. Das passt in diesem Jahr nach Venedig. Die 12. Architekturbiennale will und kann ein Ort der Ein- und Umkehr werden. Für das Große hat Generalkommissarin Kazuyo Sejima aus Japan eine Rückkehr zum Architektonischen vorgeschrieben und in den beiden Teilen ihrer zentralen Ausstellung „People meet in Architecture" dies mit den Waffen einer Frau - also einer Diplomatie, die keinen wirklichen Widerspruch duldet - so konsequent durchgesetzt, dass Nichtmitglieder der architektonischen Community es für Kunst halten.
Lösung - architektonische Pflegemitte für den Patienten
In den Nationenpavillons scheint eine der wichtigsten Botschaften, jene von einem jeweils regionalen Aufbruch mitsamt einer Reflexion der Vergangenheit zu sein. Israel kümmert sich beispielsweise um seine alte, aber erfolgreiche Kibbuz-Idee. Für uns Deutsche ist der Blick zurück keine ganz großartige Neuheit, insbesondere im Ruhrgebiet und in den maroden Industrielandschaften der ehemaligen DDR wird hier seit 20 Jahren entsprechend hart am Thema gearbeitet. Jetzt also in Russland auch. Endlich mag man hinzufügen. Vyshny Volochok soll nach Wunsch der Kuratoren der Prototyp für dreihundert ähnliche Pflegefällen werden, deswegen ist er entsprechend für Venedig vorbereitet worden, statt sonst üblicher Architektenpräsentationen.
Allerdings zeigen auch hier Architekten und Planer ihre Arbeiten für fünf Revitalisierungsprojekte. Zwei von ihnen stammen aus Moskau: Vladimir Plotkin and Sergey Skuratov, zwei aus St. Petersburg: Evgeny Gerasimov and Nikita Yaveyn - und die beiden letzten von SPEECH Tchoban/Kuznetsov, besitzen in beiden Kapitalen ein Büro. Vier ehemalige Fabriken stehen im Fokus, dazu das historische Stadtzentrum. Und im dritten Raum, nach der Rotunde, zeigen die Architekten die Ansätze ihre Entwürfe und beweisen in moderner, immer auch russische Momente des 20. Jahrhunderts zitierender Architektur, was alles möglich ist, wenn man aus Ruinen auferstehen will. Am Ende bildet dieser Raum mit präzisen Architekturzeichnungen die rationalste der drei Gefühlswelten. Sergei Tschoban sagt über den Dreiklang, er hätte sich eben auch zwingend aus dem alten Bauwerk ergeben, und zeigt damit, wie zeitlos arbeitsfähig eben doch die meisten alten Pavillons des Geländes sind, wenn man sich um sie kümmert. Und so wird das Ausstellungskonzept zur guten Parabel für den Patienten Stadt, der hier Vyshny Volochok heißt.
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion