Finnen, das wissen wir seit Aki Kaurismäki, sind anders. Melancholisch, wortkarg und hart im Nehmen. „Die Welt an sich und das Dasein ist sehr traurig", sagt der Filmemacher. Doch der traurige, stets in der Dunkelheit Wodka trinkende Finne, wie man ihn aus dessen Filmen kennt, ist in Helsinki derzeit nur schwer zu finden. Das mag am Mittsommer liegen, einer Zeit, in der es die Menschen nach draußen zieht – in die Straßencafés, Restaurants und Flaniermeilen. Denn im Sommer geht während der „weißen Nächte" die Sonne kaum mehr unter. Auch sonst ist heiterer Aufbruch zu spüren – „Designpääkaupunki 2012" steht bevor. Nach Turin 2008 und Seoul 2010 ernannte der International Council of Societies of Industrial Design die finnische Hauptstadt zur World Design Capital 2012.
Design ist allgegenwärtig in der nördlichsten Hauptstadt Kontinentaleuropas, wie im übrigen Finnland auch. In den meisten Wohnungen findet man Geschirr von Arabia, ein Glas von Iittala oder einen Stoff von Marimekko. Seit über einem halben Jahrhundert steht das östlichste Land Skandinaviens für gute Form, die Funktion mit Ästhetik aufs Schönste paart. Klar, schnörkellos, praktisch ist das finnische Design; die Formen wirken häufig wie ein Echo auf die zahlreichen Seen oder Fichtenwälder des Landes. Und auch wenn heute schon rund ein Fünftel der finnischen Bevölkerung im Großraum Helsinki lebt: Tief im Inneren scheinen die Finnen nach wie vor naturverbunden zu sein.
Das Dreigestirn
Den großen Namen des finnischen Designs begegnet man förmlich auf Schritt und Tritt. Im Zentrum der Stadt funkelt an der Nobelmeile Esplanadi ein Dreigestirn der finnischen Designwelt. Am zentralen Boulevard der Stadt, der aus zwei Straßen und einem Park besteht, residiert der Flagship-Store von Marimekko. Die Marke ist eines der erfolgreichsten skandinavischen Designprojekte der sechziger Jahre. Mit spektakulären Prints wollte Marimekko nach dem Grau der Kriegsjahre Farbe und Fröhlichkeit in jeden Tag bringen. Federführend war die junge Gestalterin Vuokko Eskolin-Nurmesniemi, deren Schnitte nicht weniger radikal waren wie ihre Muster. Die formenreiche Marimekko-Welt bestimmen seit je Streifen, Punkte, geometrische Muster und immer wieder abstrahierte Blumen – und alles in kräftigen Farben.
Etwas weiter Richtung Hafen und Markt liegt der Iittala-Shop. Der Glas- und Geschirrwaren-Hersteller an der Pohjoisesplanadi 25 propagiert mit dem Leitspruch „Gegen die Wegwerfkultur" eine von Grund auf nachhaltige Gestaltung. Das Unternehmen ist weltweit bekannt für seine farbenfrohen Kreationen mit klaren, naturnahen Formen. Iittalas goldene Zeit begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als die beiden jungen Künstler Tapio Wirkkala und Kaj Franck in das Unternehmen eintraten. Sie prägten Iittala mit Entwürfen, die reduziert, schön gestaltet, funktional und für jedermann erschwinglich waren.
Inspiration Natur
Überquert man die Straße und geht durch den Esplanade-Park, steht man an der Eteläesplanadi 18 vor einem weiteren Hersteller klassischen Designs: dem Möbelhersteller Artek. 1935 hatte eine Gruppe junger finnischer Idealisten um den Architekten Alvar Aalto und dessen Frau Aino das Unternehmen gegründet. Ihre Möbel basierten auf Funktionalität, zeitloser Ästhetik und Langlebigkeit. Als Blaupause diente die Natur und ihre Formen. Es waren Aaltos Entwürfe, die den Weg für den „nordischen" Boom der fünfziger Jahre bereiteten. Sein schlichter Hocker „Nr. 60" von 1932 hat sich bis heute rund drei Millionen Mal verkauft. Im vergangenen Jahr erwarb Artek die Rechte an der Kollektion von Ilmari Tapiovaara, eine Wiederentdeckung, denn der Finne war selbst in seiner Heimat für lange Zeit in Vergessenheit geraten. Seine Entwürfe wie den Windsor-Stuhl „Mademoiselle" von 1956 gilt es nun neu zu entdecken.
Dies wird Alvar Aaltos Vorherrschaft nicht schmälern. Der genialische Architekt und Designer ist in Finnland omnipräsent: Er baute die Finlandia-Halle, stattete das elegante Café in der Akademischen Buchhandlung aus und errichtete das Gebäude der Nordischen Bank an der Esplanade. Wer einen der bekanntesten Entwürfe des Vaters des finnischen Modernismus bewundern möchte, der reserviert am besten einen Tisch im Hotel Savoy. Neben Möbeln entwarf Aalto 1936 für das Restaurant auch die berühmte „Savoy Vase". Nach Aaltos eigener Aussage ließ er sich dabei von der Form einer Pfütze inspirieren. Aber auch die Seen des Landes mit ihren geschwungenen Ufern lieferten ihm ein Vorbild für die fließenden Linien. Neuerdings gibt es für Naturverbundene wieder eine spezielle Variante, die in einer Holzform geblasen wird, was der Oberfläche eine leichte Struktur verleiht. Die von Iittala produzierte Vase ist im Land der Tausend Seen heute ebenso bekannt wie das Nationalwappen.
Der Design District
Doch Helsinki erstarrt nicht in der Ehrfurcht vor den Altmeistern. Nicht weit von Dom, Markt, Senatsplatz und Esplanadi entfernt liegt der neue Design District. Im Stadtteil Punavuori schlägt das kreative Herz der jungen Szene. Rund um die Uudenmaankatu warten rund 190 Läden, Boutiquen, Galerien, Restaurants und Clubs auf den Besucher. Eines der Highlights ist der Shop von Ivana Helsinki. Das Independent-Label kombiniert seit 1998 Kunst und Mode auf poetische Weise. Die Modemacherin Paola Ivana Suhonen will Geschichten erzählen, und so prägen außergewöhnliche Prints ihre klaren Schnitte – mal tummeln sich Schmetterlinge, mal Rehe, mal Motten auf den Kleidern. „Fennofolk" nennt Paola Ivana Suhonen ihren Stil, der skandinavische Elemente mit slawischen mischt. Im vergangenen September war mit Ivana Helsinki erstmals ein finnisches Modelabel auf der New York Fashion Week vertreten.
Die junge Modeschöpferin ist charakteristisch für das neue finnische Design. Von seiner Randlage aus bewegt es sich in Richtung von Europas Mitte. Wenn die Designwelt nicht zu uns kommt, dann gehen wir eben hinaus in die Welt – so könnte das Motto lauten. Die neue Designgeneration steht am Start und sie wird ganz bewusst von Pekka Timonen, dem Direktor der Designhauptstadt Helsinki 2012, gefördert. So erhielt etwa die Designgruppe Kokoro & Moi den Auftrag, das Corporate Design für das Großereignis zu gestalten. Sie ersann ein Design, das bunt, verspielt und offen sein will. Denn Offenheit ist das wichtigste Schlagwort derzeit in Helsinki.
Internationalität statt nordischer Randlage, Kollektiv statt Einzelkämpfertum haben sich viele Jungdesigner, wie das Designkollektiv „Imu", auf die Fahnen geschrieben. Die drei Frauen entwerfen funktionale Möbel, Leuchten und Teppiche, arbeiten aber auch experimentell. Als selbsternanntes „Nationales Designteam" will das Trio aber auch anderen jungen Designern eine gemeinsame Plattform bieten. „Finnland", sagen sie, „ist ein kleines Land, und das Feld des Designs ist begrenzt. Deshalb ist es wichtig, die Kräfte zu bündeln, statt gegeneinander zu kämpfen."
Wettbewerbsfaktor Design
Viele der Kreativen kennen sich ohnehin, haben oft zusammen studiert: Die Aalto-Universität, eine von vier Kunsthochschulen im Land der Mitternachtssonne, liegt in Arabianranta. Der Stadtteil im Nordosten Helsinkis hat eine lange industrielle Tradition: 1873 wurde hier die Fabrik des Porzellanherstellers Arabia gegründet. Hier entstehen nach wie vor Aino Aaltos geriffelte Wassergläser und Kaj Francks legendäres „Teema"-Service. Der ziegelrote Schlot der Arabia-Fabrik hat jedoch mittlerweile ausgedient. Im Dachgeschoss der Fabrik experimentieren Künstler wie die populäre Keramikerin Heljä Liukko-Sundström in ihren Ateliers.
Ein Highlight für Designliebhaber ist – neben der im Zwei-Jahres-Turnus stattfindenden Möbelmesse Habitare – seit 2005 die Helsinki Design Week. Im vergangenen Herbst hat sich die Designwoche mit den Wurzeln der nationalen Geschichte beschäftigt: Finnische Architekturstudenten entwarfen unter Leitung des Architekten Travis Price gemeinsam mit amerikanischen Kollegen die „Wiege der Kalevala". Die Konstruktion aus Holz und Glas beruht auf dem finnischen Nationalepos Kalevala. Die temporäre Installation auf der Insel Seurasaari – halb Boot, halb Hütte – gibt bereits einen Ausblick auf das Großereignis im kommenden Jahr.
Die Finnen sind stolz auf ihr Design. Kreativität gilt zudem als ernst zu nehmender Wettbewerbsfaktor mit Zukunft, etwas, das sich andere Länder erst bewusst machen müssen. Der Titel „Designhauptstadt 2012" gibt ihnen nun eine Chance, sich als kreativer, bunter und weltoffener Standort zu präsentieren. Bis es so weit ist, liegt noch ein kalter, dunkler Winter vor den Gestaltern – also genügend Zeit, um Ideen auszuhecken, mit denen sie die Welt im kommenden Jahr empfangen werden.