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Fleischliche Gelüste: Das „Next Nature Network“ sinniert darüber, welche Möglichkeiten sogenanntes Laborfleisch eröffnet.

Schluss mit lustig

von Fabian Peters | 27.09.2016

„Dies ist vielleicht die erste neue Entwicklung im Niederländischen Design seit 20 Jahren.“ Der dies sagt, muss es wissen: Lennart Booij ist Kurator für angewandte Kunst am Amsterdamer Stedelijk Museum und hat die Ausstellung „Dream Out Loud“ organisiert. Für diese Schau haben Booij und das Stedelijk alle Niederländischen oder in den Niederlanden arbeitenden Designer aufgefordert, Arbeiten einzureichen. Mehr als 350 sind dem Aufruf gefolgt, woraufhin eine Jury 26 Gestalter ausgewählt hat, deren Projekte die Amsterdamer Ausstellung nun zeigt.

Die Arbeiten der 26 Designer sollen dokumentieren, was Booij als die Abkehr vom Design der „flachen Scherze“ bezeichnet. Die junge Generation bewege sich nicht länger in den Fußstapfen von niederländischen Designstars wie Marcel Wanders oder Studio Job, die mit ihren dekorativen und verspielten Entwürfen noch immer international Furore machen. „Social design“ lautet das neue Zauberwort. Die Jungen wollen zunehmend gesellschaftliche Probleme lösen. Ihre Arbeiten sollen nicht mehr in erster Linie ästhetisch, sondern konzeptuell überzeugen. Sie sollen nicht länger „schön“ sein, sondern „gut“. Sie sollen Lösungen oder zumindest Teillösungen aufzeigen für Herausforderungen wie die globale Erwärmung und ihre Folgen, Rohstoffknappheit, Umweltverschmutzung und universelle Ungleichgewichte.

Lennart Booij vermutet mehrere Ursachen für die sich abzeichnende Zeitenwende im niederländischen Design. Zum einen, so glaubt er, spiele hier die Erfahrung der letzten Weltwirtschaftskrise eine Rolle, die viele der jungen Gestalter in einem prägenden Alter erlebt hätten. Hinzu komme, dass in den Niederlanden Designer und Philosophen stets in enger Verbindung ständen und kapitalismuskritische Überlegungen auch auf diesem Wege Eingang in die Szene gefunden hätten. Zum anderen glaubt Booij aber auch einen ganz speziell holländischen Wesenszug im „social design“ zu erkennen: Die Überzeugung, mit Hilfe des eigenen Erfindungsreichtums zu überleben. So wie die Vorfahren das Land mit Hilfe von Deichen und Pumpenwindmühlen dem Wasser abgetrotzt hätten, so versuche die heutige Generation mit ihren Mitteln Klimawandel und Umweltverschmutzung zu begegnen.

Zukunftsforscher: Kurator Lennart Booij geht mit seiner Ausstellung „Dream Out Loud“ aktuellen Strömungen im niederländischen Design auf den Grund.

Booij weiß, dass man gut daran tut, Design nicht mit Heilsversprechen zu überfrachten. Denn schnell wird der Vorwurf laut, mit sozialem Nutzen lediglich zu kokettieren, ohne den Anspruch einlösen zu können. Der Kurator will aber lieber noch unvollkommene und experimentelle Ansätze zeigen, als vor eventueller Kritik im Vorhinein zu kuschen. Er hofft, dass die gezeigten Arbeiten Diskussionen anstoßen und dazu beitragen, dass sich die Industrie nicht länger hinter der angeblichen Alternativlosigkeit ihrer Produkte und Produktionsmethoden verstecken kann.

Geradezu idealtypisch verkörpert das sogenannte „Fairphone“ diese Herangehensweise. Bas van Abel hat es als Reaktion auf die menschenverachtenden Bedingungen entwickelt, unter denen die zur Produktion notwendigen Edelmetalle und Seltenen Erden oftmals gewonnen werden. „Fairphone“ versucht diese Rohstoffe nur von Lieferanten zu beziehen, die die ethischen Standards des Unternehmens einhalten. Auch die oftmals schlechten Arbeitsbedingungen, die in der Handyproduktion herrschen, soll es bei „Fairphone“ nicht geben. Das neue „Fairphone 2“ soll zudem nicht nur im Herstellungsprozess für Fairness sorgen: Erstmals sind alle Komponenten modular aufgebaut, das heißt, verschleißintensive Teile wie etwa das Bildschirmglas oder die Batterie können vom Besitzer einfach ausgetauscht oder zusätzliche oder leistungsstärkere Elemente nachträglich eingebaut werden.

Für Bastler: Das „Fairphone 2“ erlaubt seinem Besitzer, einzelne Komponenten selbst auszutauschen. Das aus Holzelementen zusammengesteckte Haus ist ein Entwurf des Designers Pieter Stoutjesdijk für Erdbebenopfer auf Haiti.

Zwei Dinge hat Boyan Slats „The Ocean Cleanup“ mit Bas van Abels „Fairphone“ gemeinsam: Das Gründungskapital haben beide Projekte mittels Crowdfunding eingesammelt; und beide erregten schon einige Aufmerksamkeit. Boyan Slat entwickelt ein antriebsloses System, mit dessen Hilfe die Verschmutzung der Ozeane mit Plastikmüll wirksam reduziert werden soll: Zwei je 50 Kilometer lange, V-förmig angeordnete Schläuche treiben dabei auf dem Wasser, fangen das Plastik ein und transportieren es zu einer Sammelstation in der Mitte der Konstruktion. Erste Prototypen sind bereits in der Erprobung.

Daan Rosegaardes sieben Meter hoher „Smog Free Tower“ (News&Stories vom 9. Juli 2016) reinigt elektrostatisch und mit dem Energiebedarf eines Wasserkochers 30.000 Kubikmeter Luft von Feinstaub. Roosegaarde presst den eingefangenen Feinstaub anschließend zu kleinen Würfeln, die zu Schmuckstücken verarbeitet werden, aus deren Verkauf sich das Projekt zum Teil finanziert. Noch ist der Turm ein Einzelstück. Roosengarde plant jedoch, ihn demnächst in China vorzuführen, um dort die Diskussion über Luftverschmutzung voranzubringen.

Wie man das Meer reinigen kann: Das Projekt „The Ocean Cleanup“ baut an einer schwimmenden Sammelanlage für Plastikmüll.

Ein anderer Prototyp steht direkt in den Ausstellungsräumen. Für die Opfer des Erdbebens auf Haiti im Jahre 2010 hat Pieter Stoutjesdijk ein einräumiges Kleinhaus aus Holz konstruiert, an dem zwei Dinge auffallen: Entworfen wurde es mithilfe einer von Stoudjesdijk programmierten offenen Datenbank für Konstruktionspläne, die von jedermann abgerufen und verwendet werden können. Gefertigt wurden die einzelnen Komponenten dann mit einer handelsüblichen CNC-Fräse. Die zweite Besonderheit stellt das Baumaterial dar. Das Häuschen besteht vollständig aus sogenannten ECO Boards, Verbundplatten, die aus Agrarabfällen hergestellt werden. Stoudjesdijks Vision ist es, dass weltweit dank der überall verfügbaren Pläne und des entsprechenden Rohmaterials mit weniger Maschinen die serielle Fertigung solcher Kleinbauten aufgenommen werden könnte. Das ausgestellte Holzhaus kann aufgrund der präzise zugeschnittenen Einzelkomponenten allein mit Hilfe eines Gummihammers aufgebaut werden.

Einen höheren Grad der Serienreife haben die Entwürfe erreicht, die Hella Jongerius für die niederländische Fluggesellschaft KLM erarbeitet hat. Jongerius, die „Gründungsmutter des niederländischen Designs“, wie Lennart Booij schreibt, gehört zum gleichen Jahrgang wie etwa Marcel Wanders, fordert aber seit längerem die Abkehr vom „bedeutungslosen holländischen Design“. Was sie darunter versteht, verdeutlicht ihre Einrichtung für die Business-Class der Boeing 787 „Dreamliner“-Flotte, die die KLM zur Zeit in Betrieb nimmt. So ist der Teppichboden zum Teil aus dem Garn alter KLM-Uniformen gefertigt. Es ist das erste Mal, dass ein solches Material-Recycling in diesem hochsensiblen Bereich zum Einsatz gelangt. Die restliche Wolle für die Teppiche ist ein Nebenprodukt der Schafsmast.

Recycling für den „Dreamliner“: Die Auslegeware von Hella Jongerius für die neue Boeing-Flotte der KLM verwendet Garn aus alten Uniformen der Fluglinie.

Die Amsterdamer Ausstellung richtet ihr Augenmerk aber nicht nur auf Dinge, die in Planung sind oder kurz vor der Umsetzung stehen. Mit Blick auf den behaupteten Perspektivwechsel als interessanter erweisen sich einige utopisch-visionäre Projekte, die in der Entwicklung befindliche Technologien adaptieren und weiterspinnen. So spekuliert das „Next Nature Network“ über die Möglichkeiten, die das sogenannte Labor- oder in-vitro-Fleisch eröffnet, das künstlich durch Zellzüchtung hergestellt wird. „The In Vitro Meat Cookbook“ beinhaltet nicht nur verschiedene, teils bizarre Rezeptvorschläge wie „gestricktes Steak“, es setzt sich auch mit Fragen zur Umweltzerstörung, Nahrungsmittelknappheit, Tierquälerei und zu bestehenden Essgewohnheiten auseinander. Die Denkanstöße, die das „Next Nature Network“ zum Thema Laborfleisch liefert, sollen dabei helfen, den gesellschaftlichen Diskurs voranzubringen.

Noch einen Schritt weiter geht die in den Niederlanden lebende britische Designerin Agi Haines. Sie ließ sich von der Forschung an sogenannten Bioprintern inspirieren, die in Zukunft aus künstlich gezüchteten Zellen Gewebestrukturen und sogar ganze Organe „drucken“ sollen. Ihre Überlegung: Wäre es dann nicht vielleicht auch möglich, Organe mit neuen Funktionen zu designen? Organe beispielsweise, die die Krankheiten des Körpers selbst kurieren? So imaginiert Haines ein neuartiges Organ aus Zellen des Zitteraals, das elektrische Stromstöße erzeugen kann. Es soll Herzpatienten eingesetzt werden und im Notfall die Funktion eines körpereigenen Defibrillators übernehmen.

Ganz wörtlich interpretiert den Begriff des „social designs“ der junge Designer Floor Nijdeken: als Design, dass Gemeinschaft erzeugen soll. Dafür greift er auf ein uraltes Kulturwerkzeug zurück: den Stickrahmen. Bei Nijdeken wird daraus ein schrankgroßes Gestell, an dem locker vier Personen Platz finden, die gleichzeitig den aufgespannten Stoff besticken können. Dieser ist seitlich aufgerollt und kann, wenn ein Stück bestickt worden ist, einfach weitergedreht werden. Aufgestellt werden soll das Stick-Gestell an öffentlichen Orten, wo es Menschen dazu anregen soll, bei gemeinsamer Tätigkeit zueinander zu kommen. Im Stedelijk Museum hat es seinen Platz im Foyer gefunden, wo es seine Aufgabe mit beachtlichem Erfolg erfüllt. Manchmal setzt Innovation eben wieder ganz am Anfang an.

Ausstellung:


Dream Out Loud – Designing fo Tomorrow’s Demands
Stedelijk Museum Amsterdam
Museumplein 10
1071 DL Amsterdam
Bis 1. Januar 2017

Wenn der Zitteraal zum Defibrillator wird: Die Vision von Agi Haines ist es, neuartige Körperteile mit dem Bioprinter zu drucken (links). Das Kochbuch fürs Laborfleisch des „Next Nature Networks“ (rechts).
Ein Stickrahmen als sozialer Treffpunkt: Der Prototyp des Designers Floor Nijdeken steht während der Ausstellung im Eingangsbereich des Stedelijk Museums, wo er sich großer Beliebtheit erfreut.