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Design als Methode, das Leben zu überdenken
von Sandra Hofmeister | 01.07.2009
Humberto und Fernando Campana

Zur Eröffnung ihrer großen Werkschau im Vitra Design Museum sind die brasilianischen Designer Fernando und Humberto Campana nach Weil am Rhein gekommen. Im Gespräch beschreiben die Brüder ihre Erfahrungen als kulturelle Botschafter Brasiliens, erläutern ihre Vorstellung von Selbstachtung im Design und die Möglichkeiten, Hightech und Handwerkstraditionen zusammenzuführen.

Sie sind an die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und Brasilien gewöhnt. Aber ist es nicht eine ganz besondere Erfahrung von São Paolo nach Weil am Rhein zu kommen?
Fernando Campana: Oh ja. Es gibt so viele Unterschiede, vom Klima bis zu den Organisationsstrukturen... (lacht). Und die Landschaft natürlich!
Humberto Campana: Nicht zu vergessen die Design-Tradition, und die Hightech-Herstellungsmethoden.
Fernando Campana: Wissen Sie, es gibt einige Gegenden im Süden Brasiliens, nahe Santa Catarina, wo viele Brasilianer mit deutschen Wurzeln leben. Wir haben einige Serien, den Favela-Stuhl zum Beispiel, die in ihren Werkstätten produziert werden. Die fertigen Produkte werden nach Europa geschickt und von dort aus auf dem Weltmarkt verkauft. Wir sind an die Zusammenarbeit mit Leuten verschiedener kultureller Prägung gewohnt. Wir mischen oft Kulturen, nicht nur zwischen Brasilien und Europa, sondern auch innerhalb Brasiliens. Das ist Teil unseres Lebens.

Die meisten Europäer haben keine Vorstellung von Brasilien und von der brasilianischen Kultur. Was würden Sie ihnen erzählen, um ihr Land zu beschreiben?
Fernando Campana: Brasilien ist ein Schmelztiegel unterschiedlicher Rassen und Kulturen. Wir haben mit der Globalisierung begonnen, seit die Portugiesen vor 500 Jahren kamen. Anstelle ihre Kultur den Indios aufzudrängen, begannen sie, sich mit Afrikanern, Europäern und Asiaten zu vermischen. Deshalb hat Brasilien heute auch so viele Religionen, und deshalb gibt es keine Vorurteile gegenüber einzelnen Rassen und Religionen. Die Leute halten in diesem Punkt zusammen. Natürlich gibt es ernsthafte wirtschaftliche Probleme, aber keine kulturellen. Brasilien ist ein Land mit jeder Menge Freude am Leben.
Humberto Campana: Ein sehr barockes und maximalistisches Land mit kontinentalen Dimensionen. Wir sprechen zwar dieselbe Sprache, leben aber völlig unterschiedliche Leben. São Paolo, das Finanzzentrum, ist nicht zu vergleichen mit den wesentlich ländlicheren Gegenden.
Fernando Campana: Oder den Touristengegenden.

Mit den Jahren sind Sie zu Botschaftern der brasilianischen Kultur in Europa geworden - nicht nur in der Design-Community, sondern ganz generell. Wie füllt man diese Rolle aus?
Humberto Campana: Ich glaube, dass man lokal denken muss, um global sprechen zu können. Für uns ist das, als ob wir ein Tor zur Welt aufstoßen würden.
Fernando Campana: Von Anfang an haben wir versucht, dem Rest der Welt die verborgenen Seiten Brasiliens zu zeigen - Aspekte, für die sich Brasilianer normalerweise schämen. Wir haben den Mut, die brasilianische Realität als eine Poetik und Ästhetik des Lebens und der Kultur zu begreifen. Vielleicht hat uns dies für den Rest der Welt origineller oder authentischer gemacht. Jedenfalls haben wir nie auf ein minimalistisches Brasilien gesetzt oder irgendein anderes Kulturmodell einfach kopiert. Das ist sehr wichtig. Ich beobachte, dass die Welt heutzutage mehr und mehr eine realistische Vorstellung von Brasilien bekommt.

Sie meinen, anstatt sich auf Klischees und Stereotype wie den künstlichen brasilianischen Glamour zu verlassen?
Fernando Campana: Ja, wir erzählen genauso von der Gewalt wie von all den schönen Aspekten, ohne uns für die Realität zu genieren. Wie blicken ihr ins Gesicht.
Humberto Campana: Unsere Einflüsse liegen nicht nur in den Favelas. Schließlich gibt es auch noch Oscar Niemeyer, Roberto Burle Marx und Paolo Mendes da Rocha. Brasilien hat eine reiche Tradition in Architektur und Gestaltung, die zu Extremen tendiert. Wir sind Teil dieser Extreme.

Sie haben einmal erklärt, dass Ihre Arbeiten stark von der Natur beeinflusst sind. Wo genau ist dieser Einfluss verankert?
Humberto Campana: Es ist das Material: Holz, natürliche Fasern, Bambus, Lehm...
Fernando Campana: Und es ist die Erfahrung der Natur, die Wahrnehmung einer bestimmten Landschaft.

Sie meinen also Natur als anthropologische Erfahrung?
Fernando Campana: Natur kann durchaus anthropologisch aufgefasst werden, aber das geschieht ohne Absicht. Wir absorbieren auf einfache Weise, was wir erleben. Und dann versuchen wir, diese Erfahrungen bei unseren Möbelentwürfen einzusetzen.

Dann ist das also ein sehr persönlicher Zugang zur Natur?
Humberto Campana: Ja, unser Vater war Landwirtschaftsingenieur. Als Kinder gingen wir mit ihm zu den Farmen. Wir kamen sehr früh in Kontakt mit der Natur. Es war unmöglich, nicht von diesem Erbe angesteckt zu sein.

Viele Ihrer Arbeiten - die „objets trouvés" oder die Recycling-Arbeiten - haben denselben Hintergrund: Sie geben Dingen einen anderen Kontext.
Fernando Campana: Exakt. Wir benutzen eine Art Abkürzung und versuchen, den Traditionen und Materialien eine andere Lesart zu geben. Man kann das auch als ein Prinzip der Antikörper bezeichnen. Wir fügen dem Original-Körper eine andere Version hinzu, ein neues Leben und eine neue Existenz. Das ist sehr charakteristisch für unsere Arbeit.

Sie entwickeln Ihre Entwürfe ohne 3D-Animationen und Software. Das kommt einem aus europäischer Sicht recht ungewöhnlich vor.
Humberto Campana: Brasilien hat eine reiche Handwerkstradition - und wir arbeiten mit diesem Potenzial. Ich arbeite leidenschaftlich gern mit meinen Händen. Es ist eine Passion für Skulpturen und für Materialien. Es wäre falsch, wenn ich einen Computer dazu benutzen würde.
Fernando Campana: Wir fangen gleich mit dem Prototypen im Maßstab 1:1 an.

Die serielle Produktion ist also nicht unbedingt ein Ziel Ihrer Arbeiten?
Fernando Campana: Natürlich wollen wir unsere Stücke auch in größeren Stückzahlen produzieren. Aber mit einigen Entwürfen geht das nicht. Dann hegen und pflegen wir diese Stücke in unserem Studio und machen Editionen daraus.
Humberto Campana: Der handwerkliche Aspekt bringt auch Menschlichkeit ins Design. Er ist ökologisch, hat einen „human touch".

Diese menschliche Note im Design ist in den letzten Jahren zu kurz gekommen. Aber im Zeichen der Krise scheint sie neu entdeckt zu werden.
Fernando Campana: Ja, und sie kann mehr Selbstachtung in die Sache bringen.
Humberto Campana: Es ist auch eine Methode, das Leben zu überdenken.

Einige Ihrer Ideen sind zu luxuriösen und teuren Möbeln geworden, die sich nur wenige leisten können. Ist das nicht ein Widerspruch?
Fernando Campana: Wir haben nie daran gedacht, Möbel für arme Leute zu machen. Unser Design ist nicht für ein bestimmtes Publikum gemacht. Natürlich gibt es einige Stücke, die eher erschwinglich sind. Aber das ist nicht unsere Sorge. Wenn ein Möbel mehr Entwicklungszeit braucht, kostet es auch mehr. Es ist eine langer Weg vom ersten, handgemachten Entwurf bis zu den Herstellern, die Mittel und Wege für eine gute Qualität und für den Verkauf finden müssen.
Humberto Campana: Wir nennen das „hand-made high-tech" - das Konstruieren von Hightech mit den Händen.

Setzt der Möbelmarkt im Vergleich zum Industrial Design generell mehr auf Handarbeit?
Fernando Campana: Das Problem ist, dass es zu viele ähnliche Stücke auf dem Markt gibt. Wir versuchen, den Dingen ein neues Leben und eine andere Sichtweise zu geben.
Humberto Campana: Wissen Sie, es gibt einen Stuhl in der Ausstellung, der ganz aus Pappe besteht - wir wollten ihn gerne in Serie produzieren lassen. Aber als die Wirtschaftskrise kam, mussten wir dieses Projekt leider aufgeben. Ich hoffe, wir schaffen es in der Zukunft.


ANTIKÖRPER
Arbeiten von Fernando & Humberto Campana 1989 - 2009
Eine Ausstellung des Vitra Design Museum, Weil am Rhein
16. Mai 2009 - 28. Februar 2010
Öffnungszeiten: Mo - So 10 - 18 Uhr, Mi: 10 - 20 Uhr

www.vitra.com

Humberto und Fernando Campana