Als der französische Dichter und Kritiker Charles Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtete, wie der Künstler zu einem Maler des modernen Lebens wurde, entdeckte er in diesem gleich mehrere Gestalten: einen Mann von Welt, einen der Menge und ein Kind. Der erste ist ein geistvoller Bürger des Universums, der zweite saugt alle Ausströmungen des Lebens auf und verfolgt inbrünstig die Spur des Unbekannten - und das Kind ist voll und ganz ein sensibles Geschöpf der Neugierde, das alles im Licht der Neuheit sieht. Hundertfünfzig Jahre später sind wir alle - Frauen und Männer - Künstler geworden. Und so durcheilen wir unsere Gegenwart als Menschen einer vollendet globalisierten Welt, als Geschöpfe der Menge und als neugieriges Kind.
Was bedeutet „zeitgenössisch"?
Man kann auch anders fragen. Etwa: Welche Bedeutung hat in den Wohlfühlwelten des abendländischen Sphärendesigns das Wörtchen „zeitgenössisch"? Bedeutet es, dass man sich in einer prinzipiell unübersichtlichen Situation zurechtfinden muss? Kündet es tatsächlich von einer „neuen Gemütlichkeit" - oder klingt das in gespitzten Ohren nur wie der Slang des Marketings? Was ist aus den opulenten Draperien und Dekorationen geworden, mit deren Hilfe früher ein repräsentativer Rahmen geschaffen wurde? Sind es gar allerlei Erbschaften, die aus der Krabbelkiste der Vergangenheit gezogen werden, um neu gemischt, gesampelt und dekonstruiert zu werden? Wird das Zeitgenössische also schlicht von einem Quodlibet vervielfältigten Behaustseins geprägt, innerhalb dessen jeder finden kann, was ihm und seinem Geschmack beliebt? Und wo findet sich im Design eigentlich das Unbehaustsein?
Kein Ort eignet sich besser, solche Fragen zu erörtern, als eine Einrichtungsmesse. Hier ist alles, was der Mensch braucht, um sich allein oder en famille einhausen und seine kleine eigene Wohlfühlblase einrichten zu können auf eine derart vielfältige und widersprüchliche Weise versammelt, wie sie sich kein Kurator ausdenken könnte. Gerade weil der Zugriff der ordnenden Hand begrenzt ist, zeigt sich, wie die Dinge liegen - für den Menschen von Welt, den Menschen der Menge und das Kind.
Der Wunsch, Indianer zu werden
Köln, im Januar 2011. Auf der imm Cologne, dem deutschen Jahrmarkt des Einrichtens, juchzt das Kind in uns diesmal besonders vor Freude, wenn es am Stand von Richard Lampert dessen neue „kids collection" erspäht. Verflogen sind mit einem Mal alle bohrenden Fragen. Am liebsten würde man sich sofort auf den kleinen „Rocker" setzen, den Nipa Doshi und Jonathan Levien entworfen haben, und sich in der kindlichen Kunst üben, ein Indianer zu werden, der auf den leichten Schwingen der Imagination aus dem Zimmer hinaus in die weite Prärie galoppiert - „schief in der Luft", wie es bei Franz Kafka heißt, „bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf". Denn der „Rocker" ist gar kein Schaukelpferd. Bewusst haben die beiden Designer auf jede Form von Naturalismus verzichtet. Worauf der kleine Apache sitzt und schaukelt, ist eine Art Garnspule in Form einer Sanduhr, die sich bei genauerem Hinsehen als die Abstraktion eines Sattels erweist. Mehr als einen solchen Sattel aus weißem Kunststoff und die von Naturholzkufen ermöglichte Bewegung braucht es nicht, um die Einbildungskraft in Gang zu setzen.
Oder das Kind in uns wirft sich auf den großen schwarzen und coolen Reifen „Pit Stop", den Bertjan Pot beisteuert, und wird sofort zum Rennfahrer oder Traktorist. Die Hülle des „Sitzsacks", auf dem man auch einfach nur sitzen oder herumliegen kann, wird mittels eines speziell entwickelten Strickmusters in einem Stück gefertigt. Selbst Details wie Profil, Schulter und Seiten samt Schriftzug werden in einem Arbeitsgang, also ohne jeden Abfall, hergestellt.
Mit „Famille Garage" hat Alexander Seifried zudem ein Baukastensystem-Möbel geschaffen, das Kinder verschiedener Altersgruppen begleiten kann. Mit seinen farbigen und lebensmittelechten Schaukästen, deren Form man aus Heimwerkerkellern kennt, ist das Programm aus Bank, Tisch und Regal, das auch zum Wickeltisch werden kann, Stauraum, Ablagefläche, Sitzelement, Spielzeug und Werkstatt zugleich. Man sieht: Hier ist nicht nur ein einzelnes Stück gelungen. Lamperts gesamte „kids collection" zeigt, dass Qualitätsdesign auch im Kinderzimmer möglich ist. Für kleine Kinder, aber auch für solche jeden Alters.
Solide Basis mit Ausbaustufen
Der Mensch von Welt, naturgemäß weniger kindlich gestimmt und seltener auf Imagination aus, aber spricht: Eine Messe ist eine Messe ist eine Messe ist eine Messe. Anders gesagt: Eine Messe, gleich ob für Möbel oder Automobile, hat ihre eigenen Gesetze. Hier geht es ums Geschäft, im Falle einer Möbelmesse also vor allem darum, die Einkäufer großer Möbelhäuser, Raumausstatter und Kücheneinrichter zu informieren und für - oft technische - Neuheiten zu begeistern. Gezeigt wird, was sich verkaufen soll. Herausragendes Design spielt dabei nur insofern eine Rolle, als es zum Gesamtergebnis beiträgt. Und eben mit dieser Mischung ist es der imm Cologne gelungen, sich zu konsolidieren und neu zu positionieren. Man gibt sich erkennbar Mühe in Köln. Was bedeutet: Es zählt nicht so sehr der Glamour, sondern das Ergebnis. Spektakuläres im High-End-Bereich des Gestaltens bleibt deshalb im Ganzen eher eine Randerscheinung. Der Aficiondo mag es beklagen, allein, es ist die Realität. Gleichzeitig hat die Kölner Messe ihre klare Grundstruktur - mit der Aufteilung in die Bereiche „Prime", „Comfort", „Smart", „Basic" und „Pure" - gefestigt und mit „Living Kitchen" und „Pure Textiles" prägnant und erfolgreich ausgebaut. Vom Schlafzimmer bis zum Bad, von der Wand und dem Boden bis zur Beleuchtung und den Accessoires wird die gesamte Welt des Wohnens erfasst. Vor allem das Debüt der künftig alle zwei Jahre stattfindenden „Living Kitchen" zeigt eindrucksvoll das Potenzial, das in dieser Branche steckt. Auch wenn viele Neuheiten vor allem technischer Natur sind, hier wird gekocht und gedämpft, blanchiert und gebraten, als gäbe es nur erstklassige Lebensmittel. Objektiv betrachtet scheint man in Köln also bereit, den nächsten Schritt zu machen, den zu einer gelungenen Mischung aus Bewährtem und Highlights des High-End-Designs.
Deshalb gilt für das Jahr 2011: Die imm Cologne behauptet sich gut als wohlgeordnete und solide Messe für Möbel, Küchen und exklusive Stoffe, aber sie ist kein Füllhorn für Designneuheiten. Anders gesagt: Nicht nur meteorologisch beschert der Januar Köln in diesem Jahr einen Hauch von Frühling. Doch weiß auch jeder: Es ist noch kein Frühling, wir erleben nur dessen Vorboten. So fehlen noch immer viele wichtige internationale Hersteller, im „Pure Village" sieht es - trotz der gelungenen Präsentation der Hersteller aus der Design-Post - dann doch etwas zu bunt gemischt und bieder aus. Und so frühlingsfrisch und gediegen es auf den Ständen der Textilverlage Nya Nordiska, Création Baumann, Kinnasand oder Société Sahco auch zugeht, so ernüchternd bleibt der Rahmen, den die Messe zu diesem Segment beisteuert. Der „Boulevard of Innovations" schließlich gerät zu einer Halde isolierter, lieblos abgestellter Produkte, auf die man getrost hätte verzichten können, und die „D3 Talents" auseinanderzureißen und deren Platz einzuschränken, erweist sich als Rückschritt, auch wenn mit AKKA (Oscar Terbom und Petter Danielson) und ihrem Tisch „Ola" sowie mit Harry Thaler und seinem Stuhl aus gepresstem Aluminium durchaus würdige Preisträger der „Young Designers Competition" gefunden wurden.
Hier und da
Das Kind also freut sich, der Mensch von Welt aber schaut aufs Ökonomische. Damit sich der an Design interessierte Mensch der Menge aber nicht in der Menge der Dinge verliert, seien ihm hier einige Funde ans Herz gelegt, die, naturgemäß subjektiv und unvollständig ausgewählt, zeigen, was das Kölner Quodlibet so alles bereithält.
Bei Schönbuch hat man sich den nicht immer leicht zu gestalteten Bereichen „Flur" und „Eingang" verschrieben, jener Passage, in der sich Drinnen und Draußen mischen wie Süß- und Salzwasser in einer Flussmündung. „Dice" heißt das Garderobenprogramm, das Stefan Diez für Schönbuch entwickelt hat. Es besteht aus einzelnen Elementen unterschiedlicher Tiefe und Funktion, bei denen lackierte Korpuswände mit einer stoffbezogenen Front kombiniert werden. Das macht die Ensembles nicht nur praktisch und lässt sie wohnlich erscheinen, es verleiht ihnen in der Kombination auch eine besondere Frische. Bei e15 stößt man auf einen Grenzgänger ganz anderer Art. Denn der „Munken Cube", im Grunde nichts weiter als ein fünfzig Zentimeter hoher Stapel Papier mit einer Kantenlänge von 33 Zentimeter, der auf einer Seite verleimt ist und auf einem Sockel auf massiver Eiche ruht, ist Sitz, Tisch, Skulptur und Notizblock in einem, ein Konzeptmöbel, das zum Verdrehen und Verformen der 2200 Blatt einlädt. Originell auf alle Fälle. Wogg zeigt unter anderem den fertigen und in acht Farben zu bestellenden Stuhl „Wogg 50" von Jörg Boner, Classicon hat den „Munich Lounge Chair", 2009 von Sauerbruch und Hutton für das Museum Brandhorst in München entworfen, um ein Coffee Table und ein Sofa erweitert und in frische Bezugsfarben gehüllt, und bei Cassina fragt man sich nicht nur, ob man den ohnehin ubiquitären „LC 2" mit farbig lackiertem Gestell und farbenfrohen Bezügen in ein, zwei Jahren noch sehen mag, sondern auch, welche Geheimnisse Le Corbusier in seiner bis auf Grifflöcher allseits geschlossenen Holzbox „LC 14" versteckt hat. Gio Pontis filigraner Stuhl „Superleggera" jedenfalls macht sich mit farbigen Polstern hervorragend.
Ein Feuerwerk von Neuheiten
Nicht etwa, weil Konkurrenten wie Vitra, Magis oder Moroso nicht in Köln ausstellen, und somit Vergleiche schwierig sind: Ligne Roset entwickelt sich immer deutlicher zu einem der innovativsten Hersteller. So zündet man für dieses Jahr ein wahres Feuerwerk von durchweg überzeugenden Neuheiten, von denen in Köln eine Handvoll hervorstechen. Inga Sempé ergänzt ihr Sofa „Ruché" um ein Bett, das formal ebenso leicht und elegant wie eigenständig ausfällt. Das hohe, abgesteppte Kopfteil und die erhöhte Liegefläche verbinden sich wie selbstverständlich mit der originellen Ästhetik. Mit dem Sofa „Ploum" verfolgen Ronan und Erwan Bouroullec einen Weg weiter, den sie mit „Quilt" für Established & Sons eingeschlagen haben. „Ploum", mal gerade, mal gebogen, wirkt auf den ersten Blick wie ein Stück aufgequollenes Knäckebrot, erweist sich aber schnell als pfiffige Neuinterpretation des lockeren Geistes der siebziger Jahre. In seiner organoiden Form unverwechselbar, steht es für einen Lebensstil jugendlich legerer Flexibilität, der sich, im Sitzen oder im Liegen, anverwandelt, was er aus der Vergangenheit brauchen kann. Wobei der Komfort keineswegs zu kurz kommt.
Nicht zu vergessen François Azambourgs Sessels „Grillage" - was im Französischen schlicht „Drahtgeflecht" bedeutet - aus Blech, das mit versetztem Muster gelocht und gestreckt und dann wie ein Werk aus Origami gefaltet wird, wodurch das Herstellungsverfahren selbst anschaulich wird. Es gibt ihn für drinnen, in einer hellblauen Ausführung aber auch für den Außenbereich.
Wer es gern ästhetisch und praktisch mag, der wird bei Pascal Mourgue fündig. Sein Sofa mit dem Namen „Janus" zeigt, dass ein Schlafsofa für Gäste nicht notgedrungen plump ausfallen muss. Auf zierlichem Gestell aus verchromtem Stahlrohr schweben die Polster gleichsam über dem Boden, die verstellbare Rückenlehne sorgt für Komfort, und selbst in der Bettposition mach Janus eine gute Figur.
Bleibt noch „Etagère de coin" zu erwähnen, ein, wie der Name schon sagt, Eckregal. Freilich eines der besonderen Art, das aus der Beschäftigung jungen französischen Designerin Marie Dessuant mit „ungenauen Gegenständen" hervorgegangen ist. Hoch droben in der Ecke, an der Grenze, an der sich Architektur und Möbel berühren, wohnt die Phantasie, lassen sich Bücher und andere persönliche Gegenstände - dem Alltag ein Stück entrückt - zwischenlagern. Definitiv nichts für den Mensch von Welt oder den der Menge, sondern für all jene, die noch immer den Wunsch in sich spüren, Indianer zu werden.