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Der Wirt und der Pinguin
Ein Kommentar von Jeremy Gaines | 11.07.2016
Rund um das Areal der Europäischen Zentralbank EZB entlang der Hanauer Landstraße entstehen im sogenannten Honselldreiecks rund 2000 neue Wohnungen. Auch am Sachsenhäuser Ufer auf der gegenüberliegenden Seite des Mains wird längst nachverdichtet. Foto © Adeline Seidel, Stylepark

Addiert man die politischen Positionen, so müsste die Frankfurter Koalition aus CDU, SPD und Grünen eigentlich für ein entschlossenes Engagement für drei wichtige Aspekte von Nachhaltigkeit stehen: Wirtschaft, sozialer Ausgleich und Ökologie. Auf den ersten Blick scheinen die 2.477 Zeilen des Koalitionsvertrages ausgesprochen detailreich und umfassend. Viele der Entscheidungen, die die Stadt betreffen, werden auf bundes- bzw. landespolitischer Ebene gefällt und liegen somit außerhalb des Einflussbereiches des Stadtparlaments. Welche Gebiete bebaut, wie wir Bürger zur Arbeit kommen und unsere Freizeit verbringen können, wirkt sich jedoch unmittelbar auf unser Leben in dieser Stadt aus. Die Unterzeichner des Vertrages waren sich dessen offenbar durchaus bewusst, denn in der Vereinbarung heißt es: „Unser wachsendes Frankfurt erfordert eine soziale und ökologisch verantwortete Stadtentwicklung, die das Wachstum nachhaltig gestaltet und allen Frankfurtern ein gutes Leben in ihrer Stadt ermöglicht.“ Hier werden unverkennbar alle ideologischen Optionen bedient. Aber zeigt der Vertrag auch einen in die Zukunft weisenden
Weg auf?

Wir brauchen 184.000 neue Wohnungen und mehr in der Region – aber wo findet sich eigentlich der Raum dafür?

Das Thema Wohnungsbau nimmt nicht wenige der Zeilen des Vertrags in Anspruch. Für das integrierte Stadtplanungskonzept ist das Stadtplanungsamt zuständig, das auch eine Bewertung des zusätzlichen Wohnungsbaupotenzials vornimmt. Diese Prüfung umfasst „Konversionsflächen, die behutsame Nachverdichtung und Freiflächen“. Dabei wird die lobenswerte Absicht verkündet, durch zusätzlich entstehenden Wohnraum zur Entlastung der bestehenden Quartiere beizutragen und die Mietpreisentwicklung zu dämpfen. All dies wird von den beteiligten Politikern in einer verheißungsvollen Sprache verfasst, man spricht von „neuen, lebendigen Quartieren“, von einer Mietpreisgrenze bei stadteigenen Wohnungen und von „Milieuschutzsatzungen“.

Zurecht wird bekräftigt, dass dieser neue Wohnraum (184.000 Wohnungen bis 2030) nur geschaffen werden kann, wenn zuvor der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie der sozialen Infrastruktur (Kitas, Schulen und Sportanlagen) erfolgt ist. Während man jedoch die Fehler vermeiden will, die beim Riedberg-Projekt passiert sind (hier wurden Verkehrserschließung und soziale Infrastruktur erst im Nachhinein bedacht), bleibt ein Aspekt unerwähnt: Es gibt keinen Raum dafür! Das „Wo“ wird im Koalitionsvertrag nicht erörtert. Es heißt vielmehr schlichtweg, „für uns“ seien „Stadt und Landschaft kein Gegensatzpaar“. „Wir werden neue Quartiere bauen, die durchgrünt und urban sind. Die städtebaulichen Qualitäten des städtischen Wohnens wollen wir mit einem attraktiven Wohnumfeld und naturnahen Grünflächen verbinden“. Man sollte damit keinesfalls Blumenkübel oder Bäume im Asphalt assoziieren, denn steht nicht zwischen den Zeilen, dass die neuen Wohngebiete auf den Grünflächen um die Stadt entstehen sollen?

Offenkundig müssen landwirtschaftlich genutzte Flächen geopfert werden. An anderer Stelle verkündet die Koalition allerdings, sie wolle die Landwirtschaft in der Stadt schützen. Dies muss uns zu der Annahme veranlassen, dass die beiden entsprechenden Abschnitte des Koalitionsvertrages von verschiedenen Personen verfasst wurden oder diese sich nicht miteinander abgesprochen haben oder dies nicht wollten. Warum wird den Bürgern eigentlich nicht offen und ehrlich gesagt, dass Grünflächen in Wohnflächen verwandelt werden müssen, wenn die Stadt weiter wachsen soll?

Stadtverordnetenwahl in Frankfurt am Main 2016: Veränderungen der Stimmenanteile gegenüber der Stadtverordnetenwahl 2011 - GRÜNEN (links), CDU (Mitte) und SPD (rechts). Grafiken © Bürgeramt, Statistik und Wahlen / Frankfurt am Main

Vorwärts und aufwärts? Heißer oder flacher?

Priorität, so ist im Koalitionsvertrag zu lesen, habe die „Aufstockung von Bestandsgebäuden, die Schließung von Baulücken, die Umwandlung leerstehender Büro- in Wohnflächen und die Ermöglichung höherer vertikaler Ausnutzung in geeigneten Gebieten“. Es bleibt zu hoffen, dass die Vertragsunterzeichner nachgezählt haben, wie viele Gebäude tatsächlich hinzugefügt beziehungsweise ob Büros einfach in Wohnungen verwandelt werden können (Großraumwohnen ohne Dusche?). Wenn wir also nicht über teure Wohnhochhäuser sprechen, da es keine Verdrängung von angestammten Mietern geben soll, über was reden wir hier dann eigentlich? Doch nicht über 180.000 Wohnungen in der Stadt. Etwas versteckt findet sich dann doch der Kommentar, dass die „Deckung des Wohnbedarfs nur in Zusammenarbeit mit der Region möglich sei“, wenn es hart auf hart komme.

Was die ökologische Seite des urbanen Lebens betrifft, so liest man im Vertrag, dass „große Teile Frankfurts aufgrund des Klimawandels von einer Überhitzung bedroht“ seien. Die Koalition will aus diesem Grund in den nächsten fünf Jahren 10 Millionen Euro bereitstellen, um Flächen von Asphalt zu befreien und zu begrünen. Mit den Fördermitteln sollen Dächer und Innenhöfe begrünt und 100 innovative Projekte wie Sonnensegel, Pergolen und Trinkbrunnen gefördert werden. Das ist alles schön und gut, aber vielleicht nicht mehr als Augenwischerei, wenn gerade erst die Verdichtung vorangetrieben wurde und die „Aktivierung und Entwicklung von Gewerbeflächen ermöglicht werden soll, gerade auch für industrielle Nutzungen“. Möglicherweise sind die Beteiligten sich hier der Widersprüchlichkeit bewusst und dies ist ein Versuch der Wiedergutmachung.

Links: Sicherheit in der Masse? Morgendlicher Stoßverkehr hinter der Kreuzung Eschersheimer Landstraße/Grüneburgweg. Rechts: Hier hilft nur Augen zu und durch – der Übergang Hochstraße/ Bleichstraße. Fotos © Jeremey Gaines

Neue Transportmethoden – wie bitte?

Wir alle wissen, dass es ein bisschen viel verlangt ist, das Beste aus beiden Welten haben zu wollen, und das trifft in besonderem Maße auf die Berliner Straße zu. Die Koalition sieht Frankfurt als Drehscheibe von Wirtschaft und Tourismus – aber sie will die vierspurige Berliner Straße so lassen wie sie ist, eine klassische Hauptverkehrsader der Nachkriegszeit, die die Sehenswürdigkeiten von den Einkaufsfußgängerzonen abtrennt. Sieht so wegweisende Verkehrspolitik aus? Einer der Autoren zeigte sich nicht vollends überzeugt und schlug einen Fahrradweg entlang der Berliner Straße vor. Tolle Idee! Und wo genau? Vielleicht über Straßenniveau?

Fahrradwege sind mehr als angesagt und auch im Koalitionsvertrag spielen sie eine wichtige Rolle: „Der Radverkehr soll sicher und konfliktfrei sein.“ Radwege sollen Priorität vor Straßen haben und überdies „deutlich erkennbar markiert und gegebenenfalls farblich abgesetzt werden“. In der Praxis ist das natürlich völliger Unsinn und garantiert keinesfalls Sicherheit auf dem Fahrrad, ganz abgesehen davon, dass Konflikte auf diese Weise vorprogrammiert sind. Haben sich die Koalitionspartner eigentlich mal in anderen europäische Städten umgesehen und geschaut, wie diese mit dem Thema umgehen – Amsterdam, Kopenhagen und London beispielsweise?
Der öffentliche Nahverkehr wird erwähnt – richtig, die Stadt ist dafür zuständig. Aber wurden auch die hohen Fahrscheinpreise erörtert? Ja, aber nur im Hinblick auf Vergünstigungen für ältere Mitbürger. Es gibt Überlegungen für eine Straßenbahnringroute und neue Haltestellen und so weiter – der Kostenaufwand für ein solches Vorhaben kann über die Stadtkasse jedoch keinesfalls finanziert werden. Wie bei vielen anderen Aspekten geht es auch hier in erster Linie um Einschätzungen, nicht aber um die Realität vor Ort.
Nicht anders verhält es sich bei den Autos: „Parkraumsituationen“ sollen optimiert werden, ohne „Verlust von notwendigen Parkmöglichkeiten“, also ohne das Verkehrsaufkommen zu reduzieren. Wie jedoch öffentliche Plätze ansprechender gestaltet, Fußgänger und Radfahrer unterstützt werden und „verkehrsgefährdendes Falschparken“ verhindert werden sollen, ohne das Verkehrsaufkommen zu senken, bleibt der Fantasie des Einzelnen überlassen.

Im Zentrum von Frankfurt am Main wird Raum knapp: Blick auf die Gallusanlage, die als Teil des Grüngürtels der Frankfurter Wallanlagen die Innenstadt umschließt und von den Hochhäusern wie dem Silver Tower (vorne links), dem Trianon und den beiden Türmen der Deutschen Bank (hinten links), dem Opern Turm (hinten rechts), dem Maintower, dem Commerzbank Tower (rechts), dem Taunusturm und dem Eurotower (vorne rechts). Foto © Adeline Seidel, Stylepark

Neue Kultur für Alle – genauer gesagt für die Kinder

Eine geradezu revolutionäre verkehrstechnische Überraschung hält der Vertrag dann aber doch bereit: An einem Sonntag im Sommerhalbjahr oder an maximal sechs Tagen im Jahr, wird die Stadt zur autofreien Zone erklärt. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich alle drei Parteien auf das betroffene Gebiet einigen können. An diesen Sonntagen soll, so steht es im Vertrag, dann eventuell auch die „Kultur für Alle“ auf der Agenda stehen (Zugang zu den Kulturangeboten der Stadt und zur kulturellen Bildung), für alle Gesellschaftsschichten und insbesondere für Kinder. Eine Jugendkunstschule und ein Kindertheater sind angedacht – und der Eintritt in die Museen soll künftig für Kinder frei sein. Und wenn wir schon einmal bei den Museen sind: Der aktuelle Platzmangel des Weltkulturenmuseums wird thematisiert und ein zentrales Lager für das Museum in Erwägung gezogen. Ist aber irgendwo zu lesen, dass unsere Kultur vielleicht international ausgerichtet sein sollte oder dass Frankfurt eine internationale Stadt ist? Nein, lediglich, dass man Innovation und Kreativität fördern wolle, um Frankfurt „wieder“ zu einem kulturellen Labor zu machen – indem auch insbesondere die freie Szene unterstützt werde.

Im Deutschen Pavillon der aktuellen Architekturbiennale von Venedig wird Offenbach am Main als Beispiel dafür gepriesen, wie Weltoffenheit eine Stadt beflügeln kann. Die Frankfurter Koalition redet aber nur dann von Internationalität, wenn es um den Flughafen, um Sicherheit, Sport oder den Arbeitsmarkt geht. Wie also lässt sich diese kulturelle Vision „für Alle“ entwickeln in einer Stadt, in der 28 Prozent der Einwohner ausländische Wurzeln haben? Darüber gibt der Koalitionsvertrag keine Auskunft, was angesichts des Umstandes überrascht, dass die neue stellvertretende Bürgermeister Ina Hartwig, die für das Kulturdezernat zuständig ist, „eine der größten Herausforderungen der Frankfurter Kulturpolitik darin sieht, Brücken zu den Flüchtlingen zu bauen“.
Und, ach so, ja, der Zoo, der gehört auch zur Kultur und die große Neuigkeit lautet: Die Koalition will ein neues Pinguin-Haus bauen. Das passt doch. Mir kommt da folgender Witz in den Sinn: Ein Pinguin geht in eine Kneipe und fragt den Wirt: „Hast du meinen Bruder gesehen?“ Der Wirt antwortet: „Nein. Wie sieht er denn aus?“

Der Wirt dürfte die drei politischen Parteien, die diesen Koalitionsvertrag geschlossen haben. ebenso wenig unterscheiden können. Die Probleme dieser schnell – und falls der Bankensektor nach dem Brexit tatsächlich zulegt – noch schneller wachsenden Stadt mit ihrem zu knapp bemessenen Wohnraum und ihren Verkehrsproblemen, hat man im Koalitionsvertrag auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von „same, same but different“, zu deutsch; immer das Gleiche, nur etwas anders, heruntergeschraubt. Leider hat die Koalition die Gelegenheit versäumt, tatsächlich eine nachhaltige Vision für die Zukunft Frankfurts zu entwickeln. Stattdessen haben die politischen Pinguine ein Dokument verfasst, das viele bedenkliche Widersprüche enthält, die einfach ignoriert werden.

Im Überblick: Die Sitzverteilung im neuen Frankurter Stadtparlament. Grafik © Bürgeramt, Statistik und Wahlen / Frankfurt am Main
Im Detail: Wie panachiert wurde... Grafik © Bürgeramt, Statistik und Wahlen / Frankfurt am Main