Flaniert man auf der 64. Internationalen Automobil-Ausstellung IAA über die aufwendig gebauten, chic und cool und edel gestalteten Messestände der großen Automobilhersteller, so drängt sich der Eindruck auf: Die Zukunft ist Weiß! Der Boden ist fast überall Weiß, die Wände sind Weiß, die knapp geschnittenen Kleider der adretten Girls, die neben den extravaganten Concept Cars und braven Serienmodellen posieren, sind zumeist Weiß, und viele Fahrzeuge sind Weiß. Fast alles ist Weiß, so Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, so rein wie die Unschuld. Selbst die Energie, die beim Fahren nun mal verbraucht wird, damit wir mobilen Zeitgenossen schnell, bequem und sicher vorankommen, ist im Grunde genommen Weiß, weil sie farblos und wenn möglich emissionsneutral aus der Steckdose oder aus einer Brennstoffzelle kommen soll. Nur hier und da tritt ein kräftiges Blau, ein pastellzartes Hellblau, ein frisches Grün, ein leuchtendes Gelb, ein emotionales Rot oder ein edles Silber an Wand, Decke oder Kleid hinzu – um des Kontrastes willen und je nach Corporate Design des Konzerns oder der Marke, die sich präsentiert. Grün und Weiß oder Blau und Weiß machen sich naturgemäß besonders gut. Glaubt man den Inszenierungen der IAA, so ist Weiß ohne Zweifel die Farbe der Zukunft der individuellen Mobilität.
Der Tross
Wer sich schon am Morgen des ersten Pressetags der IAA nach Neuheiten und Visionen umschaut, wird mit einem eigenartigen Ritual konfrontiert. An diesem Tag finden nämlich sämtliche Pressekonferenzen statt, bei denen die Konzernlenker mit viel Pathos und Zuversicht neben den neuesten Modellen und den neuesten Visionen auch die neuesten Weisheiten über die neuesten Projekte verkünden, mit deren Hilfe die Branche die Zukunft zu gewinnen versucht. Die Abfolge dieser kollektiven Beschwörungsrituale ist genau getaktet. Was zur Folge hat, dass sich den ganzen Tag über ein großer Tross von Kollegen, vorzugsweise der internationalen Motorpresse (Kolleginnen sind hier noch eindeutig in der Minderheit) von Halle zu Halle und von Stand zu Stand bewegt. Auch wenn längst Bilder der wichtigsten Neuheiten publiziert und die ersten Tests absolviert sind, so ändert das nichts daran, dass hier noch einmal festlich die Hüllen fallen gelassen werden. Also warten die schönen neuen Träume aus Aluminium und Kohlefaser, hier und da auch Allerweltsvehikel aus Blech, geduldig unter feinem Tuch auf ihren ultimativen Auftritt. Bevor nicht die letzte Rede gehalten, das letzte Tuch entfernt, die letzte Hülle gefallen und die letzte Tarnung weggeräumt ist, sind die Stars der aktuellen Automobilgeneration noch nicht ganz zur Welt gekommen. Die Pressemappen, die danach verteilt, und die Getränke, die gereicht werden, sind nichts als das Echo dieses öffentlichen Geburtsrituals.
Von der Zwiebel gelernt
Während die Technik auf Effizienz getrimmt wird, lautet die Kernfrage in Sachen Gestaltung: Gibt es zu wenig oder zu viel Design? Oder, präziser: Gibt es zu viel Styling und zu wenig Design? Betrachtet man all die paradierenden Vehikel, die weltweit um die Gunst der Käufer buhlen, so lässt sich – jenseits aller Geschmacksfragen – feststellen: Nichts bleibt heutzutage dem Zufall überlassen, jedes noch so kleine Detail wird von einem Designteam entworfen, korrigiert, verbessert, optimiert. Verlangt das Marketing nach Jugendlichkeit, gibt es – wie beim VW-Beetle „Fender" – im Kofferraum einen Gitarrenverstärker. Ist mehr Sportlichkeit angesagt, wird dem Heck selbst der biedersten Massenware ein Diffusor verpasst – oder wenigstens eine Attrappe, die danach aussieht. Das ist weder neu noch überraschend. In Mode gekommen ist indes die Tendenz, einen automobilen Körper wie eine Zwiebel zu behandeln, sprich: hier und da eine Schale am automobilen Körper aufzublättern. Schließlich ist nichts so langweilig und verpönt wie glatte Flächen. Sie könnten den Eindruck erwecken, hier sei etwas ungestaltet geblieben.
Das geht so weit, dass BMW bei den beiden Modellen seiner neuen i-Reihe (Slogan: „Born electric") die innere Struktur mittels verglaster Türen offenlegt – was leider nicht halb so gut aussieht, wie es gemeint ist. Und damit der umworbene Kunde auch sieht, dass nun alles wieder leichter wird, sind unlackierte Motorhauben aus Gewicht sparenden Verbundwerkstoffen selbst bei eleganten Modellen der letzte Schrei. Bescheidenheit sieht anders aus. Die Übung dient also vor allem dem Zweck, durch Design jedermann zu zeigen, was technisch machbar ist. Auf diese Weise antwortet in der Designsprache ein technoider Expressionismus auf die unverhohlene Technikgläubigkeit der Ingenieure. Nicht, dass wir etwas gegen Technik hätten. Die Fortschritte, die hier gemacht werden, sind in der Tat enorm, auch wenn die von den jüngsten Daten zum Klimawandel hysterisierte Öffentlichkeit es noch lieber sehen würde, wenn die Ingenieure in Siebenmeilenstiefeln vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität eilen könnten. Tatsache aber ist: Auch im Design dominiert eine rein technische Vorstellung von Zukunft, die alle anderen Visionen auszublenden droht. Wie der gute alte Carrosserier schneidert der Designer die Kleider dazu: Mal eng anliegend, mal fließend, mal wuchtig und klobig, doch immer noch mit einer kleinen Blechkurve hier und mit einem Tagfahrlichthäkchen dort – mit noch einer kubistisch facettierten Tür hier und mit einer kecken Delle oder einem muskulösen Wulst an der Seite dort.
Flachware
Breit, lang, flach – so sieht die jüngste Vision einer hybriden Fahrzeugklasse im Luxussegment aus. Es handelt sich dabei um eine Synthese aus Luxussportwagen und Kombi oder aus Luxuslimousine und Coupé. Nicht im Sinne eines auf bestehenden Modellen aufbauenden Fastback oder Shooting Brake, sondern mit Blick auf ein neues und neu interpretiertes Fahrzeugsegment. Unter anderem Porsche hat es mit dem Dickschiff Panamera vorgemacht, wie so etwas geht. Hervorstechendes Merkmal: All diese Riesen sind lang, extrem flach und extrem breit. Autos werden also keinesfalls nur kleiner, sondern auch größer; und dabei handelt es sich keineswegs um klobige SUVs. War es lange Zeit üblich, die Luftpumpe anzusetzen und sämtliche Fahrzeuge in ihrem Volumen aufzublasen, so lässt sich nun parallel dazu ein neuer Designtrend ausmachen. Flach und breitgeklopft – so präsentiert sich der neueste Einfall im Luxussegment. Differenz muss schließlich sichtbar werden. Was die schiere Dimension dieser Konzeptfahrzeuge angeht, so fühlt man sich ein ums andere Mal an die wuchtigen, üppig motorisierten Luxuskarossen der dreißiger und vierziger Jahre erinnert.
Geflügelt
Dabei treten die vorausblickenden Studien oft „geflügelt" auf. Kaum ein Designteam, das etwas auf sich hält, setzt in diesem Segment noch auf konventionelle Türen. Bei den neuen Raumgleitern der Megaklasse schwingt – manchmal sogar in Gestalt riesiger Doppeltüren – fast die gesamte Seite der Karosserie nach oben. Anscheinend verleiht nicht nur die bekannte Fassbrause mit dem roten Bullen im Namen Flügel, auch die Autodesigner brauchen offenbar große Schwingen, um die luftig wie Raumschiffe gestalteten Innenräume entsprechend in Szene setzen und ins Land der Zukunftsträume entschweben zu können. B-Säule? Das war einmal. Hinter solchen Entwürfen steht freilich nicht allein das Bedürfnis nach Extravaganz. Offenbar lassen sich die tragenden Strukturen des Autos inzwischen mit einer derart großen Steifigkeit ausführen, dass störende Mittelpfosten wegfallen können.
Beispiele gibt es viele: Zu nennen sind der Mercedes F 125! (ein schlauer Stratege hat das Ausrufezeichen nicht nur hinter die 125! Jahre, sondern auch gleich hinter die Nummer des neuesten Konzeptträgers gesetzt), der Peugeot „HX1", der Fisker „Surf" und – mit einem stärkeren Hang zum Sportwagen – der Aston Martin „One 77". Schließlich, nicht mehr Zukunftsmusik, sondern bereits zu haben, der Ferrari FF. Was die Monsterflügeltüren angeht, so muss man noch den Citroën „Tubik" hinzufügen, obgleich dieser aus einem ganz anderen Geist geboren wurde. Betrachtet man die Frontpartien, so besitzen fast alle Flachmänner einen breiten Haifischgrill, der mal mehr, mal weniger lächelt oder die Zähne zeigt, aber ohne Zweifel energisch zubeißen würde, wenn er denn tatsächlich einmal im Rückspiegel erschiene.
Wasserstoff im Schwamm
Der F 125! von Mercedes soll, ob mit oder ohne Ausrufezeichen, nicht nur eine Premium-Reiselimousine der übernächsten, etwa 2025 anstehenden, Generation sein. Auch die Technologie, die in ihm steckt, könnte, glaubt man den Ankündigungen von Daimler-Chef Dieter Zetsche, die Branche von Grund auf verändern. Etwa fünf Meter lang, ausgestattet mit zwei riesigen Flügeltüren aus Faserverbundstoff und vier Sitzplätzen, verfügt er über eine Brennstoffzelle, eine Lithium-Schwefel-Hochvoltbatterie und einen eigenen Elektromotor für jedes Rad mit einer Gesamtleistung von 231 PS sowie ein komplett neues Bediensystem. Dabei will Mercedes den Wasserstoff, den die Brennstoffzelle in elektrische Energie umwandelt, auf völlig neuartige Weise speichern: in einem sogenannten strukturintegrierten Verbundspeicher. Hinter dem technischen Begriff verbirgt sich eine Art Schwamm aus Metall, in dem Wasserstoff gespeichert werden kann. Zusammen mit der Energie des Akkus soll der F 125! dereinst auf eine Reichweite von rund tausend Kilometern kommen. Oder nehmen wir den Fisker „Surf", der nicht nur – der Name verrät es – durch Wind und über Land surft, sondern auch – Originalton – „der weltweit erste Elektro-Luxus/Sport-Wagen für einen aktiven und umweltfreundlichen Lebensstil" sein soll. Man merkt: In Sachen Luxus hat die Kontinentaldrift gerade begonnen und so bewegen sich nun breite, fache Platten auf jene zu, die sich das neue Effizienzspielzeug leisten können.
Wuchtig
Ästhetisch betrachtet fällt bei diesen Luxuslinern – der Gegenwart und der Zukunft – vor allem die geringe Höhe gepaart mit enormer Breite auf. Sie wirken sämtlich extrem geduckt und schon ob ihrer schieren Größe imposant. Lässt man einmal beiseite, dass ein sehr flacher Wagen zwar sportlich wirkt, das Einsteigen aber nicht eben bequem ist und sich obendrein nicht immer so graziös wie gewünscht bewerkstelligen lässt, so sind es vor allem Nachteile beim Manövrieren, die ins Gewicht fallen. Wer wollte so ein Teil schon durch eine enge Parkhausschnecke manövrieren? Vom viersitzigen Ferrari FF weiß man bereits, dass er mit einer Breite von 1953 Millimetern in deutschen Autobahnbaustellen, die auf der linken Seite eine Spurweite von gerade einmal zwei Metern haben, Probleme bekommt. Zur Breite kommt die fließende Form hinzu. Abgeschliffen wie ein Kieselstein oder wie zwischen Felsen hindurchströmendes Wasser, ducken sich die großen Flundern in den Wind. Peugeot fügt dem Kiesel beim „HX 1" kantige Spoiler hinzu und lässt die Scheinwerfer wie gefährlich spitze Klingen ausfahren – was naturgemäß weit von der Serie entfernt liegt. Ob Premium in Zukunft tatsächlich breit und flach daherkommt? Man wird sehen. Auch hier gilt freilich: Die Zeit heilt nicht nur so manche Wunde, sondern korrigiert auch so manche Übertreibung.
Tubik, das Rennschwein
Prägte die fahrende Wellblechgarage des Citroën Typ H – der von 1947 bis 1981 gebaut wurde – über Jahrzehnte das Bild französischer Wochenmärkte oder Handwerkereinsätze und stellte die automobile Grundversorgung in Sachen Transport sicher, so ist mit dem „Tubik" daraus nun ein Luxustransporter geworden, der tatsächlich aussieht wie ein Rennschwein. Natürlich haben es die Designer bei der Verwandlung der poveren Blechkiste übertrieben. Trotzdem verblüfft das Monster mit dem blauen Leuchtgrill in seiner extremen Form. Der Designansatz ist originell, wenn auch bei Citroën nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die Sache ist im Grunde simpel: Man nehme eine zum Rechteck tendierende Metallröhre und schiebe vorne eine – weiße – Front und hinten ein – weißes – Heck hinein, die beide auf martialisch getrimmt sind. Wem's gefällt!
Elektrisch
Der vernünftige Rest ist, wie könnte es anders sein, hybrid oder elektrisch. Sehr viel Neues lässt sich hier in Sachen Design nicht vermelden. Noch nicht, hoffen wir. Oder muss man hier noch einmal auf den Mercedes F 125! verweisen? Mia, Mia, nicht etwa Miau, Miau oder smart, smart, tönt es deshalb, wenn es um praktische und pfiffige Elektromobilität im urbanen Umkreis von rund 100 Kilometern geht. Denn der kleine Mikrobus „Mia" aus Frankreich ist mit seinem Einzelsitz vorne praktisch, durchdacht und überraschend uneitel. Auch der Smart „Forvision", ästhetisch zwar ein wenig zu playmobilhaft geraten, zeigt einige pfiffige Detaillösungen. Etwa die in die Rückleuchten integrierten Lüfter, die – angetrieben von Strom, der aus Solarzellen im Dach gewonnen wird – bei Bedarf heiße Luft aus dem Innenraum saugen. Ob die neuen ein- und zweisitzigen Rennsemmeln oder Kabinenroller für die Stadt – je nach Geschmack von Audi, VW, Opel oder Renault – am Ende in den Innenstädten gegen Elektrofahrräder oder Elektroroller werden konkurrieren können? Auch das wird sich weisen.
Vergangenheit und neuer Futurismus
Eines aber wird auf dieser 64. Internationalen Automobilausstellung klar: Das Auto ist noch längst nicht am Ende seines Weges angekommen. Und das nicht nur, weil die Fahrzeugindustrie groß, mächtig und volkswirtschaftlich unverzichtbar, sondern weil sie auch innovativ und flexibel ist. Der neue Futurismus, der propagiert wird, ist schnell, sauber und sozial. Weiß eben. Man könnte auch sagen: Die Zukunft wurde noch nie zuvor mit soviel Aufwand gestaltet – und bleibt trotzdem ein weißes Blatt. Und vielleicht ist ja schon bald weniger Design mehr Design. Dann hätten vielleicht auch jene Arbeitstiere wieder eine Chance, die noch aus einer tatsächlich vor Dreck strotzenden Vergangenheit stammen und heute wie Fossilien in die auf Weiß programmierte Zukunft ragen, die unbedingt gewonnen werden muss. Noch steht eines davon bei Land Rover. Aufrecht, kantig, voller Nieten: der Defender. Durch und durch eine ehrliche Haut. Ein Kriegskind, wie so vieles. Gleich daneben posiert unter dem Kürzel „DC100" die erste Studie seines Nachfolgers. Der Beau ist nicht schlecht gelungen. An einem aber mangelt es ihm: an Charakter und Durchhaltevermögen. Aber das ist eine andere Geschichte.