In eine fast verschwundene und vergessene Welt führt der israelische Pavillon in den Giardini, der sich nicht in Kunstinstallationen flüchtet, sondern Sejimas Biennale-Thema „People meet in Architecture" beim Wort nimmt. Um sozialen Raum, um Interaktion und den Entwurf einer anderen Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Industriegesellschaft geht es beim israelischen Beitrag. Sehr informativ und zugleich kurzweilig stellt er die Entwicklung des Kibbuz zur Diskussion, an der Architekten einen bedeutenden Anteil hatten, die dabei ganz eigene, unverwechselbare Räume hervorgebracht haben. Die Kibbuzim waren ein Laboratorium für neue Ideen des Zusammenlebens, Orte der Moderne, die großen Einfluss auf die israelische Gesellschaft und auf die Landschaft hatten.
In der Mitte der Gesellschaft
In gewisser Weise war der Kibbuz die Geburtszelle Israels, der Ort, an dem die Immigranten aus vielen Teilen der Welt den Aufbau eines neuen Landes erprobten. Zwar leben heute nur noch etwa drei Prozent der Bevölkerung Israels in einem Kibbuz. Doch bringen die Kibbuzim immerhin noch vierzig Prozent der Agrarproduktion und sieben Prozent der Industriegüter des Landes hervor und dominieren den Sektor sozialer Dienstleistungen. Eine Erfolgsgeschichte, aber auch eine Geschichte des Scheiterns, stellt die Entwicklung der Kibbuzim dar, die oft schonungslos verändert wurden und sich in den letzten dreißig Jahren radikal neu wirtschaftlich und sozial positionieren mussten. Ihre Genese und ihr Wandel sind das Thema der Ausstellung „Kibbuz: An Architecture without Precedents" von Yuval Yasky und Galia Bar-Or, der es ohne ermüdende Texttafeln gelingt, den Besucher in die Welt der Kibbuzim eintauchen zu lassen. Ganz auf Interaktion, auf Bewegung und Perspektivwechsel setzt ihre Ausstellung, die mit Videodokumenten und Stapeln von Druckfahnen eine künstliche und sehr physische Landschaft der Information schafft.
Inseln oder Hügeln gleichen die einzelnen Abschnitte, die umwandert, erkundet und verändert werden wollen. Jeder Besucher kann sich seinen eigenen individuellen Ausstellungskatalog zusammenstellen, indem er sich von den verschiedenen Stapeln die Zeichnung, das Foto oder den Text, an dem er interessiert ist, abreißt und dabei Einfluss auf die Ausstellungstopographie nimmt, was jede Menge faszinierter Besucher auch taten.
Hier ließen sich Ideen des Bauhauses realisieren
Der Beginn der Ausstellung ist dem Werk ausgewählter Architekten und Städtebauer gewidmet, bezaubernden modernen Siedlungsanlagen, dem Darstellungen verschiedener, eigens für die Kibbuzim geschaffener Gebäudetypen folgen. Historische Filmaufnahmen sowie Videointerviews mit Zeitgenossen lassen Geschichte lebendig werden und entführen den Betrachter in eine Welt, die uns heute fremd, aber auch faszinierend erscheint.
Ergreifend ist etwa die Videoinstallation des berühmten israelischen Filmemachers Amos Gitai über seinen Vater Munio Gitai Weinraub (1909 bis 1970), einem Kibbuz-Architekten, der am Bauhaus studierte. Munio Gitai Weinraub, aber auch andere Bauhausschüler wie Arieh Sharon oder Samuel Bickels, Shmuel Mestechkin oder Richard Kauffmann, brachten damals aus Europa die fortschrittlichsten Ideen nach Israel, wo sie Realität werden konnten. Selbst der kleinste Kibbuz verfügte dadurch über umfassende Kultur- und Sozialeinrichtungen, über multifunktionale Kultur- und Kinderhäuser, Mensabauten und Gartenanlagen. Neue Bautypologien wie das „Mivnei tarbut", das Kulturhaus, oder das „Beit Yeladim", das Kinderhaus, wurden entwickelt. Für den kollektiven Lebensentwurf des Kibbuz konzipiert, unterschieden sie sich grundlegend von ihren europäischen Vorläufern. Das „Beit Yeladim" war mehr als nur ein Kindergarten in dem die Kinder auch schliefen, und mehr als nur ein Kulturhaus, wie wir es kennen, war auch das „Mivnei tarbut", in dem über die Zukunft des Kibbuz und später des Landes diskutiert und entschieden wurde.
Das Land umgestalten
Die Qualität dieser Bauten, aber auch das überraschend lange funktionierende Experiment eines kollektiven Lebens überraschen und beeindrucken durchweg. Tel Aviv als weiße Stadt der Moderne, wo viele Avantgardisten wunderbare Gebäude schufen, wurde vor mehr als einem Jahrzehnt wiederentdeckt. Doch kaum ein Besucher der Ausstellung wusste zuvor etwas über die architektonische und urbanistische Leistungen der Kibbuz-Bewegung, die mit mehr als 270 seit 1910 erbauten Kibbuzim das Land umfassend umgestaltet hat. Einem Land wie Israel, das heute nur noch eine beklagenswerte Baukultur des Abrisses, brutaler Eingriffe in Landschaft und Stadtgefüge besitzt, stellt diese Ausstellung das Bild einer anderen, vergangenen Kultur gegenüber, die es wert wäre, wieder aufgenommen und produktiv weiterentwickelt zu werden. So zumindest wollen Yuval Yasky und Galia Bar-Or ihre Ausstellung verstanden wissen, die bewusst auch die heutige Situation vieler Kibbuzim thematisiert.
Auf der Suche nach neuen Lebensformen
Der Wandel der Kibbuz-Bewegung, die sich in der Wirtschaftskrise der achtziger Jahre und einem Finanzskandal neu definieren und vom Kollektivismus zu privatwirtschaftlichen Modellen wechseln musste, gibt heute Anlass zur Hoffnung. In steigender Zahl entdecken junge Leute den Kibbuz wieder für sich, nicht mehr auf der Basis eines kollektiven Lebens, sondern als Ort neuer, gemeinschaftlicher Lebensformen und Lebensentwürfe. Ihre und unsere Sensibilität für die faszinierenden Räume der Kibbuzim zu wecken, für die fast vergessenen Leistungen ihrer Erbauer und Akteure, ist das Verdienst dieser gelungenen Ausstellung, die als historisches Dokument und zugleich als Manifest wirken will.
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale
› Axel Simon über den japanischen Pavillon und Tokio als metabolistische Stadt voller Puppenhäuser
› Annette Tietenberg über den Pavillon Bahrains, der mit einem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde
› Axel Simon über die Inszenierung von Zukunftsvisionen
› Claus Käpplinger über Brückenbau in der Schweiz
› Carsten Krohn über Brasilia als Anti-Stadt