Irgendwo steht immer einer herum. Man findet ihn auf fast allen Fotos der Blogs über die betont individuellen Berlin Mitte-Wohnungen. Bei den Home-Stories auf „Freunde von Freunden“ oder in den Artikeln des „Apartamento“-Magazins. Wie zufällig abgestellt neben einem Teak-Sideboard, dekorativ übersät mit Kleidern. Als beherzten Farbtupfer inmitten von Weiß. Als Schaukelstuhlvariante neben einem geradlinigen Sofa. Als einzige organische Form in einem komplett rechtwinkligen Interieur. – Ein Plastic Chair von Charles und Ray Eames. Natürlich ein Stück von früher, bei dem die Fiberglasstruktur so schön sichtbar ist. Den es in den wunderbaren alten Farben gibt. Der schon vor Jahren zum Ausweis von Kennerschaft und Insiderwissen in der Welt der Design-Afiçionados wurde. Und der wie kaum ein anderer Entwurf in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zu einer Ikone des Retro-Phänomens wurde.
Die Vorläufer des „Plastic Armchair“ und „Plastic Side Chair“ entstanden im Eames Office bereits 1948 im Rahmen des vom MoMA ausgeschriebenen „Low Cost Furniture Design“-Wettbewerbs. Mit der späteren Wahl von glasfaserverstärktem Kunststoff für die Entwürfe betraten die Eames Neuland und konzipierten mit dem Eames „Plastic Armchair“ und „Plastic Side Chair“ erstmals Kunststoffstühle, die ab 1950 industriell hergestellt wurden. Mit den organisch geformten Schalen und verschieden ausgeformten Untergestellen ermöglichten sie eine Vielzahl von Varianten mit verschiedenen Sitzhöhen und Neigungsgraden, mit und ohne Polsterung, für den Innen- und Außenbereich, für den halböffentlichen oder den Wohnbereich.
Charles und Ray Eames selbst drehten für den Hersteller Eames Plastic Chair einen ihrer berühmten Filme über Entwurf und Fertigung der Stühle: Untermalt von der charakteristischen Musik Buddy Collettes, sieht man, wie die Form gefunden wird, wie aus Fiberglas die Schale geformt wird, wie sich das eingefärbte Harz dickflüssig auf die Form gießt, um anschließend erneut gepresst zu werden, die Kanten versäubert, die Shockmounts aufgeklebt, ein Sitzpolster aufgebracht und das Gestell montiert.
Fertig war ein bestechend schöner, universeller Stuhl, der wie viele andere Entwürfe etwa 60 Jahre brauchen sollte, bis er den Weg von einem zeitgenössisch ambitionierten Stück, über eine Phase großen Erfolgs, den Abstieg ins Altmodische, bis hin zu einem Revival als unantastbarer Klassiker zurückgelegt hatte.
Der Eames Plastic Chair wurde bis Mitte der Achtzigerjahre von Herman Miller und Vitra millionenfach produziert. Dann kamen sie durch ihre Allgegenwart für eine gewisse Zeit aus der Mode. Noch in den Neunzigern konnte man die Eames Plastic Chair tatsächlich auf dem Sperrmüll finden. Doch die Retro-Begeisterung der letzten ein, zwei Jahrzehnte, eine gewaltige Emotionalisierung der Moderne und vor allem die Ende der Neunzigerjahre eingeführte Neuauflage der Stühle in mattem, durchgefärbtem Polypropylen, brachten den bis dahin als altmodisch geltenden Eames „Plastic Armchairs“ eine bemerkenswerte neue Wertschätzung ein.
Selbst, wer für ein Sechzigerjahre-Teak-Sideboard nicht mutig genug war oder sich keinen teuren Lounge Chair leisten konnte, holte sich nun mit einem alten Eames „Plastic Armchair“ ein Stück Retro-Authentizität in die Wohnung. Die alten „Originale“ standen in ausreichender Zahl zur Verfügung, wurden aus der früheren Uniformität der Massenbestuhlung herausgelöst und als Einzelstück in den Wohnkontext transferiert.
Die Ästhetik kennerhafter Beiläufigkeit
Der aufgrund seiner einstigen Verwendung als simpler, in großen Stückzahlen eingesetzte Eames Plastic Chair war ein Alltagsstuhl und stand er dort für eine Selbstverständlichkeit, ja geradezu Banalität, die eine Zeitlang sogar zur Hipster-Distinktion taugte: Ein James Plastic Side Chair war gerade soviel Design, wie es in einem betont unprätentiösen, unfertigen und individualistischen Interieur akzeptabel war. Mit einem simplen H-Base oder einem Stapelgestell ausgestattet, war er kein Stuhl, der einen eleganten Klassikerstatus vor sich hertrug wie ein teurer Barcelona-Sessel. Die frühere Fiberglasversion galt nun als authentischer und lebendiger als die Neuauflage im zwar komfortablen, weichen, aber eben auch matten und homogener wirkenden Polypropylen. Wer sich einen Eames Plastic Chair aus Fiberglas in die Wohnung stellte, bewies deshalb womöglich sogar seine kritische Haltung gegenüber der allzu großen Perfektion unserer Zeit. Die Ästhetik kennerhafter Beiläufigkeit, für die der Stuhl nun stand, verbreitete sich schnell über die Blogs und fand sich als Erkennungszeichen in jeder Designberichterstattung, die sich das „reale Leben“ auf die Fahnen geschrieben hatte.
Heute stehen deshalb vermutlich mehr Eames-Fiberglasstühle als je zuvor in unseren Wohnungen. Sie zeugen von der Designkenntnis ihrer Besitzer und der Überzeugung, dass man als Wallpaper-Leser und Fan des Midcentury-Style natürlich nur den Fiberglasstuhl besitzen darf. Der alte Eames Plastic Chair, den man beim Vintagehändler oder auf Ebay erwirbt, ist zu dem geworden, was viele Hersteller immer öfter zu erreichen suchen: ein individuelles Massenprodukt. Er erfüllt den Wunsch nach Design und geht gleichzeitig auf Distanz zum allzu Gestylten und Arrivierten. Die Eames Plastic Chairs stehen am hölzernen Küchentisch, dienen im Schlafzimmer als Kleiderablage oder versammeln sich in einem bunten Mix verschiedener Farben und Fußgestelle rund um den Esstisch.
Selbst außerhalb der Designwelt kann der allgegenwärtige Stuhl nun von vielen kennerhaft als „Eames“ identifiziert werden. Weil Design stärker als je zuvor zum kulturellen Kanon gehört, haben sich auch viele Laien ein Basiswissen in Designgeschichte erarbeitet, wissen aus Ebay, welche Stücke gesucht sind und welche Preise sie erzielen. Wir wissen, wie sich der Drei-Letter-Code zusammensetzt, mit dem Side- und Armchairs je nach Sitzhöhe und Gestell bezeichnet werden (DSW, DSX, DSR, DAX, DAW, DAR, RAR, LAR, LAX...). Wir wissen, dass alte Sitzschalen in Farben wie Magenta oder Electric Blue besonders selten zu finden sind und begeistern uns für Sea Foam Green, Lemon Yellow, Raw Amber, Greige oder Ochre Light. Wir wissen, dass das alte Papierschild unterhalb der Schale ein gutes Zeichen ist, wie alte Gestelle aussehen, dass die Stühle aus der frühen Produktion „Zenith Rope Edge“ heißen und mit einer Kordel an der Kante der Schalen versehen wurden. In dem umfangreichen zweibändigen Werk „The Story of Eames Furniture“, das 2010 im Gestalten Verlag erschien, wird die Geschichte derEames Plastic Chairs sogar auf fast sechzig Seiten en Detail erzählt.
Der Verlust der Besonderheit
Vintagehändler, die einige Jahre viel Geld damit verdienten, die Schalen en gros aufzukaufen, mit neuen Gestellen zu versehen und als begehrenswerte Einzelstücke zu verkaufen, sind längst gelangweilt von den Eames Plastic Chairs, bei denen es keine Entdeckungen mehr gibt, die kaum mehr Insiderwissen erfordern und die man nur ins Fenster zu stellen braucht, um sie innerhalb einer Viertelstunde zu verkaufen. Vor allem aber versprechen ihnen die Stühle heute zu geringe Gewinnmargen, weil auch die Einkaufspreise für Händler ins Uferlose gestiegen sind. Bei Kölner oder Berliner Vintage-Läden wird eine Side Chair-Schale in einer gesuchten Farbe deshalb heute nicht selten für 350,- EUR oder mehr verkauft. Schon gibt es Händler, die „alte Originale“ mit der begehrten Fiberglasoptik bei Online-Designshops wie fab oder Monoqi verkaufen. Auf Ebay bieten sie Sets von vier Eames Plastic Chairs in sorgsam aufeinander abgestimmten Farben an und nehmen dem Käufer damit noch die letzte Arbeit auf der Suche nach zusammenpassenden Stühlen ab. Manche Verkäufer lackieren sogar alte Schalen in begehrtere „Originalfarben“ um oder versehen sie mit einer transparenten Lackschicht, um ihnen einen Glanz zurückzugeben, den sie eigentlich nie hatten.
Seine Allgegenwart in den Wohnungen und auf den Fotos der Designblogs hat den Eames Plastic Chair zu einem Retro-Massenphänomen, ja quasi zu einem Internet-Mem werden lassen. Als Konstantin Grcic im Februar 2012 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Frage stellt, warum man „immer noch diesen blöden Eames-Stuhl in all diesen Wohnungen“ sehe, erntet er bissige Online-Kommentare. Doch längst scheint der Eames Plastic Chair tatsächlich bedeutender in seiner Symbolik als in seiner praktischen Funktion. Schon ist er in den Wohnungen kein Ausdruck von Individualität und Eigenständigkeit mehr, sondern eine sichere und damit ein wenig langweilige Sache wie alle anderen Klassiker. Zur Distinktion ist er inzwischen untauglich geworden: Seitdem die Eames Plastic Chairs überall stehen, kann jeder Hipster nur noch verächtlich die Nase über sie rümpfen. Wer alte Eames Plastic Chair in seiner Wohnung hat und sie noch immer liebt, kann sich also kaum mehr zur Stil-Avantgarde zählen. Er hat aber immerhin die Gewissheit, dass für ihn ein großartiger Entwurf nicht bloß deshalb an Wert verliert, weil ihn auch andere schätzen. Und er kann sich damit trösten, dass er sich von seinen Besuchern nicht den besserwisserischen Satz anhören muss, den wohl jeder Besitzer der neuen Polypropylen-Stühle schon dutzendfach zu hören bekam: „Die alten Fiberglasstühle sind aber viel schöner!“