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Der Bescheidene
von Thomas Wagner | 12.01.2016
Jasper Morrison entwickelte für die documenta 8 in Kassel den "Reuters News Room". Abbildung © Jasper Morrison Ltd.

Das Weltumspannende hat uns im Griff. Die Effekte spürt jeder. Seit sich der heimatliche Himmel zum globalen Horizont geweitet hat, ist der Nahbereich unmittelbarer Erfahrung geschrumpft – mediale Lücken hinsichtlich Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit inklusive. Wer weiß, vielleicht soll der so entstandene Riss in der eigenen Anschauung deshalb mittels einer Fülle von Informationen aus aller Welt gekittet werden, die unablässig über diverse Medien und das Netz in den Alltag eines jeden gespült werden.

Jasper Morrison, der gerade von der Zeitschrift „A&W Architektur und Wohnen“ zum Designer des Jahres 2016 gekürt wurde, ist nicht nur ein herausragender Gestalter, der – Auftrag hin, Auftrag her – ein in sich erstaunlich konsistentes Werk vorzuweisen hat. Er ist, was oft vergessen wird, obendrein ein präziser Beobachter und Analytiker. In exakten Selbstbeschreibungen, luziden Essays und erhellenden Thesen denkt er immer wieder über den Designprozess und eine globalisierte Produktionsweise nach. Er liebe das Theoretisieren, hat er einmal bekannt, ziehe ihm die Arbeit als Designers aber vor.

Eine Britisch-Japanisch-Skandinavisch-Italienische Mischung

Es mag seiner recht britischen Nüchternheit geschuldet sein, dass er nicht in die Gefahr gerät, auf einen technikverliebten und ingenieuerhaften Funktionalismus hereinzufallen. Zur Mitgift seines Schaffens gehört freilich auch ein untrüglicher Sinn fürs Nötige und Wesentliche, der, was selten genug vorkommt, gepaart ist mit einem körperlich-haptischen Gespür für die Prägnanz und Eleganz des Einfachen. Glaubte man noch an Nationalcharaktere, man könnte Morrisons Design auch als exquisite Britisch-Japanisch-Skandinavisch-Italienische Mischung bezeichnen, die, das versteht sich von selbst, nur aus den besten Zutaten besteht.

Nur eine Auswahl der von Morrison gestalteten Stühle. Von links nach rechts: "Air- Armchair" für Magis, "HAL" für Vitra, "Pipe Chair" für Magis, "Basel Chair" für Vitra, "Bac Stuhl" für Cappellini. Bilder © Hersteller

Etwas besser machen als das, was es bereits gibt

Wie immer man das Mischungsverhältnis beschreiben möchte, Morrison hat sich ein ums andere Mal als Meister der Bescheidenheit erwiesen. Sein Credo klingt denn auch so schlicht wie seine Arbeiten auftreten: Etwas besser machen als das, was es bereits gibt. Untermauert hat er diese uneitle Haltung in dem (zusammen mit Naoto Fukasawa entwickelten) Konzept „Super Normal“. Nicht im Autorendesign, so die These, sondern in den zahllosen, in ihrem Gebrauch unauffälligen und anonym gestalteten Dingen komme das Gestalten zu sich selbst.

Dass Morrison kein Held des Designs sein möchte, sich entsprechend als Person zurücknimmt und sich lieber auf die eigene Arbeit als auf deren Kommunikation konzentriert, kommt nicht von ungefähr. Schon sehr früh hat er sich mit Nachrichten, den Mechanismen ihrer Aufbereitung und Zirkulation beschäftigt und 1987 für die documenta 8 ein Nachrichtenzentrum entwickelt und gestaltet.

Eine schlichte Nachrichtenbox

Betrachtet man die Fotografien des „Reuters News Room“ und versucht sich an den mit Papier vollgestopften Raum im Obergeschoss der Kasseler Orangerie zu erinnern, so fällt einem zunächst die improvisierte Schlichtheit von Morrisons Environment wieder ein. Die Machart war einfach, der Raum schien eher collagiert oder gebastelt als bis ins letzte Detail durchgestaltet zu sein – und das bei einem, der inzwischen für seine bis ins Kleinste reichende Präzision bekannt ist. Medientechnisch betrachtet wirkt das Ensemble heute fast so, als betrete man in einem in Schwarzweiß gedrehten Western das Büro einer kleinen Provinzzeitung, einen Raum, in dem neben einem Telegraphen ein Setzkasten mit Buchstaben für Bleisatz und eine einfache Bogenpresse steht.

"Reuters News Room" auf der documenta 8. Foto © Studio One

In Morrisons schlichter Box sind in die hintere Wand drei Monitore und ein Fernschreiber eingelassen, der auf Endlospapier andauernd Neuigkeiten auswirft. Davor befindet sich ein runder Tisch, der auf einem tonnenförmigen Fuß ruht, und um den herum drei einfache Bürostühle stehen. Man erkennt eine Weltkarte, ein Barometer, ein Radio, in der Ecke einen Kleiderständer, eine Bibliotheksleiter – und die schwarz gestrichenen Wand gegenüber der Weltkarte ist mit jeder Menge ausgedruckten Nachrichten gepflastert.

Anregungen fand er eher auf der Straße

Das Nachrichtenzentrum, das Jasper Morrison für den von Michael Erlhoff verantworteten Design-Teil der documenta 8 realisiert hat, ist ein frühes, wenig bekanntes und noch von einer erkennbaren Distanz zu Auftraggebern und Herstellern geprägtes Projekt – idealistisch und politisch zugleich. Morrison hat sich, als er 1986 sein Büro in London gründete, zunächst mit der „Neubewertung industrieller Prozesse“ beschäftigt. In einer Diskussion mit Designern, Unternehmern und Theoretikern über „Geo-Design“, die von der Zeitschrift „Domus“ publiziert wurde, hat er im Rückblick seine damalige Situation folgendermaßen beschrieben: „Als ich das College 1985 beendet hatte, war ich sehr von Memphis beeinflusst. Mein Geisteszustand lässt sich als sehr romantisch und poetisch beschreiben. Anregungen fand ich eher auf der Straße als am Schreibtisch vor einem weißen Blatt Papier. Man war einfach besser dran, wenn man draußen herumlief, sich betrank und darauf wartete, dass sich eine Inspiration einstellte, wenn am nächsten Morgen das Gehirn wieder zu arbeiten begann. Ich arbeitete an vielen ,gefundenen’ Projekten, an etwas, das von Dingen angeregt wurde, die ich zum ersten Mal auf der Straße gesehen hatte. Das entschädigte mich für den Mangel an Kontakten zur Industrie – ich hatte keine Partner in der Industrie, für die ich arbeitete, also musste ich mir, gewissermaßen zum Ausgleich, selbst etwas suchen.“

Unter anderem fand er den „industriellen Prozess“ der Herstellung von Nachrichten. Dabei war das Ausspähen des (damaligen) Gehirns der Informationsgesellschaft ebenso gestalterisch wie politisch motiviert. Wissen mag nicht unabhängig von Macht existieren. Das bedeutet aber nicht, dass die bestehenden Machtverhältnisse undurchschaubar und unabänderlich bleiben müssen. Nachrichten sind weder objektiv noch neutral. Sie auszuwählen und zu erstellen, ist ein sensibles Geschäft, das auch in Zeiten globaler Netzwerke auf Vertrauen basiert.

Hinter die Kulissen blicken

Um die Mechanismen, die in der Nachrichtenproduktion am Werk sind, transparent zu machen, verwandelt Morrison den Empfänger und Konsumenten in einen Akteur, der hinter die Kulissen blickt. Welche Quellen sind seriös? Wo muss nachgehakt werden? Wer filtert aus der enormen Zahl eingespeister Informationen rasch und geschickt heraus, was für einen bestimmten Kreis von Nutzern von Interesse ist? Wer macht die bessere Schlagzeile, wer zieht die interessanteren Gesprächspartner an Land?

Morrisons Produktdesign für Punkt. Fotos © Punkt.

Kein Wunder, dass Nachrichtenchefs oft das Naturell von Rennpferden oder lauernden Raubkatzen haben, auch wenn sie meist so gelassen und belastbar wirken wie Autobahnbrücken, über die beständig Vierzigtonner donnern. Immer bereit zu reagieren, erwarten sie das Eintreten des Unerwarteten, dem sie sich bereitwillig an den Hals werfen, um es so routiniert wie erfahrene Jäger zu erlegen. Das Aktuelle ist ein scheues Tier. Bevor es zur Nachricht wird, will es aufgespührt, eingefangen und zubereitet werden.

Aktiv mit Nachrichten umgehen

In einem Text, der im Katalog zur documenta 8 abgedruckt ist, erläutert Morrison die Absichten, die er mit seinem Enviroment verfolgt hat: „Der Grundgedanke des Nachrichtenzentrums ist, die fortgeschrittenste Technik der Nachrichtenübermittlung im Fernsehen mit einer Ansammlung anderer, heute als primitiv und veraltet erscheinender Informationsmedien zu kontrastieren. Durch ihre Vielfältigkeit beleben sie das ganze Ensemble. Sie ,komplettieren’ es und verleihen ihm darüber hinaus eine humoristische Dimension.“ Morrison agiert als Künstler und als Designer. Er zeigt die Asynchronität der zur Verfügung stehenden Medien, die Parallelität von „alter“ und „neuer“ Technik, um der Sache mit Humor beizukommen. Vor allem aber führt er vor, wie sich aktiv mit Nachrichten umgehen lässt: „Durch die furchtlose Einstellung gegenüber dem Fernsehen, gepaart mit der spielerischen Aufmachung des Raumes, wird das Publikum zur aktiven Teilnahme ermutigt. Scheren sind vorhanden, eine Leiter und Heftnadeln, die jedermann benutzen kann. Das Publikum hat die Wahl, den Raum aufzuräumen oder ihn mit den ausgedruckten Nachrichten zu überdecken.“

Ein Haufen Papiermüll

Aus passiven Konsumenten werden kritische Nutzer. Bewusst delegiert Morrison seine kritische Haltung an all jene, an die Informationen und Nachrichten adressiert sind: an uns alle. Ermöglicht wird eine alle Sinne erfassende Erfahrung, die Gegenkräfte mobilisiert. Besonders dann, wenn sich die Vielzahl der gleichzeitig auf verschiedenen Kanälen einlaufenden Informationen in eine Kakophonie verwandelt – oder sichtbar in einen Haufen Papiermüll. Was sie, als leicht verderbliche Ware, binnen kurzem ohnehin tut. „Im Verlauf der Ausstellung“, so Morrison, „wird die Pin-Wand mit einer immer dickeren Schicht von Nachrichten bedeckt. Radio und Fernschreiber sorgen für die akustische Bereicherung des Raumes. Der Hutständer erinnert an den Journalismus vergangener Zeiten, Barometer und Weltkarte vermitteln den Eindruck einer Wetterstation. Die zum Teil sehr einfachen Materialien verstärken den Kontrast zwischen hochentwickelter Technologie und simpler Technik.“

Aus dem Raum scheinbar objektiver Nachrichten ist die Bühne einer Informationsperformance geworden. Spielerisch werden auf ihr Gewinne und Verluste, Risiken und Manipulationsmöglichkeiten im Umgang mit dem Material „Information“ bilanziert. Ihr Adressat verwandelt sich in einen Nutzer, der die Produktion aktiv testet und dabei feststellt, wie kontingent und entropisch der Prozess der Informationsverarbeitung verläuft.

Einen eher selbstreflexiven Aspekt der Sache hat Michael Erlhoff damals in seinem Kommentar betont. In Morrisons Environment, so stellt er fest, werde am „härtesten Bollwerk des offizialisierten Designs gerüttelt“, an der „Beschwörung von Professionalität“. Diese, so Erlhoff, helfe, „da nur Langgediente über deren Konstitutionsbedingungen zu verfügen scheinen – als vorzügliche Abwehr gegen jegliches Neue und gegen alle Jüngeren“, nicht nur im Journalismus. „Als sei Professionalität Besitz und Bürde, Resultat von Fleiß und Tatkraft, während sie doch nur Floskel ist, die Ordnung bei Tisch zu sichern.“

Der Autor tritt hinter sein Produkt zurück

Im Unterschied zu den 1980er-Jahren, als das Design sich von alten Fesseln zu befreien suchte, mag man heute anders darüber denken. Erlhoff gesteht Morrison denn auch zu, er arbeite „sehr englisch“ an „einer Reorganisation gerühmter Insel-Professinalität und an einer Erneuerung industrieller Prozesse“. Man muss das Stichwort „Professionalität“ zudem nur durch „Autorendesign“ ersetzen, um in Morrisons Arbeit für die documenta bereits die Tendenz zu erkennen, als Autor hinter das eigene Produkt zurückzutreten. Vordergründig aber entkleidet Morrison den Schein eines professionellen Umgangs mit Informationen bis auf die Knochen: „Pressebüros“, so Erlhoff, „beeindrucken wegen der in ihnen aufgehobenen Geste von Aktion, Zeitgeist und Kommunikation. Jasper Morrison rekonstruiert diese Geste und stellt sie aus, indem er die glorreiche Tradition des Journalismus präzise zitiert und – unterstützt von einer der führenden Presseagenturen – mit modernsten Kommunikationstechnologien mischt. So entsteht das Image von Pressebüro und dies fordert Haltung ein.“

Morrison unterläuft mithin die auf Kontrolle bauende Geste, indem er sie auf eine bewusst dilettantische Weise rekonstruiert, Zweifel, Kritik und Humor in die Festung eindringen lässt. Aus der selbstherrlichen Schaltzentrale des Immerneuen macht er eine Theaterbühne, auf der Laien agieren. Das Stück, das gespielt wird, aber handelt auf lustige Weise von der mächtigen Ohnmacht eines anonymen Nutzers.


www.awmagazin.de
www.jaspermorrison.com

Jasper Morrison. Foto © Kento Mori