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Reinier de Graaf
Partner, OMA
Reinier de Graaf ist Partner von Office for Metropolitan Architecture (OMA). Er ist Leiter des Thinktanks AMO von OMA und zuständig für Projekte, die sich einem weiter gefassten architektonischen Diskurses jenseits von Gebäuden und Stadtplanung widmen. Zu den Projekten gehören: „The Image of Europe“ – im Mittelpunkt steht das ikonografische Defizit der EU; „D-40210“, eine Strategie zur Vermeidung weiterer Gentrifizierung europäischer Stadtzentren; „Eurocore“, hier geht es um die Umrisse der ersten grenzüberschreitenden Metropole Europas (sie erstreckt sich über Teile der Niederlande, Deutschlands und Belgiens; sowie „The State of Moscow“, ein Entwurf für ein transparenteres Verwaltungssystem für Moskau. Überdies ist Reinier de Graaf für das wachsende Auftragsvolumen im Bereich Energieplanung zuständig, dazu gehören auch „Zeekracht“ – ein strategischer Masterplan für die Nordsee; „Roadmap 2050“ – Eine praktische Anleitung für ein erfolgreiches, kohlenstoffarmes Europa, zusammen mit der European Climate Foundation; sowie „The Energy Report“ – ein globaler Plan für 100% erneuerbare Energie, gemeinsam mit dem WWF.

www.oma.com
04.12.2013 | Architekturkolumne
Das ungewisse Erbe des letzten Jahrzehnts

Im September 2008 nahm eine der weltweit größten Wirtschaftskrisen seit der „Großen Depression” in den 1930er Jahren ihren Anfang. Diese Krise schlug sich vor allem in der Bauindustrie nieder, die in den vorangegangenen Jahren einen beispiellosen Boom erfahren hatte. Von 2000 bis 2007 wurden weltweit mehr Quadratmeter bebaut als in der gesamten Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Dieser Boom wurde 2008 abrupt beendet als die Aktien- und Immobilienmärkte zusammenbrachen und 28,8 Billionen US-Dollar an globalem Vermögen (Vgl. sechsten McKinsey Global Institute Bericht für „Global Capital Markets”, September 2009) vernichtet wurde.

Die architektonischen Überreste dieses Booms kennt jeder: noch höhere und extravagantere Konstruktionen für eine noch herausragender Skyline, einzelne Gebäude, die von der Erwartung beschwert wurden, dass sie das gesamte Gesicht einer Stadt verändern sollten und die “Kultarchitektur“ als gemeinsame Wertvorstellung der ansonsten tief gespaltenen Berufsgruppe der Architekten. Mit einer Architektur, die unablässig dem nächstgrößeren Exzess entgegentrieb, wurde zwangsläufig ein objektiverer (und abstrakterer) Organisationsmechanismus erforderlich. Ganz beiläufig, fast schon als Nebenprodukt des Wachstumsmotors, kam die urbane Stadtplanung wieder zum Vorschein, dem Vehikel, um der Nachfrage nach immer größer werdenden gebauten Strukturen zu begegnen.

Diese Rehabilitation der Stadtplanung als das “ andere Produkt“ des Baubooms ging fast unmerklich vonstatten. Die Architekten haben den Bereich der urbanen Planung nur allzu gerne den großen Ingenieurbüros überlassen, was dazu geführt hat, dass eine Dokumentation der gängigen Praxis und Theorie der Stadtplanung der vergangenen zehn Jahre im Prinzip nicht existiert. Als Architekturbüro haben wir diese stille Revolution miterlebt und an ihr teilgehabt. Aus allernächster Nähe konnten wir nachverfolgen, wie Städte mit einer Verwegenheit Zukunftsszenarien entwickelten (und entwarfen), wie man sie zuletzt zu Le Corbusiers Zeiten gesehen hatte. 2007 erwirtschafteten wir 40 Prozent des Geschäftsumsatzes unserer Büros durch Aufträge für den Entwurf großer Masterpläne. Im Gegensatz dazu führte die Krise im Jahr 2008 dazu, dass sehr viele Planungsvorhaben für unbestimmte Zeit ausgesetzt wurden und seitdem in der “ Warteschleife“ zwischen Abbruch und Weiterführung verharren.

Was zurückbleibt ist ein architektonisches Opus, welches wir vorwiegend durch Bilder kennen: Visionen der Zukunft, geplant in einer Zeit enormer Nachfrage und wirtschaftlichen Aufschwungs. Der Boom vor der Krise, auch wenn er ausschließlich von den Kräften des Marktes angetrieben wurde, erlaubte es tatsächlich, seit 50 Jahren erstmals, einen Blick auf die neue und kompromisslose Modernität zu werfen. Das reine Ausmaß vieler Maßnahmen erlaubt eine Vorschau auf das, was passiert, wenn eine einzelne Vision die Oberhand gewinnt und die Stadt in ein imaginäres Universum verwandelt, durchdrungen von Ide(al)en mit unbeirrter Endgültigkeit und umgesetzt ohne jede Abweichung . In dieser Hinsicht offenbart sich die wahre Bedeutung des letzten Jahrzehnts überaus deutlich in den Bildern nicht realisierter urbaner Visionen und nicht so sehr in architektonischen Ikonen, die tatsächlich gebaut wurden.

Was kommt als Nächstes? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen sich viele Fragen. Wird der Boom vor der Krise als Irrweg in die Annalen der Geschichte eingehen oder als wegweisender Vorläufer behaupten? Ist die Warteschleife nur ein willkommener Euphemismus, um die Hoffnung lebendig zu halten, die gemeinsame Unfähigkeit, den Fakten ins Auge zu schauen (was Klienten und Architekten gleichermaßen betrifft) oder bezeichnet sie nur eine Pause, die man aushalten sollte, ein Koma, aus dem die Vorhaben eines Tages wieder erwachen werden?