Reichlich fünf Jahre ist es jetzt her, dass Hans Stimmann als Berliner Senatsbaudirektor aufgehört hat. Aber immer noch ist er in der Stadt präsent, auf Podien, mit Projekten, vor allem mit all den Geschäftshäusern und Regierungsbauten, die seit der Wende erkennbar nach seinen Vorstellungen errichtet wurden – nüchtern, natursteinverkleidet, „eher gerade als geschwungen", wie er einmal seine Linie definiert hat, häufig unspektakulär bis zur Langeweile. Es wäre allerdings falsch, Stimmann ausschließlich als kritischen Rekonstrukteur, als Zwingherrn der Friedrichstraße und des Pariser Platzes in Erinnerung zu behalten. Zu den interessantesten Hinterlassenschaften seiner Ära gehört ein Bautypus, der beileibe nicht in Berlin erfunden wurde, der aber in den letzten Jahren von Stimmanns Amtszeit politisch und ökonomisch massiv gefördert wurde: das sogenannte „Stadthaus", gern auch als „townhouse" werbewirksam annonciert.
Innerstädtische Einfamilienhäuser, hochkant gestellt
Schmale, hohe Hausscheiben, wie es sie in Berlin, der Hauptstadt der Mietskasernen, eigentlich noch nie gegeben hat. Innerstädtische Einfamilienhäuser, hochkant gestellt, allesamt vier, fünf Etagen hoch und alle ein bisschen anders, je nach Wunsch der Bauherren. Nur sechs bis sieben Meter sind die meisten „townhouses" breit und dreizehn bis achtzehn Meter tief. Vor dem Haus ist gerade genug Platz für einen Mikrostreifen Grün, für den Porsche, die Mülltonnen und den Windfang. Der breithüftige Geländewagen muss draußen bleiben, vor dem Landsitz im Märkischen. Als „simulierte Baulücken" hat die Berliner Architektin Almut Ernst die dichte Packung einmal bezeichnet.
Das Stadthaus als Grundbaustein europäischer Städte
Im Grunde setzt das Konzept der Stadthäuser eine lange Tradition fort, die bis zu den Ursprüngen der Stadtbaugeschichte zurückreicht: Eine Familie baut sich ein Haus, in dem gewohnt und gearbeitet wird, auf einem Grundstück mitten in der Stadt. Bürgerhäuser nannte man diese Bauten früher oder gar Patrizierhäuser, ehe ein modisches Etikett wie „townhouse" daran gepappt werden musste. Solche Häuser waren die Grundbausteine vieler europäischer Städte, in Norditalien ebenso wie in Amsterdam, Augsburg oder Lübeck. Das Buddenbrookhaus steht jedem vor Augen, genau wie die weißen viktorianischen Häuserreihen in Kensington oder anderswo in London. Sie sind, nicht nur sprachlich, die Vorbilder der neuen „townhouses". Natürlich leben in den Bürgerhäusern heute keine Kaufleute mehr, die unten ihre Kontore haben, ihre Waren stapeln und oben wohnen und schlafen. Die Berliner Townhäusler sind vorwiegend kreative Kopfarbeiter, Freiberufler und gutbezahlte Angestellte. Anwälte und Notare sind darunter, Galeristen, Ärzte und reichlich Architekten, die teils auch mit ihren Büros hinter die selbstentworfenen Fassaden gezogen sind. Dass Bauherr, Nutzer und manchmal auch Architekt dieselbe Person sind, diese Identität garantiert eine hohe Identifikation mit dem Ort.
Wohnen und arbeiten in Berlin Mitte
Das spektakulärste Ensemble solcher Stadthäuser ist auf dem Friedrichswerder entstanden, zwischen Auswärtigem Amt und Hausvogteiplatz, gleich hinter dem Kronprinzenpalais, keine fünfhundert Meter vom Boulevard Unter den Linden entfernt. Ein zweiter Bauabschnitt ist hinter der Kommandantur in Vorbereitung, und längst bauen auch Investoren aller Art solche Hausgruppen, im Prenzlauer Berg, am Mauerpark, in Friedrichshain. Offensichtlich trifft dieser Bautyp einen Nerv. Und deshalb nimmt es nicht wunder, dass Hans Stimmann nun selbst ein Buch dazu vorgelegt hat, eine „Planungshilfe", wie es im Titel heißt, eine aufwendig und schön gemachtes Musterbuch vorbildlicher Stadthäuser, mit Fotos, Grundrissen sowie einem fast hundert Seiten starken „Bauteilkatalog", der realisierte Eingänge, Wohnräume, Küchen, Badezimmer, Treppenhäuser und Fassaden zeigt. Das Buch ist Leistungsschau und Propagandafibel, zudem Arbeit am Mythos, auch an Stimmanns eigenem.
Der Band führt rund vierzig Beispiele vor, sortiert nach Typen: Stadthäuser als Ensembles und als Reihenhäuser, Mehrfamilienhäuser in Baulücken, schließlich sogenannte „Stadtvillen", freistehende Blocks mit mehr oder weniger luxuriösen Miet- oder Eigentumswohnungen. Nicht zufällig sind unter den Architekten der vorgestellten Bauten viele, die mit Stimmanns konservativen Stadt- und Architekturvorstellungen sympathisieren: Klaus Theo Brenner, Bernd Albers, Hans Kollhoff, Kahlfeldt Architekten, Hilmer & Sattler und Albrecht, um nur einige zu nennen. Gezeigt werden aber auch einige Vertreter einer freieren Formensprache, Grüntuch und Ernst etwa, oder Roger Bundschuh, dessen spektakuläre schwarze Wohn-Skulptur am Rosa-Luxemburg-Platz zu den aufregendsten der präsentierten Projekte zählt.
Abschied von der Wohnmaschine
Auch in dem einführenden Essay von Hans Stimmann, das den programmatischen Titel „Abschied von der Wohnmaschine" trägt, tauchen allerlei sattsam bekannte Argumente auf, die freilich deshalb nicht falsch sein müssen. Noch einmal polemisiert Stimmann gegen den Bauwirtschaftsfunktionalismus der Neuen Heimat, gegen die gedankenlose Industrialisierung des Städtebaus, und illustriert dies mit schaurigen Bildern von Großsiedlungen der späten sechziger und siebziger Jahre, die unter unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen ziemlich ähnlich in Ost und West entstanden. Noch einmal ruft Stimmann das „Ende der architektonischen Moderne" aus, noch einmal zitiert er die Theorien von Aldo Rossi – und fordert ein „Zurück zur Stadt", ein Zurück zu Tradition, Schönheit, Konvention.
Manche Häuser mimen Oxford, andere Boulevard Saint Germain
Das ist, betrachtet man alle realisierten „townhouses" auf dem Friedrichswerder (und nicht nur die programmatisch vorgestellten), nicht ohne Ironie. Denn dort regiert nicht die subtile Variation, dort tobt der architektonische Freistil. Es gibt strenge Putzfassaden und rostrote Ziegelfronten. Es gibt schmalschultrige Glashäuser. Es gibt vertikale Betonlamellen und horizontale Metallstreifen. Und beinahe alles dazwischen. Manche Häuser mimen Oxford, andere Boulevard Saint Germain. Eine Architekturausstellung des frühen 21. Jahrhunderts. Und Stimmann legt nun den Katalog dazu vor. Die Vielfalt sei Ausdruck privater Freiheit, und Freiheit gehöre zum Bau von Bürgerhäusern dazu, argumentiert Hans Kollhoff. Stimmann spricht von einer „individuellen städtischen Architektur der Häuser unterschiedlicher Typologien mit pluraler Ästhetik".
Plurale Ästhetik
„Plurale Ästhetik" – das ist hübsch. Und es ist ein Hinweis darauf, dass sich am Anfang des 21. Jahrhunderts eine neue Bürgerschaft so wenig synthetisch schaffen lässt wie eine Architekturkonvention. Tatsächlich sind die Stadthäuser auf dem Berliner Friedrichswerder in Mitte als soziologisches Experiment fast noch faszinierender denn als städtebaulicher Versuch. Wie kann man, so lautet die entscheidende Frage, junge, gut verdienende Paare, möglichst mit Kindern, in der Stadt halten oder sie gar ins Zentrum zurücklocken? Eine Klientel, die spätestens mit Ende dreißig und dem zweiten Kind geradezu magnetisch an den Stadtrand gezogen wird, in immer neue Reihenhaussiedlungen und Schlafstädte, die die Landschaft zerfressen.
Das Ende der Stadtentleerung
Seit Jahren prognostiziert eine Studie nach der anderen, dass die hundertjährige Stadtentleerung an ihr Ende kommt, dass der ewige Fortzug aus den Zentren, hinein ins Nirwana des Speckgürtels, keine Zukunft mehr hat. Die Eigenheimzulage ist gestrichen, die Pendlerpauschale gekappt, schon beginnen die Grundstückspreise in den Einfamilienhaussiedlungen der sechziger und siebziger Jahre zu bröckeln, und vieles deutet darauf hin, dass die aktuellen Lebensentwürfe deutlich urbaner sind als noch vor ein, zwei Generationen. Besonders junge Frauen wollen nicht länger in den Schlafsiedlungen versauern oder viel zu viele ihrer knappen Stunden im Stau stehen, um zur Arbeit zu kommen, die Kinder in den Hort oder zum Sportverein zu chauffieren oder nur einfach mal shoppen zu gehen. Und auch die neuen rüstigen Alten, die Geld haben und noch reichlich Lust am Leben, entdecken wieder die Zentren. Da sind ihre Kinder, die längst aus dem Haus in der Vorstadt fortgezogen sind, da sind die Ärzte, dort gibt es noch Buchläden und Bibliotheken.
Sollte mit den „townhouses" tatsächlich ein Bautypus gefunden worden sein, der die Sehnsucht nach der Stadt in eine attraktive architektonische Form bringt, dann wäre das ein echter Fortschritt. Und dann wäre Hans Stimmanns Handbuch ein echter Gewinn.
Heinrich Wefing war lange Jahre Architekturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist heute Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit".
Stadthäuser
Von Hans Stimmann
Hardcover, 367 Seiten, deutsch
Dom Publishers, Berlin, 2011
Euro 68
www.dom-publishers.com