Wie kommt es, dass wir uns in gewissen Gebäuden immer wieder verlaufen? Welche Aspekte beeinflussen unser Mobilitätsverhalten? Warum locken manche Plätze in Städten Menschenmassen an, während andere stets leer bleiben? Und wie sehen Städte aus, in denen glückliche Menschen leben? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich die „Urban Psychology“. Sie erforscht, wie Menschen die bebaute Umwelt erleben, wie sie sich darin verhalten und welche Auswirkungen Städte auf die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Bewohner haben.
Der „Homo urbanus“ ist auf dem Vormarsch. Heute wohnen bereits 56 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, 2050 werden es rund 70 Prozent sein, die auf drei Prozent der Erdoberfläche leben. Das macht die Erforschung der psychologischen Auswirkungen von Städten auf ihre Bewohner zu einem wichtigen Wissenschaftsfeld. Gerade in jüngster Zeit tut sich einiges im Bereich der Urban Psychology: In Medien und Wissenschaftskreisen werden Diskussionen über nachhaltiges, gesundes und soziales Leben in Städten geführt. Nachbarschaftliche Projekte entstehen, um Wohnviertel lebenswerter zu machen. Und Bewegungen wie Urban Gardening und Guerilla Knitting, in denen Stadtbewohner ihre Umgebung mit einfachen Mitteln individuell gestalten, finden immer mehr Zulauf.
Bereits 1905 beschäftigte sich Georg Simmel in seinem Essay "Die Großstädte und das Geistesleben" (1905) mit der Frage, welchen Einfluss das städtische Leben auf das Individuum, dessen Verhalten, Persönlichkeit, Werte und Beziehungen hat. Über 60 Jahre später arbeitete William Whyte, der als Vater der Urban Psychology gilt, mit der New York City Planning Commission an der Erforschung menschlichen Verhaltens in urbanen Umgebungen. Ihn interessierte vor allem die Frage, was eine mental gesunde Stadt ausmacht. Sein Interesse an den Wirkungen von Architektur und Städtebau auf den Menschen führte schließlich zum Street Life Project, der ersten Studie zum Verhalten von Fußgängern und der Funktionsweise einer Stadt. Mithilfe von Stoppuhren und Zeitraffer-Videographie erforschten Whyte und sein Team Menschen im urbanen Umfeld.
Heute ist man einen großen Schritt weiter: Dank moderner Mess- und Simulationstechnologie ist es möglich, einen Blick in Körper und Geist der Menschen zu werfen. Im Research Laboratory for Immersive Virtual Environments an der Universität Waterloo forscht ein Team rund um Professor Colin Ellard zu Neurowissenschaft und Stadtplanung und setzt dafür raffinierte Simulationsmethoden ein. Um herauszufinden, wie eine bestimmte Architektur, Grünflächen in Städten oder geschäftiges Treiben in Großstadtstraßen auf den Menschen wirken, lassen die Forscher Probanden frei durch photorealistische Simulationswelten wandern, während Sensoren den Blickverlauf aufzeichnen und die Bewegungen sowie verschiedene Körperfunktionen messen: Herzfrequenz, Zustand des autonomen Nervensystems, Cortisol-Level und Gehirnströme - all das ist dank moderner Mess-Technologie kein Geheimnis mehr. Außerdem begleiten die Forscher die verkabelten Versuchsteilnehmer bei ihren Spaziergängen durch die reale Stadt und zeichnen die kognitiven und emotionalen Reaktionen auf die städtische Umgebung auf.
Ellard ist davon überzeugt, dass eine Kombination aus Laborexperimenten und Feldstudien zu wesentlichen Fortschritten im Bereich der Urban Psychology führen kann: „Eine geschickte Kombination aus laborbasierten virtuellen Realitätssimulationen und Beobachtungen der echten Welt unter Zuhilfenahme von Smartphones und physiologischen Sensoren könnte die Basis einer neuen und einflussreichen Disziplin des experimentellen Urban Designs bilden, die Psychologie und Neurowissenschaft zusammenbringt.“ So konnte das Team rund um Ellard beispielsweise bereits nachweisen, dass Grünflächen das Glücksempfinden von Menschen steigern und das autonome Nervensystem entspannen.
Ähnliche Ergebnisse erzielt auch die Umweltsoziologin Dr. Dörte Martens. Sie forscht an der Universität Potsdam zu „erholungsrelevanter Gestaltung von urbanem Grünraum“ und hat herausgefunden, dass sich eine natürliche Umwelt positiv auf die kognitive Leistung von Menschen auswirkt. „Für Städte bedeutet das, dass natürliche Elemente einen wichtigen Platz innerhalb der Planung einnehmen müssen, um die alltägliche, beiläufige Erholung zu fördern“, so Martens. Grünflächen in Städten stellen also ein einfaches und zugleich höchst wirksames Mittel dar, das Wohlempfinden von Stadtbewohnern zu erhöhen. Dazu sind nicht immer Grünanlagen im Ausmaß des New Yorker Central Park nötig, sogenannte „Pocket Parks“ oder grüne Streifen neben der Straße sind für die beiläufige Erholung ebenfalls wirkungsvoll.
Der kanadische Journalisten und Autor des Buches „Happy City“ Charles Montgomery verfolgt einen etwas anderen Forschungsansatz. Er will dem Zusammenhang zwischen Urban Design, Emotionen und dem menschlichen Verhalten auf den Grund gehen und prägte dafür den Begriff „Urban Experimentalism“. Montgomery ruft Stadtbewohner dazu auf, selbst in ihrem Umfeld auszuprobieren, was ihre Stadt zu einer glücklicheren macht: „Jeder von uns kann mithelfen, die Geheimnisse einer Stadt zu entdecken, indem er eigene, kleine Experimente in seinem Lebensraum durchführt – und die Ergebnisse mit allen teilt. Je besser wir die Beziehung zwischen unseren Städten, unseren Gehirnen und unserem Erleben verstehen, desto besser sind wird dafür gerüstet, Städte zu entwerfen, die glücklicher, gesünder und belastbarer sind.“
Ein Aspekt, mit dem sich Montgomery ausführlich beschäftigt, ist die Mobilität in Städten. So hat er beispielsweise herausgefunden, dass Pendeln die Menschen unzufrieden macht. Je weiter Menschen pendeln müssen, desto unglücklicher sind sie. Studien haben ergeben, dass Pendler zu Stoßzeiten unter größerem Stress leiden als Kampfpiloten. Für Städteplaner heißt das, Wohngebiete so zu gestalten, dass sie gut an den öffentlichen Verkehr angebunden und Geschäfte gut erreichbar sind und dass die Straßen auch Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer bieten.
Dank zahlreicher Studien, Experimente und moderner Simulations- und Messmethoden verstehen wir heute besser, wie Städte funktionieren und worauf Stadtplaner und Architekten achten sollten, um gesunde, zukunftsfähige und lebenswerte Städte zu schaffen. Für die Psychologin und Umweltsoziologin Martens ist eine glückliche Stadt beispielsweise „eine Stadt, in der nicht nur der monetäre Wert einer öffentlichen Fläche betrachtet wird, sondern ebenso der Erholungswert. Dazu gehört neben der öffentlichen Zugänglichkeit auch die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, den Raum selbst mitzugestalten - im Optimalfall bereits in der Planung, spätestens aber in der Umsetzung und Nutzung.“