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Die vielseitige Persönlichkeit des Architekten Paul Rudolph findet (1977-1995) auf den vier Ebenen des Dachaufbaus eines New Yorker Reihenhauses mit experimentellen Materialien und artifiziellen Lichteffekten seinen Ausdruck. Foto © Peter Aaron/OTTO
Die vielseitige Persönlichkeit des Architekten Paul Rudolph findet (1977-1995) auf den vier Ebenen des Dachaufbaus eines New Yorker Reihenhauses mit experimentellen Materialien und artifiziellen Lichteffekten seinen Ausdruck. Foto © Peter Aaron/OTTO
Paul Rudolph (1918 bis 1997) wurde oft als verschlossener und unnahbarer, streng und beherrschter Charakter beschrieben.
Foto © Library of Congress, Prints and Photographs Division
Paul Rudolph (1918 bis 1997) wurde oft als verschlossener und unnahbarer, streng und beherrschter Charakter beschrieben.
Foto © Library of Congress, Prints and Photographs Division
Das zentrale Atrium als großzügiger Empfangs- und Aufenthaltsbereich: Der Wohnbereich des Penthouses erstreckt sich über drei Geschosse. Foto © Peter Aaron/OTTO
Das zentrale Atrium als großzügiger Empfangs- und Aufenthaltsbereich: Der Wohnbereich des Penthouses erstreckt sich über drei Geschosse. Foto © Peter Aaron/OTTO
Ein Palast mit Sinnesfreuden: Mittels gläserner Wände, unterschiedlichen Böden, verspiegelten Oberflächen und halb durchsichtigen Elementen, schafft Rudolph ein luxuriös-erotisches Ambiente. Foto © Peter Aaron/OTTO
Ein Palast mit Sinnesfreuden: Mittels gläserner Wände, unterschiedlichen Böden, verspiegelten Oberflächen und halb durchsichtigen Elementen, schafft Rudolph ein luxuriös-erotisches Ambiente. Foto © Peter Aaron/OTTO
Darüber befindet sich das private Badezimmer mit einem Whirlpool samt gläsernen Boden: der Schlafbereich von Paul Rudolph und seinem Partner Ernst Wagner.
Foto © Peter Aaron/OTTO
Darüber befindet sich das private Badezimmer mit einem Whirlpool samt gläsernen Boden: der Schlafbereich von Paul Rudolph und seinem Partner Ernst Wagner.
Foto © Peter Aaron/OTTO
Die Kunst der Raumverschachtelung: Auf 17 Ebenen unterschiedlicher Höhe entsteht ein spannungsreiches Raster aus glänzendem Metall, weißem Ahorn und Glas.
Foto © Library of Congress, Prints and Photographs Division
Die Kunst der Raumverschachtelung: Auf 17 Ebenen unterschiedlicher Höhe entsteht ein spannungsreiches Raster aus glänzendem Metall, weißem Ahorn und Glas.
Foto © Library of Congress, Prints and Photographs Division
Das Geheimnis des gläsernen Bodens
von Uwe Bresan
16.06.2016

Die Interpretation eines künstlerischen Werks über die Biografie seines Schöpfers ist lange geübte Praxis. Ganz selbstverständlich darf dabei auch die sexuelle Identität des Künstlers berücksichtigt werden. Ja, sie muss mitunter sogar Eingang in den Prozess der Deutung finden. Was verstünden wir etwa von der Kunst David Hockneys, der Musik Peter Tschaikowskis oder der Literatur Jean Cocteaus ohne das Wissen um deren Homosexualität? Was in vergleichbaren Disziplinen und in angelsächsischen Ländern kaum umstritten ist, erweist sich innerhalb der europäischen Architekturgeschichte nach wie vor als Tabu. Begründet wird dieses Verhalten gern durch die schlichte und allzu durchschaubare Behauptung, die geschlechtliche oder sexuelle Identität eines Architekten sei ohne jede Bedeutung für dessen Arbeit, da er ohnehin an Aufgabe, Programm und die Wünsche des Auftraggebers gebunden sei. Wer jedoch so argumentiert, verneint letztlich jeden genuinen Kunstanspruch der Architektur und degradiert den Architekten zum reinen Dienstleister. Zugleich verkürzt die Argumentation den Prozess des Aneignens und Bewertens von Architektur auf die Analyse des Gebauten – ohne die vielfältigen Hintergründe miteinbeziehen zu wollen.

Das Coming Out der Architektur

Dass homosexuelle Architekten eine eigenständige und durchaus lokalisierbare Stellung im Bereich der Architektur einnehmen, wird innerhalb der US-amerikanischen Architekturgeschichte heute kaum mehr bestritten. Entsprechende Forschungen an einflussreichen Architekturschulen wie Harvard und Columbia laufen bereits seit den 1990er-Jahren und werden vom amerikanischen Architektenverband, dem American Institute of Architects (AIA), großzügig unterstützt. Dass sich eine Institution wie das AIA dem Thema bereits frühzeitig annahm, steht in engem Zusammenhang mit dem Ausbruch von AIDS Ende der 1980er-Jahre, als die „Schwulenkrankheit“ auch unter bekannten amerikanischen Architekten ihre Opfer fand. Der AIDS-Tod etwa von Alan Buchsbaum (1935 bis1987), einem gefeierten New Yorker Loft-Designer und Lieblingsarchitekten der amerikanischen Ostküsten-Intelligenz, oder von Roger Ferri (1949 bis1991), dessen vor mehr als dreißig Jahren entstandene Studien zu begrünten Wolkenkratzern wie Blaupausen für überwucherte Hochhäuser wirken, die heute vornehmlich in den Metropolen Südostasiens entstehen, erschreckte die amerikanische Architektenschaft nachhaltig. Seinen Höhepunkt erlangte das „coming out“ der amerikanischen Architektenschaft 1996, als sich mit Philip Johnson (1906 bis 2005) der Doyen der amerikanischen Nachkriegsarchitektur für das Cover des bekannten Schwulenmagazins „Out“ porträtieren ließ.

Queer Studies

Natürlich geht es in den „Queer Studies“ innerhalb der Architektur nicht darum, einen spezifisch „schwulen“ Entwurfsstil nachzuweisen. Es wäre naiv zu glauben, man könne einem Gebäude die Sex-und Gender-Identität seines Entwerfers ansehen. Vielmehr interessieren die speziellen Umstände, unter denen homosexuelle Architekten in der Geschichte, die lange Zeit auch eine Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung war, arbeiteten beziehungsweise wie sich die sexuelle Orientierung heute auf die Arbeit als Architekt auswirken kann. Es geht also einerseits um die Rekonstruktion prekärer Existenzen und damit um die Bedingungen, unter denen vor allem namhafte homosexuelle Architekten in der älteren und jüngeren Geschichte ihren Beruf ausüben konnten. Zum anderen interessiert etwa der Einfluss von „schwulen“ Netzwerken unter Berufskollegen und Auftraggebern. Nicht zuletzt werden aber auch einzelne Bauten und Entwürfe unter einer umfassenden biografischen Perspektive neu zu lesen und zu interpretieren sein.

Paul Rudolphs New Yorker Penthouse

Das legendäre Penthouse etwa, das sich der New Yorker Architekt Paul Rudolph (1918 bis1997) Ende der 1970er-Jahre in Beekman Place am Rande des East Rivers und in unmittelbarer Nähe zum Sitz der Vereinten Nationen erbaut hat, würde sich in seiner komplexen Grundstruktur nur unzureichend erschließen, ließe man das private und öffentlich kaum bekannte Zusammenleben Rudolphs mit seinem Partner Ernst Wagner unberücksichtigt. Es scheint sogar, als fände die ganze Persönlichkeit des Architekten in dem vier Geschosse umfassenden Dachaufbau ihren stärksten Ausdruck. Vielen Zeitgenossen galt Rudolph, der ohne Zweifel zu den führenden amerikanischen Architekten seiner Generation gezählt werden darf, als verschlossen und unnahbar. Schon sein militärisch wirkender Kurzhaarschnitt signalisierte männliche Beherrschtheit und große Strenge.

Hypermaskuline Architektur

Ihre Entsprechung findet diese nach außen getragene Seite von Rudolphs Persönlichkeit in zahlreichen seiner Bauwerke. Die Macher der Architekturzeitschrift „Progressive Architecture“ gingen 1964 sogar soweit, für das Cover ihrer Februar-Ausgabe ein Porträtfoto Rudolphs mit einer Aufnahme seines Art+Architecture Building in New Haven (1958-1964) zu überblenden. Es ist ohne Zweifel das bekannteste Gebäude des Architekten und gleichzeitig einer der berühmtesten Kunstschulbauten des 20. Jahrhunderts. Der mitten auf dem traditionsreichen Campus der Yale University gelegene Fakultätsbau schließt sich nach außen aber nicht nur hermetisch gegen sein Umwelt ab, in der Nahsicht wirkt er geradezu bedrohlich. Rudolph hat den gesamten Bau mit schmalen, spitz zulaufenden Betonlisenen überzogen, die nach dem Ausschalen mit einem Hammer gebrochen wurden, wodurch eine fast martialisch anmutende scharfkantige Oberfläche entstand. Timothy Rohan, einer der profiliertesten Kenner von Rudolphs Werk, interpretiert die Betonbehandlung, die später zu einem Markenzeichen von Rudolphs Bauten avancierte, als „hyper-maskuline“ Geste, mittels derer der Architekt das ganz andere Wesen seiner Innenräume – und letztlich das „Geheimnis“ um seine eigene Person – zu maskieren suchte.

Räume, die sich ihrer Erfassbarkeit entziehen

Tatsächlich überraschen Rudolphs brutalistische Großbauten im Inneren durch die sensible Behandlung von Raum, Material und Farbe. Gerade für europäische Besucher, die Rudolphs Bauten oft nur von zeitgenössischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kennen, vermitteln die weichen, in Rot oder Orange leuchtenden Teppichböden, die der Architekt in vielen seiner öffentlichen Bauprojekte verwendete, einen vollkommen unerwarteten Eindruck, der zunächst nur schwer mit dem äußeren Bild der Bauten in Einklang zu bringen ist. Gleichzeitig entsteht im Inneren ein reiches, fast schon barockes Spiel mit dem Raum, der sich oft über mehrere Ebenen hinweg öffnet und vielfältige Blick- und Wegebeziehungen generiert – sich in seiner labyrinthischen Struktur mitunter aber auch einer vollständigen Erfassbarkeit entzieht.

Viele horizontale Ebenen

Mit der Planung seines New Yorker Apartments erreichte Rudolph zweifellos den Höhepunkt und – im Sinne eines für Außenstehende kaum zu erfassenden räumlichen Zusammenhangs – die äußerste Grenze seiner Raumkunst. Von der Straße aus gesehen gibt sich der Dachaufbau verschlossen – mit seinen massiven Betonscheiben, die von einem Stahlträgergerüst gehalten auf der Höhe des sechsten Obergeschosses weit über die historische Fassade des Brownstone-Hauses, einem typischen Reihenhaus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, auskragen. Im Inneren hingegen werden die Sinne des Besuchers durch gläserne Wände und Böden, verspiegelte Oberflächen und semi-transparente Raumabschlüsse verwirrt. Selbst Stühle und Tische bestehen aus durchsichtigem Plexiglas. Dazu kommt ein irritierendes räumliches Zusammenspiel von insgesamt 17 horizontalen Ebenen, über die sich das Apartment erstreckt und deren innerer Zusammenhang sich auch durch ein intensives Studium der publizierten Grundrisse nur schwer nachvollziehen lässt. Letztlich, so scheint es, hatte nur der Architekt selbst die Kontrolle über seine Schöpfung, was es Rudolph auch erlaubte, dem Apartment eine verborgene zweite Wohnung einzupflanzen.

Eine Architektur des Schnitts

Deutlich wird das doppelte Gesicht von Rudolphs Penthouse-Apartment erst im Schnitt. Hier zeigt sich einerseits der „offizielle“ und durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannte Wohnbereich, der sich über große Panoramascheiben zum East River hin öffnet und sich über insgesamt drei Geschosse erstreckt, die über ein zentrales Atrium miteinander verbunden sind. Andererseits offenbart sich ein weiterer, vollkommen autarker, zur Stadtseite hin orientierter und ebenfalls dreigeschossiger Wohntrakt, über dessen Existenz wohl die meisten Besucher von Rudolphs Penthouse im Unklaren gelassen wurden. In den zeitgenössischen Publikationen des Penthouses finden sich kaum aussagekräftige Fotos des Bereichs, in dem bis zu Rudolphs Tod im Jahr 1997 dessen Lebensgefährte Ernst Wagner lebte. In den veröffentlichten Grundrissen werden die beiden unteren, ebenfalls über einen Luftraum verbundenen Wohnräume stets als Bibliothek, das darüber liegende Schlafzimmer als Gästetrakt bezeichnet. Von der „offiziellen“ Seite des Apartments unterscheiden sich die Räume aber nicht nur durch ihre intimere Größe, sondern auch durch ihren ganz eigenen Charakter. Während in den Haupträumen Weißtöne dominieren und damit Offenheit und Größe betont werden, überwiegen in den „geheimen“ Räumen dunkle Oberflächen und „harte“ Materialien. Schwarze Ledersofas und Einbauten aus poliertem Stahl lassen schnell Assoziationen an „schwule Milieus“ entstehen, wie sie einem großen Publikum 1980 in dem Skandalfilm „Cruising“ mit Al Pacino bekannt wurden.

Eine andere Architekturgeschichte

An zwei Stellen hat Rudolph auf geradezu spektakuläre Weise die zwei unterschiedlichen Welten seines Penthouses optisch miteinander verbunden. Zum einen installierte er in einem zu seinem „offiziellen“ Wohnbereich gehörenden Badezimmer einen gläsernen Waschtisch, der in den Luftraum der vermeintlichen „Bibliothek“ – und somit in den Wohnraum seines Lebensgefährten – auskragte. Zum anderen gab er dem großen Whirlpool in seinem privaten Badezimmer einen gläsernen Boden, der sich unmittelbar über Wagners Schlafzimmer und dessen Bett befand. Begründet hat der Architekt diese auch im Schnitt deutlich zu erkennende Anordnung immer wieder mit der Notwendigkeit einer natürlichen Belichtung des „Gästezimmers“, das dadurch direkt an einem über dem Whirlpool gelegenem Oberlicht partizipiert.
Natürlich lässt sich mit solch vermeintlich funktionalistischer Stringenz vieles begründen – die Architekturgeschichte greift auch gern auf so saubere Erklärungen zurück. Ob damit jedoch der wahre Kern einer Sache getroffen wird und sich die Umsetzung einer bautechnisch komplexen Konstruktion allein mit der Belichtung eines „Gästezimmers“ erklären lässt, bleibt fraglich. Eine andere, biografisch erweiterte Architekturgeschichte könnte auch zu ganz anderen Einsichten gelangen.