Fest im Sattel sitzen ist Pflicht. Dabei immer beweglich bleiben und gut aussehen, gilt indes als große Kür. Stefan Diez dürfte sie mit dem Stuhl „Chassis“, den er in rund fünf Jahren für den Büromöbelhersteller Wilkhahn entwickelt hat, spielend gelingen. Der Stuhl, der im Oktober auf der Orgatec in Köln als Vorserie vorgestellt wurde, wird in der kommenden Woche in Mailand präsentiert – als lieferbares Serienprodukt, ergänzt um neuartige, austauschbare und mit unterschiedlichen Stoffen bezogene Sitzschalen, die es möglich machen, das Erscheinungsbild des „Universalstuhls“ zu verändern. Glaubte man bisher, einen in seiner Entwicklung abgeschlossenen, leichten, stabilen, äußerst eleganten und mittels neuartiger Technik produzierten Stuhl für den Bürobereich vor sich zu haben, so wird man nun überrascht. Der „Chassis“ bekommt nicht nur ein neues Gesicht. Er wird gleichsam zum Nukleus eines erweiterbaren Baukasten-Systems, das unterschiedlichen Anforderungen und Kontexten angepasst werden kann. Dieser „Vierbeiner“ könnte somit zu einem ersten Schritt auf dem Weg zu einer Reihe neuartiger Produkte werden, die Leben und Arbeiten ganz selbstverständlich verbinden. So wenig der Stuhl seine Funktionalität ausstellt, so wenig seine Ergonomie und seine Technizität. Stattdessen entsteht aus dem soliden Understatement eines nach Büromöbelstandard entwickelten Stuhls eine subtile und unverkrampfte Form von Wertigkeit.
Thomas Wagner hat in Hannover mit dem Designer Stefan Diez, mit Jochen Hahne, dem Geschäftsführer von Wilkhahn, und mit Burkhard Remmers, bei Wilkhahn zuständig für die Internationale Kommunikation, über Funktionalität, Ergonomie, Nachhaltigkeit, Design und die Möglichkeiten gesprochen, der der Baukasten „Chassis“ noch bieten könnte.
Thomas Wagner: Meine Herren, was unterscheidet Wilkhahn von anderen Herstellern der Büromöbelbranche?
Burkhard Remmers: Wenn wir ein neues Produkt auf den Markt bringen, ist unser Ziel, dass die Leute sagen: „Das ist ein typisches Wilkhahn-Produkt.“
Stefan Diez: Bei Wilkhahn ging es bisher nicht in erster Linie um Design, sondern um die Funktion und um die Ästhetisierung der Funktion. Etwas soll benutzbar gemacht werden, wobei Ergonomie und Ökologie eine große Rolle spielen.
Versucht sich Wilkhahn mit „Chassis“ in der Richtung eines erweiterten, prozesshaften Designbegriffs weiterzuentwickeln? Ich denke, Funktion und Design lassen sich heute nicht mehr trennen?
Remmers: Die polarisierte Diskussion, wie sie ab Ende der siebziger Jahre geführt wurde, war ja auch eine Frage der Rezeption der Moderne. Für uns setzt sich Design seit jeher zusammen aus der Form, aus der Funktion und der Qualität. Das vor allem ist es, was uns von anderen Herstellern unterscheidet: Wir wollen Lösungen, die langfristig gültig bleiben – sowohl was die Funktion angeht, als auch die Qualität und die Formensprache. Das gilt es weiterzuentwickeln. Lassen Sie es mich so sagen: Andere designorientierte Hersteller zeigen, was möglich ist. Das führt in der Produktpalette zu einer großen Breite, wobei „Gestaltung“ der gemeinsame Nenner ist. Wilkhahn hingegen verfolgt nach wie vor das Thema des Nützlichen. Insofern sind wir – im positiven Sinn – sehr preußisch. Vieles, was heute entsteht, erscheint uns zu modisch, zu schnelllebig, zu vordergründig. Die Konsistenz der Gestaltung spielt bei Wilkhahn deshalb eine sehr große Rolle.
Diez: Das ist aus meiner Sicht ein Segen – und einer der Gründe, die mich motivieren, für Wilkhahn zu arbeiten. Nichts ist schwieriger für einen Designer als in einem ohnehin eklektischen Umfeld arbeiten zu müssen, dem er noch etwas Auffälliges hinzufügen soll. Bei Wilkhahn, wo man sich gestalterisch an der klassischen Moderne orientiert und klare Vorstellungen von Funktion und Benutzbarkeit hat, lässt sich einfacher klarmachen, weshalb wir einen Stuhl wie „Chassis“ machen. In unserer Zusammenarbeit geht es darum, diese Faszination nicht mehr allein aus dem heraus zu entwickeln, was man kann und kennt – beispielsweise aus der Ergonomie oder aus stereotypen Materialspielen. Die Frage war also, wie man Qualitäten zu fassen bekommt, die sich nicht eindeutig in bestehende Raster einfügen.
Remmers: Nehmen Sie unseren Bürostuhl „FS“. Auch er hat eine besondere Qualität, die sich nicht in seiner Funktionalität und seiner Ergonomie erschöpft. Für solche Produkte haben wir den Begriff „sinnliche Sachlichkeit“ geprägt. Wichtig ist, dass ein roter Faden erkennbar bleibt, der alle Produktlinien miteinander verbindet. Das sorgt dafür, dass man Produkte, die in verschiedenen Dekaden entwickelt wurden, gut miteinander kombinieren kann. „FS“ und „Chassis“ haben, bei allen Unterschieden, einen gemeinsamen „Code“.
Diez: Wichtig ist doch: Beide Produkte beschränken sich präzise auf das, was sie können und können wollen. Der „FS“ ist, betrachtet man die Geschichte des Bürostuhls der letzten dreißig Jahre, für mich der vermutlich tollste Bürostuhl, der seine Funktionen erfüllt und dabei auch noch unglaublich elegant aussieht. Das hat man bei Wilkhahn hinbekommen, weil der FS integriert gedacht wurde und nicht additiv.
Wo es um eine neue Verbindung von Funktion und Ästhetik geht, haben Sie mit „Chassis“ einen großen Schritt nach vorne gemacht. Wie würden Sie selbst den Stuhl einordnen?
Remmers: Bei der Entwicklung von „Chassis“ stand die Frage am Anfang: Wie muss ein Stuhl gestaltet sein, der für ein neues „Gefühl für Arbeit“ steht, der auch den Zeitgeist einfangen und ausdrücken kann. Dafür galt es, eine Design-Sprache finden – über die Form, das Material und die Verarbeitungstechnologie.
Diez: Ich denke, der Stuhl ist in seiner Anwendung nicht beschränkt, weil er auf eine sehr einfache Form des Sitzens abzielt. Es geht nicht um ein spezielles, sondern um das universale Sitzen. Man kann ihn überall einsetzen.
Kann sich „Chassis“ deshalb besser als andere Stühle in unterschiedliche Kontexte einfügen oder an verschiedene Wohn- oder Arbeitsatmosphären anpassen?
Diez: Wird der Stuhl bereits in der Planungsphase ausgewählt, so ist es von Vorteil, dass der Architekt kein unabänderbares Produkt bekommt, sondern eines, das er selbst konfigurieren, also in Farbe und Material anpassen kann. Wird der Stuhl hingegen einem bereits bestehenden Interieur hinzugefügt, so ist es noch wichtiger, eine gewisse Flexibilität zu haben. Das berührt aber nur die „vernünftige“ Seite der Sache. Die Faszination, von der ich gesprochen habe, speist sich aus anderen Quellen: Obwohl die Sitzfläche dreidimensional geformt ist, ist keine Naht zu sehen; auch eine Schraube wird man nirgendwo finden. Es gibt eine klare Linienführung und ein Spiel mit freien und geometrisch bestimmten Flächen. Was viel mit Präzision, gepaart mit einer gewissen Lässigkeit, zu tun hat. Der Stuhl hat sich von vielerlei Zwängen freigemacht, auch von solchen, die aus dem Herstellungsverfahren kommen.
Sind die Möglichkeiten bereits ausgeschöpft? Oder stehen Sie erst am Anfang?
Diez: Wir haben ein Metallgestell, das wir heute pulverbeschichtet anbieten, dass wir, wenn wir wollen, morgen aber auch feuerverzinken, galvanisieren oder sogar vergolden könnten. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Wir arbeiten seit geraumer Zeit an einer Sitzschale, die komplett aus nachwachsenden Rohstoffen besteht. Selbst die Geometrie des Rahmens ist veränderbar. All das ist innerhalb des Konzepts „Chassis“ möglich. Und damit das möglich ist, besteht der Stuhl aus einem Rahmen und einer auswechselbaren Sitzschale. Das Ganze ist also in ganz unterschiedlicher Weise „flexibel“.
Wenn ich all das höre, dann klingt das Projekt „Chassis“ – ganz unabhängig von all seinen anderen Qualitäten – nach Laboratorium, nach einem Tool, um unterschiedliche Stühle entwerfen, technisch erproben und weiterdenken zu können. Auch, um daraus Rückschlüsse für eine künftige Unternehmensstrategie zu ziehen. „Chassis“ ist also ein Produkt, das mit diversen Rückkopplungsschleifen ins Design und ins Unternehmen verbunden ist. Sehe ich das richtig?
Jochen Hahne: Vielen Dank für die Zusammenfassung …
Diez: Wir haben bewusst kein abgeschlossenes Produkt entworfen. Sondern eines mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten, an denen viele Leute mitarbeiten können – intern bei Wilkhahn und extern. Aber zunächst einmal haben wir einen Stuhl mit wechselbaren Sitzschalen. Auch das macht das Produkt flexibel, langlebig und nachhaltig.
Sind das nicht auch Aspekte einer anders verstandenen Funktionalität?
Diez: Durchaus. Denn der Rahmen ist modular aufgebaut. Wir werden die Beine eines Tages durch eine Freischwinger-Konstruktion ersetzen – oder mit einer „Armlehnen“ ergänzen. „Chassis“ verfolgt also nicht nur ästhetisch ein offenes Konzept. Allerdings ist die Technik, die dahintersteckt, Neuland. Was es grundsätzlich schon mal spannend macht, an den technischen Möglichkeiten weiterzuarbeiten. Und so ist im Laufe der Zeit auf beiden Seiten eine Begeisterung entstanden – und vor allem darauf kommt es an: dass wir Lust darauf haben, das System weiterzuentwickeln.
Hat die Faszination, zumindest was den Rahmen angeht, auch etwas mit der Nähe der eingesetzten Technologie zum Automobilbau zu tun?
Diez: Im Grunde ist das Verfahren, das wir anwenden, auch mit der traditionellen Herstellung eines Holzstuhls vergleichbar: Man nimmt Leisten, und verleimt sie. Was wir gemacht haben, ist, wenn auch auf einem sehr viel komplexeren Level, einen Stuhl zu entwickeln, der aus einem Baukasten besteht. Nur, dass wir die Teile nicht mehr verleimen, sondern durch einen Roboter verschweißen lassen. Das Konzept, das dahintersteckt, ist also prinzipiell bekannt. Weshalb es innerhalb des Entwicklungsprozesses leichter verstanden wird. Bei „Chassis“ muss man im Grunde nichts erklären.
Verdanken sich Präzision und Qualitätsanmutung auch dem Produktionsstandard der Automobilindustrie?
Diez: In Deutschland verbindet man mit dem Wort „Automobilindustrie“ einen sehr modernen Industriezweig. Einen, der viel Geld in Produkte investiert, die auf der ganzen Welt verkauft werden. Man nimmt an, es wird alles getan, was möglich ist. Das ist im Möbelbereich schon lange nicht mehr der Fall. Vieles bleibt hier hinter den „Klassikern“ zurück. Wenn der Designer aber nur dafür da ist, dass „das Ding“ irgendwie anderes aussieht, dann wird unser Tätigkeitsfeld auf absurde Weise limitiert, was am Ende die Arbeit selbst infrage stellt. Ein Produkt wie „Chassis“ schafft also auch einen Spielraum, der einem von keinem streitig gemacht werden kann, oder den man teilen müsste. Wir können hier in Ruhe weiter daran arbeiten.
Remmers: Das gilt übrigens auch ästhetisch – auch hier zeigen sich Präzision und Abstimmung. Rahmen und Schale sind zwar zwei Bauteile, die eine unterschiedliche Anmutung haben, aber so präzise aufeinander bezogen sind, dass sie immer als Einheit erscheinen. Das ist ein sehr wichtiger Effekt. Denn trotz unterschiedlicher Farben und Textilien zerfällt der Stuhl in der Wahrnehmung nicht in einzelne Bauteile, sondern bleibt eine Einheit. Zugleich sieht er tatsächlich anders aus, ändert sein Gesicht.
Was ist das Besondere an der Sitzschale? Worin besteht die Pointe? Ist es die Verbindung, ist es die Präzision, mit der die Teile gemacht sind, oder sind es die Übergänge?
Diez: Die lösbare Verbindung von Schale und Gestell war bei der Entwicklung einer der Knackpunkte. Das Problem hat Wilkhahn komplett selbst in die Hand genommen und gelöst. Entwickelt wurde ein mittlerweile patentierter Verschluss, der es möglich macht, in eine perforierte Blechstruktur einen Sitz einrasten zu lassen. Was sehr präzise funktioniert. Doch von all dem merkt man nichts, wenn man den Stuhl betrachtet oder benutzt. Das ist generell eine Tugend der Produkte von Wilkhahn. Auch dem Bürostuhl „FS“ mit seiner Synchronautomatik sieht man seine Komplexität nicht an. Würde man zu viel von den Dingen zeigen, würden sie ordinär werden.
Hat das bei Stühlen auch etwas damit zu tun, dass wir Stühle nicht nur mit den Augen begreifen und erfahren, sondern …
Diez: … mit dem Hintern …
… mit dem Rückgrat, mit dem ganzen Körper?
Diez: Das hat etwas mit Höflichkeit und Respekt zu tun. Produkte, die stark in den Vordergrund treten, sind mitunter egoistisch. Ein solcher Aufmerksamkeitsegoismus würde nicht zu Wilkhahn passen – und er wäre auch gegen die Nutzung die wir für „Chassis“ sehen. Wir wollen ja nicht die ganze Zeit über einen „tollen Stuhl“ reden, der an einem Tisch steht, sondern über die gelungene Gesamtsituation. So wie mir die Uhr, die ich trage, nicht jeden Tag auffällt und der Gürtel, den ich anziehe, so braucht auch ein Stuhl eine gewisse Selbstverständlichkeit. Das haben wir versucht, zu respektieren. Wir haben die Entscheidung, nach Mailand zu gehen, auch deshalb getroffen, weil wir glauben, dass das Publikum dort mehr mit unserer Idee anfangen kann als das einer Büromöbelmesse wie der Orgatec. Deshalb beruht auch die Installation bei „Spotti“, wo wir den „Chassis“ präsentieren, darauf, dass wir den Ort so nehmen, wie er ist – alle Dinge, die dort vorhanden sind, also nur anderes arrangieren. Immerhin sind es 23 Stühle in unterschiedlichen Varianten, die wir zeigen werden. Zusammen mit den Materialien und den Farben, mit denen der Stuhl lackiert wird, sollen Szenen entstehen, die klarmachen, wie der Stuhl sich verändern und integrieren kann. Wo es darum geht, die richtigen Akzente zu setzen, bietet „Chassis“ fantastische Möglichkeiten.
Was bedeutet „Chassis“ für das Unternehmen und dessen Strategie?
Jochen Hahne: Vor allem muss man sehen: „Chassis“ ist als Produkt nicht eindimensional. Wenn man ein neues Produkt vorstellt, hört man oft: Das ist eine neue Welt. Wilkhahn ist 104 Jahre alt, da sind schon einige Welten an uns vorbeigezogen. Für mich als Unternehmer stellt sich zu Beginn eines Projekts erst einmal die Frage, ob man eine Faszination für das Produkt entwickelt. Zu Beginn kennt man die Erklärungen ja noch nicht, die sich später ergeben. Teilweise, weil es sie noch nicht gibt, teilweise, weil man sie nicht hören möchte. Man sieht den Stuhl und sagt: Das finde ich toll – oder auch nicht. In dieser Hinsicht hat „Chassis“ für mich eine Menge faszinierende Facetten. Nehmen sie etwa die Art, wie die Beine „angebunden“ sind. Das ist einfach toll. Es ist für eine Firma sehr wichtig feststellen zu können, dass der Entwurf einfach gelungen ist. Ein Produkt muss einfach eine gewisse Erotik, eine Anziehungskraft haben, irgendetwas Besonderes. Das zweite ist: Wir bewegen uns ja sehr stark im Bereich „Büro“. Mit „Chassis“ haben wir nun ein Produkt, das sich auch in anderen Einrichtungswelten glänzend behaupten kann. Das öffnet die Marke.
Ein Produkt, das fasziniert, das zum „Code“ der Firma und ihrer Historie und Philosophie passt, das neue Märkte erschließen hilft – schön und gut. Verändert „Chassis“ im Unternehmen nicht noch mehr? Was bewirkt das „Labor Chassis“?
Hahne: Technologisch ist die Sache klar: Es gibt neue Zulieferer, neue Technologien, auch wenn man noch nicht wirklich abschätzen kann, welche Veränderungen daraus am Ende erwachsen werden. Wichtiger aber ist: Bei einem Projekt wie „Chassis“ geht es plötzlich nicht mehr nur darum, bestimmte Abläufe effektiver zu machen oder Teile billiger produzieren zu können. Insofern verändert es das Unternehmen grundlegend.
Diez: Das ist mir wichtig: Mit dem Projekt sind alle Beteiligten an ihre Grenzen gekommen. Das gilt für mich als Designer, für die Geschäftsleitung, das Marketing, die Produktentwicklung. Deshalb ist Chassis ein gemeinsames Produkt, auf das viele stolz sein können.
Hahne: Ganz wesentlich ist auch: Mit „Chassis“ wurde der Markenkern von Wilkhahn wiederbelebt und erneuert. In dieser Hinsicht ist das Produkt etwas Besonderes. Nun hoffen wir, dass sich unsere eigene Begeisterung auf Händler und Kunden überträgt. Ich denke, die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Da die Büromöbelbranche nur bedingt die Zielgruppe für „Chassis“ ist, wird es spannend sein zu sehen, wie die Reaktionen in Mailand ausfallen werden.
Diez: Es ist schon verblüffend, dass „Büro“ und „Wohnung“ aufseiten der meisten Hersteller noch immer streng getrennte Bereiche sind. Wir stellen doch seit Jahren fest, dass sich beide Sphären gesellschaftlich aufeinander zu bewegen. Folglich versuchen viele Designer angemessene Repräsentationen für dieses Phänomen zu finden. Da ist es nur konsequent, dass Wilkhahn sagt: Genau genommen ändert sich auch das Arbeiten. Es stimmt ja für viele Arbeitsbereiche nicht mehr, dass man acht Stunden vor einem Desktop sitzt wie in einem Cockpit, weshalb es jede Menge Anforderungen an diese Ergonomiemaschine gibt. Arbeiten wird vielmehr zu einem dynamischen Prozess, es nähert sich dem Leben an, wird in dieses integriert. Man hat keinen festen Platz, arbeitet unterwegs, in wechselnden Konstellationen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Büromöbelhersteller Produkte entwickeln müssen, die solchen Ansprüchen genügen. Hier können Home-Produkte nicht mithalten. Allein schon die Tests, die der Stuhl zu bestehen hat, würden die meisten Home-Produkte nicht bestehen. Deswegen haben wir mit „Chassis“ ein Produkt, das den hohen Anforderungen eines Büromöbels genügt, aber nicht danach aussieht.
Remmers: Wenn man andere Qualitäten will – also einerseits eine Professionalisierung im privaten Umfeld und andererseits eine höhere Privatisierung und Individualisierung im Büro-Kontext –, dann muss man im Büro ansetzen und das Produkt so professionell machen, dass es diese Qualitäten auch wirklich hat. Das kann sicher kein Büromöbel sein, das ein wenig nach Home-Office aussieht. Sicher wird es weiter Cockpit-Arbeitsplätze geben, immer häufiger aber auch andere, an denen es um Kreativität und Wissensvernetzung geht. Inspiration kann man durch eine entsprechende Umgebung fördern. Deswegen hat ein Stuhl wie „Chassis“ auch seinen Platz im Objektgeschäft.
Braucht ein so neuartiges Produkt auch eine neue Ästhetik?
Diez: Die Veränderungen, denen Rechnung zu tragen ist, sind grundlegender. Früher musste ich mich an den Schreibtisch setzen, um arbeiten zu können. Dort standen Telefon und Schreibmaschine. Oder ich musste in eine Bibliothek gehen, um etwas zu recherchieren. Ich musste dort mit dem vorgefundenen Mobiliar vorlieb nehmen. Wenn ich heute eine Recherche mache, setze ich mich dahin, wo ich Lust habe, in den Stuhl, auf den ich Lust habe, ob zuhause oder im Büro. Ich kann überall arbeiten, weil die Informationen zu mir kommen. Wenn eine Firma wie Wilkhahn versucht, auf diese Veränderungen eine Antwort zu finden, dann hat sie eben auch den Background, um entsprechende Lösungen entwickeln zu können. Deshalb ist es für mich viel spannender, in dieser Richtung zu denken als umgekehrt.
Hahne: Die Andersartigkeit hat sehr viel mit Funktionalität, mit Leichtigkeit zu tun. Büromöbel müssen viel höheren Anforderungen genügen. Ohne dass dabei gleich eine Sitzmaschine herauskommen muss.
Diez: Ein Bürostuhl muss die Anforderungen, die man an ihn stellt, immer übererfüllen. Bei einem Stuhl aus dem Heimbereich kann man mit Kompromissen leben. Es ist, als würde man, was die fahrdynamischen Möglichkeiten angeht, einen Sportwagen mit einem Lastwagen vergleichen. Nach fünf Jahren Arbeit an „Chassis“ sind wir momentan etwas erschöpft. Aber es gibt einen Nukleus, aus dem sich noch vieles entwickeln kann. Sicher auch innerhalb von Typologien, die in noch stärkerem Maße zur Kernkompetenz von Wilkhahn gehören als ein Universalstuhl wie „Chassis“. Im Segment der Büromöbel muss noch viel geschehen, um links und rechts des Üblichen Platz zu schaffen für neue Ausdrucksformen.