"Das Material bestimmt die Form!"
Franziska Horn: Sie haben Ihrem Büro den Namen ciguë gegeben, das bedeutet "Schierling". Warum? Immerhin ist diese Pflanze ein ziemlich giftiges Gewächs.
Alphonse Sarthout: Wir waren ziemlich jung, in den Zwanzigern, als wir 2003 zu sechst unser Büro in Paris gründeten und nach einem Namen suchten. Wir wollten keinen Titel, der direkt mit Architektur verknüpft ist und stießen auf dieses Wort mit seiner so eigenen Schreibweise. Welches aber jeder kennt. Wir mochten den Gedanken, dass diese Pflanze zugleich giftig als auch gesund sein kann. Und er wächst einfach so am Wegrand, oft unbeachtet, viele kennen ihn gar nicht.
Zu den Anfängen: Sie begannen damit, Holz und andere Materialien von der Straße zu klauben. Bis heute nimmt das Recyceln eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit ein.
Alphonse Sarthout: Alle Studierenden beginnen so. Wir planten damals ein allererstes Projekt, die Renovierung eines alten Objekts aus dem familiären Umfeld, das aber am Ende nicht realisiert wurde. Wir suchten nach billigen Materialien, die einfach zu bekommen waren – auf der Straße. Es war außerdem ein Weg, sich genau anzusehen, was uns umgibt und Vorhandenes zu nutzen. Und mit dem Faktor zu spielen, dass gealterte Materialien – und Häuser – ganze Geschichten zu erzählen vermögen. Das erscheint uns nur logisch. Und dazu öko-logisch.
Das Material ist also Ausgangs- und Endpunkt?
Alphonse Sarthout: Ja. Früher dachte man darüber nach, mit welchem Material man ein bestimmtes Design umsetzen kann. Heute ist es umgekehrt: Wir passen das Design ans Material an. Wir spielen damit und reizen aus, was das Material her gibt. Wir befassen uns beispielsweise mit recyceltem Papier, Zement und Gipsfaserplatten, auch Fermacell genannt, natürlich auch mit Holz. Wir haben zum Beispiel ganze zwei Jahre daran geforscht, Zement durch Gips zu ersetzen. Zement und Sand sind zwei Baustoffe, die schwierig im Umgang sind und Sand verschwindet zudem immer mehr. In Montreuil haben wir ein altes Haus abgerissen und den Schutt für die Böden verwendet in einer Art Gipsboden. Ein sehr ökologisches Material, das kannst Du zermalmen, backen, verwenden und wieder von vorne. Hier in Montreuil haben wir Gipsbeton auch für die Böden verwendet.
Eine Forschungsreise also.
Alphonse Sarthout: Könnte man sagen. Am Anfang haben wir eher wissenschaftlich gearbeitet. So haben wir mit der Zeit eine ganze Bibliothek von Materialien erhalten. Es ist eine Annäherung und ein Weg, ökologischere Matierialen zu entwickeln und zu zeigen, dass diese wirklich schön sein können. Wir spielen mit technischen Themen, die interessant sein können, hatten 2019 eine Ausstellung im Pavillon d'Arsenal namens „A room for tomorrow“, hierfür haben wir den Protoyp eines Hotels entworfen, mit einem geschlossenen Öko-System.
Was bedeutet das für die tägliche Praxis?
Alphonse Sarthout: Wir ziehen es vor, Materialien in unserer Werkstatt selbst zu entwickeln, statt Muster zu ordern. Wir sägen das Holz, behandeln die Oberfläche, planen den langsamen Alterungsprozess mit ein, die Patina. Ein Stück Holz kann die gesamte Geschichte eines Ortes transportieren. Das Bearbeiten und das Verändern der Materialien, das ist unser tägliches Ritual.
Das Team von ciguë hat also eine so praktische wie ästhetische Designphilosophie?
Alphonse Sarthout: Was uns bis heute antreibt: Architektur ist eine Art und Weise, die Welt zu betrachten. Wir sind seit Tag eins am Experimentieren, wir machen viele sehr unterschiedliche Dinge und können und wollen uns nicht auf einzelne Aspekte spezialisieren. Am Ende geht es in der Architektur darum, sich um Menschen zu kümmern, Menschen zu treffen, auf eine soziale Weise, Architektur ist Teil der Kultur.
Sie haben inzwischen 20 MitarbeiterInnen und entwerfen Shops wie Interiors für Alain Ducasse und Ace Hotel, für Isabel Marant, Kris van Assche, Aesop, Uniqlo, Caudalie, Arabica, das Kaufhaus Samaritaine RIvoli. Und sprechen dabei über eine "demokratische Annäherung an den Luxus". Was bedeutet das?
Alphonse Sarthout: Wir versuchen, Barrieren und Grenzen aufzubrechen, zwischen Denkern und Machern. Wir Menschen lernen schneller, wenn wir Dinge mit unseren Händen ausprobieren. Ich mag die Demokratisierung. Und die Wichtigkeit der Handwerkskunst, die Luxusmarken spielen mit dieser Kunst. Architekten eher nicht so, dabei ist es so wichtig. Diese Luxusprojekte, zum Beispiel für Retailer, ermöglichen den Zugang zum Bauen und Entwickeln von Dingen. Ja, manchmal werden wir gefragt, warum wir mit Luxusmarken zusammenarbeiten. Wir wollen den Wert und die Sichtweise von Luxus verändern, innerhalb der Marke agieren und einen ökologischeren Ansatz verfolgen.
Sind Sie selbst ausgebildeter Handwerker?
Alphonse Sarthout: Kein gelernter, aber wir setzen das Handwerk als Link, als Verbindung ein. Der Drang, handwerkliche Dinge zu machen, war immer stark, aber wir sind in der Kapazität begrenzt. Als wir unser Projekt für Isabel Marant in Tokio starteten, erlebten wir eine Offenbarung: Wir entdeckten die japanische Handwerkskunst, das öffnete unseren Geist und wir trafen auf die richtigen Mitarbeiter. Die KundInnen sind häufig anspruchsvoll, und so lernen wir neue Handwerkstechniken kennen. Auch bezüglich unseres Auftraggebers Aesop. Es erfordert eine enge Zusammenarbeit, wenn man in die Welt des Designs einsteigt und jeden Tag verrückte Dinge macht, wie eine Acht-Meter-Röhrenlampe für die Ducasse Brasserie. Es ist eine Herausforderung hinsichtlich der Skalierung. Es hat zuvor fünf Jahre gedauert, den Glasmacher von unserem Projekt zu überzeugen, wir mussten ihn erst aus seiner Komfortzone holen.
Auch das Interieur des Hotel Tribe Clichy erzählt mit handwerklichen Zitaten von der industriellen Geschichte dieses Pariser Vororts.
Alphonse Sarthout: Ja, hier haben wir zum Beispiel Backstein im Foyer eingesetzt, dazu emaillierten Lavastein, Naturstein, Terrazzo und Messing. An den Zimmerdecken aus Beton zeigt sich der Abdruck der Verschalungen aus Holz als Erinnerung an das 'making of'.
Sie entwerfen ebenso Möbel, genannt Archetypen – was verstehen Sie darunter?
Alphonse Sarthout: So nennen wir Grundformen im Design. Wir glauben nicht, dass man etwas Neues erfinden muss, denn alles existiert bereits. Es geht darum, bereits Bekanntes zu reaktivieren und zu erkennen. Etwas also, das allen gemeinsam ist. Es geht darum, es zugänglicher, nutzbarer, zu machen. Es ist wie ein Déjà-vue, das einem ein gutes Gefühl von Vertrautheit gibt.
Können Sie etwas zu aktuellen Projekten sagen?
Alphonse Sarthout: Für Caudalie in Paris gestalten wir das Headquarter und das Spa. Dazu arbeiten wir am Interior von "Viberg" in New York, ein Schuh-Label aus Kanada, und auch an "12 New York", eine Matcha-Brand und eine neue Marke, mit der wir arbeiten. Daneben eine Kunstschule in Cergy im Nordwesten von Paris, die wir zusammen mit einem anderen Architekturbüro geplant haben.
Und wart ihr auch schon in Deutschland aktiv?
Alphonse Sarthout: In der Tat: Wir haben einige Böden für das KaDeWe in Berlin geplant.