Man kann sich nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden
Man nehme: Einen Kunststudenten, der seinen Professor und seine Kommilitonen durch clevere Bezüge auf Marcel Duchamp zu beeindrucken weiß. Einen zu allem entschlossenen Abenteurer, dem es nichts ausmacht, seinen Rausch auf ausrangierten Sofas draußen auf der Straße auszuschlafen – Hauptsache, er ist im Zentrum der Kunst angekommen: in New York. Einen Größenwahnsinnigen, der glaubt, auf der griechischen Insel Syros sein eigenes Museum of Modern Art, das MoMAS, gründen zu können. Einen Gescheiterten, der sich im Kölner Chelsea Hotel hemmungslos dem Alkohol-, Sex- und Schaffensrausch hingibt. Einen Selbstverliebten, der das Sortiment der Buchhandlung Walther König auf die eigenen Publikationen zu reduzieren versucht. Einen Genialen, der sich durch Überlassung von Kunst das Recht erwirbt, lebenslang in der Berliner Paris Bar frei trinken und essen zu dürfen. Einen Marketing-Experten, der dafür sorgt, dass alle Welt seine Anwesenheit auf der Kunstbiennale von Venedig zur Kenntnis nimmt, obwohl dort gar keine Werke von ihm zu sehen sind.
Anhand der mehr oder weniger glaubhaft überlieferten Lebensstationen eines Martin Kippenberger extrahiert Christian Jankowski mit wissenschaftlicher Genauigkeit die Ingredienzien des Künstlermythos. Im Format eines History Channel erzählt er mit Hilfe einer professionellen Crew die Passionsgeschichte und Apotheose des viel bewunderten Enfant terrible nach. Den Franz Erhard Walther, bei dem Kippenberger ebenso wie er selbst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studiert hat, gibt Jankowski gleich selbst – das lässt er sich nicht nehmen. Schauspieler Wilson Ng aus Singapur führt als seriöser Moderator routiniert in die acht an Originalschauplätzen gedrehten Episoden ein, filtert das allgemein gültige Erfolgsrezept großer Künstler heraus und trichtert es dem Publikum in kurzen Merksätzen ein. Neben außergewöhnlichem Talent und einflussreichen Gönnern bedarf es gelegentlicher Rückschläge, eines heroischen Durchhaltevermögens, der Gabe, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, und der Gnade eines frühen Todes. Zum Schluss empfiehlt der professionelle Ratgeber: „Go and build your legend.“ So also geht’s. Künstler werden – leicht gemacht. Ist das nun zum Lachen? Oder doch eher zum Weinen?
Wie man zum Künstler wird und seinen Nachruhm sichert, hat Christian Jankowski seit jeher interessiert. Dabei ist ihm immer wieder das Kunststück gelungen, die institutionellen Machtmechanismen parodistisch zur Schau zu stellen und zugleich die Erwartungen, die an ihn als einen global agierenden Künstler gestellt werden, zu erfüllen. Ob er mit Pfeil und Bogen im Supermarkt auf Jagd nach Lebensmitteln geht, sich von Wahrsagerinnen im italienischen Fernsehen den Fortgang seiner künstlerischen Karriere prophezeien lässt, die Schauspielerin Nina Hoss als Kuratorin engagiert oder selbst in die Rolle des Kurators schlüpft, um anlässlich der 11. Manifesta in Zürich herauszufinden, was Menschen bereit sind, für Geld zu tun: Stets ist es das rhizomatische und mediale Netzwerk aus Kuratoren, Galeristen, Sammlern, Film-, Fernseh- und Web-Prominenz, das er zugleich bedient und decouvriert. Wo die Affirmation endet und die kritische Reflexion beginnt, ist nicht so ohne weiteres auszumachen – darin ist Jankowskis künstlerische Strategie der von Andy Warhol nicht unähnlich.
Im Haus am Lützowplatz in Berlin setzt Christian Jankowski derzeit „Die Legende des Künstlers und andere Baustellen“ in Szene. Inmitten von acht großen Kulissenwänden im Format von vier mal sieben Metern, die Jankowski vor einigen Jahren als Bühnenbild für das Theaterstück „Kippenberger! – Ein Exzess des Moments“ entworfen hat, ist eine Sitzecke aufgebaut. Von der harten Bank aus hat man freie Sicht auf die bereits erwähnte Kippenberger-Parodie im TV-Biopic-Format. Ihr haben die Kuratoren Alexandra von Stosch und Marc Wellmann eine Werkgruppe beigesellt, die Jankowski einem nicht minder legendären Künstler widmete: Vincent van Gogh.
„Chinese Whispers“ (2015) basiert auf Tableau Vivant-Selfies, die Jankowski im Internet aufspürte. Fans des berühmten Malers ahmten die Posen seiner Selbstporträts nach und stellten sich als van Gogh-Imitatoren ins Netz. Diese fotografisch überlieferten Reenactments ließ Jankowski von Kopisten in der chinesischen Bildreproduktionsstätte Dafen in „echte“ Gemälde übersetzen – und zwar jeweils korrekt übertragen in das Format der van Gogh’schen Vorbilder. Die Frage, warum so viele Menschen in aller Welt davon träumen, ein „falscher“ van Gogh zu sein, bleibt, wie nicht anders zu erwarten war, unbeantwortet. Ebenso wenig lässt sich klären, was in diesem komplizierten medialen Aneignungs- und Transformationsprozess als Original, was als Reproduktion zu bezeichnen ist.
Dem die Sinne verwirrenden Prinzip der Wiederholung und Wiedereinspeisung in das Betriebssystem Kunst huldigt auch ein Loop, der Chris Burdens Werbeclip „Chris Burden Promo“ aus dem Jahr 1976 nachahmt. Burdens typographische und klangliche Aneinanderreihung von Namen großer Meister wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Rembrandt, Vincent van Gogh, Pablo Picasso und – darin lag in den 1970er-Jahren die Ironie – Chris Burden selbst ergänzt Jankowski um den Zusatz „Und später mal ein anderer Schlucker“. Das ist albern, zweifellos. Aber vielleicht ist es der Wunsch, Künstler mögen auch im digitalen Zeitalter noch immer den nur sich selbst verpflichteten Außenseiter, den unbestechlichen Gesellschaftskritiker und den siegesgewissen Märtyrer verkörpern, ja nicht minder. „Man kann sich nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden“, bemerkte schon Martin Kippenberger trocken. Aber man kann, wie Christian Jankowski im Haus am Lützowplatz überzeugend unter Beweis stellt, die Legende vom Künstler dekonstruieren und zugleich ein namhafter Künstler sein.
Christian Jankowski
Die Legende des Künstlers und andere Baustellen
Haus am Lützowplatz
10785 Berlin
bis 20. November 2016