Mischwesen
Das 15. Arrondissement von Paris liegt im Südwesten der Stadt, wo Seine und die Ring-Boulevards zusammenkommen. Südlich der Rue Lecourbe gab es hier lange Jahre ein Areal, das, obschon mitten in Paris gelegen, doch nicht wirklich Teil der Stadt war. Die RATP (Régie autonome des transports Parisiens), Betreiberin des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs in der französischen Hauptstadt und ihrem Umland, führt hier in Werkstätten auf mehr als zwei Hektar die Wartungen ihrer U-Bahnen durch. Dominique Lyon Architectes entwickelten einen Masterplan für das Gelände, das sich bis zur in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rue Croix Nivert erstreckt, der die industrielle Nutzung mit neuem Wohnbau kombiniert. So soll der wie ein Vakuum inmitten städtischen Lebens vor sich hin vegetierende Bereich zu einem tatsächlichen Teil der Stadt werden. Dafür legen Dominique Lyon Architectes eine neue Straße in Ost-West-Richtung durch das Gelände und ergänzen die für die RATP notwendigen Werkstätten und Büros um Wohnungen. Nun gehen über den industriellen Nutzungen im Erdgeschoss und dem ersten Stockwerk fünf Wohngeschosse auf. Ergänzt werden diese Mischnutzungen durch weitere Wohnbauten, die rings um die Werkstätten die jeweils vorgefundenen Blockstrukturen sinnfällig fortschreiben und das neue Quartier mit der umliegenden Stadt verknüpfen.
Eines der Gebäude wurde vom Baseler Architekturbüro Christ&Gantenbein entworfen und gemeinsam mit Margot-Duclot Architectes als lokalem Partnerbüro vor Ort realisiert. Das Team um Emanuel Christ und Christoph Gantenbein griff dafür auf Untersuchungen zurück, die die beiden im Rahmen ihrer Professur mit Studierenden an der ETH Zürich durchgeführt hatten. Dabei wurden zahlreiche Fallbeispiele in Athen, Dehli, São Paulo und eben Paris untersucht, um eine Art Katalog prototypischer Typologien der vier Städte zu erstellen – zuvor wurde das Vorgehen bereits anhand der Städte Buenos Aires, Hong Kong, New York und Rom erprobt. Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelten die ArchitektInnen eine Art Wohn-Schlange, 124 Meter lang, die sich der neuen Straße folgend auf dem Werkstattgebäude und nördlich des eigentlichen Gleiskörpers des Ausbesserungswerks erhebt. Federnd gelagert ist die Konstruktion unabhängig von den Vibrationen und Erschütterungen der darunterliegenden Hallen.
Motive der Haussmannschen Stadt prägen das lange Gebäude auf den ersten Blick: Ein aus den Proportionen der typischen Pariser Fenster entwickeltes Fensterformat wird konsequent für alle Öffnungen der Fassade genutzt und taucht auch im Inneren immer wieder auf. Balkone und Loggien bilden Vor- und Rücksprünge, die die lange Straßenfront angemessen gliedern und für eine Varianz innerhalb der gleichförmigen Fassadengestalt sorgen. Die Bekleidung wiederum ist konsequent und homogen über das gesamte Haus gezogen und lässt als klar lackiertes metallisches Kleid Assoziationen der Pariser Dächer und Mansarden aufkommen. Unter dem Metallkleid der Fassade verbirgt sich ein Stahlbetonskelett, das mit vorgefertigten Holzelementen ausgefacht wurde. So ist das Haus merklich eine aktuelle Architektur, die jedoch ebenso nachvollziehbar in der Stadtgeschichte verwurzelt ist – vor allem in der des 19. Jahrhunderts.
Sowohl durch Konstruktion wie Bekleidung konnten die Baukosten in einem verträglichen Rahmen gehalten werden, schließlich ging es darum, hier Sozialwohnungen zu schaffen. 104 Wohnungen finden so nun ihren Platz in der Stadt. Auch im Inneren wurde ein Kanon einfacher, robuster, aber doch wertiger Elemente geschaffen, die sich zum einen im verfügbaren Kostenrahmen des sozialen Wohnungsbaus bewegen und gleichermaßen würdevolle Wohnräume zur Verfügung stellen. Jeder Wohnung ist mindestens ein Balkon oder eine Loggia zugeteilt, die ihrerseits nicht als Teil der Wohnflächenberechnung auftauchen und somit den Raum vergrößern, der den Bewohnenden tatsächlich zur Verfügung steht. Zudem dienen diese ungeheizten Bauteile als eine Art klimatischer Pufferraum zur Vorregulierung der Temperaturen der Innenräume.
Vier Wohnungstypen zwischen kleinem Studio und großer Fünf-Zimmer-Wohnung haben die ArchitektInnen entwickelt, sodass eine gewisse Durchmischung der Milieus innerhalb des Hauses möglich ist. Dieses Haus könnte nicht nur zu einer funktionalen Mischung innerhalb des Quartiers betragen, sondern selbst als durchmischter Stadtbaustein einen Beitrag zur Frage leisten, wie sozialer Wohnungsbau heutzutage aussehen kann.