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Natürlicher Ursprung: Für die Linie "Patina" aus dem Hause Camira wird Flachs mit Wolle versponnen und schließlich gewebt.

Stil mit Substanz

Es wird viel von nachhaltiger Produktion geredet. Camira praktiziert sie seit Jahren. Der britische Textilhersteller stellt Stoffe aus Brennnesseln, Hanf und Jute her und setzt massiv auf Recycling.
von Martina Metzner | 14.07.2017

Schon im 16. Jahrhundert wurde Manchester durch den Wollhandel zu einem Zentrum der europäischen Textilproduktion. Nicht von ungefähr bezeichnet man Cord im Volksmund auch als "Manchester". Seit den 1970er Jahren hat der Standort allerdings an Bedeutung verloren; vor allem günstigere Produktionsstätten in Fernost machten den Briten im Bekleidungssektor Konkurrenz. Was die Bezugsstoffindustrie angeht, verhält es sich freilich etwas anders: Der Textilhersteller Camira etwa kann sich auf dem Weltmarkt mit zunehmenden Wachstumsraten behaupten. Selbst in China, so ist vom Management zu hören, seien die Stoffe gefragt, da man deren Qualität schätze.

Das hat auch etwas mit der vollstufigen Textilproduktion zu tun, die sich Camira im Laufe der letzten Jahrzehnte rund um den Hauptsitz in Mirfield, West Yorkshire, circa 50 Kilometer entfernt von Manchester, aufgebaut hat. Eine absolute Besonderheit: Nur wenige Textilhersteller spinnen ihre Garne selbst – und genau damit kann Camira punkten.

Das Unternehmen wurde 1974 von David Hill als reiner Stoffvertrieb unter dem Namen "Camborne Fabrics" gegründet. Hills Idee war es, Stoffe auf Lager und damit zum Sofortverkauf anzubieten – damals ein Novum. Erst in den vergangenen Jahren kaufte man die umliegenden, kooperierenden Fabriken hinzu, um sich die Herstellung vor Ort zu sichern. Heute liegen die drei Produktionsstätten, in denen gesponnen, gefärbt, gewebt und gestrickt,  kettgeschärt und genäht wird, in einem Umkreis von 20 Kilometern um das Headoffice.

Welcome: Das Headoffice von Camira in Mirfield befindet sich in einer ehemaligen Weberei.

Stoffe von Camira findet man hauptsächlich in Hotels, Büros und Kliniken, ebenso in Verkehrsmitteln wie Bussen und Bahnen. Wer schon mal die Londoner Underground benutzt hat, dürfte bereits auf Camira-Stoffen gesessen haben. Und in den Büros von Google, der BBC, Linkedin, Microsoft und Skype sorgt Camira bei so viel kühler Technologie fürs Stofflich-Warme, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auch heute noch hält Camira eine riesige Menge "on Stock" – insgesamt 2.500 Linien. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass man bei Camira Stoffe schon ab einem Laufmeter Länge bestellen kann.

Auch wenn das Design der Stoffe vor allem "inhouse" kreiert wird, so arbeitet der britische Hersteller doch immer wieder projektbezogen mit anderen namhaften Designern und Architekten zusammen, etwa mit Foster + Partners, Kinzo oder Ippolito Fleitz. Zuletzt brachte der Hersteller in Zusammenarbeit mit der norwegischen Designerin Torunn Myklebust einen besonderen Webstoff mit geometrischem Muster unter dem Titel "Corrosion" heraus, der auf die rostige Farbigkeit des Stoffs anspielt.

Man kann Camira durchaus als den "hidden star" der Bezugspolsterbranche bezeichnen. Mögen andere Hersteller in der breiten Öffentlichkeit bekannter sein und mit extravaganten Designerkooperationen auffallen, so ist Camira gleichwohl ein sehr geschätzter und konstanter – aber eben auch "leiser" – Partner von führenden Möbelherstellern wie Girsberger, Herman Miller, Haworth, Interstuhl, Knoll, Steelcase oder Wilkhahn.

Dass Camira den Weg in die Möbelindustrie fand, hat auch etwas mit dem zwischenzeitlichen Besitzer "Interface" zu tun. Der britische Teppichhersteller hatte das Unternehmen 1997 gekauft. Zehn Jahre später kaufte das Management gemeinsam mit weiteren Shareholdern Camira wieder zurück. Seit zwei Jahren führt nun Grant Russell das Unternehmen als CEO. Bis zum Jahr 2020 will er alle Unternehmensbereiche unter der gemeinsamen Klammer "style with substance" zusammenfügen. Im Detail bedeutet das: "To celebrate textile design and manufacturing, pushing boundaries, valuing people, and bringing interiors to life."

Hier wird das lose Garn zu einem festen versponnen.
"Rivet" besteht aus 100 Prozent recyceltem Polyester.

Beim Gang durch zwei Produktionstätten – der Spinnerei Bay Hall Mills in Huddersfield und der Weberei in Meltham – fallen in den Hallen große Plakate auf, die den Mitarbeitern die Vision verdeutlichen. Russell setzt nicht nur – ganz im Sinne des Gründers – konsequent auf Kundenorientierung, sondern auch auf ein kollegiales Miteinander. Der Umgangston mit den rund 750 Mitarbeitern ist entsprechend freundlich und kooperativ. Manche Kollegen arbeiten schon seit 40 Jahren für Camira. Auch das ist mit dem Motto "style with substance" gemeint. Noch deutlicher wird es, wenn man mit Paul Arnold spricht, der für "Corporate Social Responsability", kurz CSR, beziehungsweise für Nachhaltigkeit zuständig ist und sämtliche Prozesse und Bereiche des Unternehmens durchleuchtet, um diese auf eine für Mensch und Umwelt verträgliche Basis zu stellen.

Für das erste nachhaltige Gewebe namens "ResKu" gewann Camira 1996 noch Wolle aus alten Militär-Pullovern. Seitdem hat sich viel getan: Zur Orgatec 2016 wurde der leicht strukturierte Hopsack-Stoff "Rivet" vorgestellt, der zu 100 Prozent aus "Repreve" besteht, einem wiederaufbereitetem Polyestergarn aus PET-Flaschen. Dazu recycelt Camira unter anderem die Webkanten aus der Stoffproduktion oder Jutefasern aus gebrauchten Kaffeesäcken. Der bei der Produktion anfallende Abfall konnte so von früher 340 Tonnen im Jahr aktuell auf weniger als eine Tonne reduziert werden. Ebenso hat Camira ein Rücknahmemanagement installiert, das die gebrauchten Stoffe vom Kunden wieder zurück in die Fabrik bringt. Der Kreislaufwirtschaft gehört die Zukunft, da sind sich die Briten sicher.

Nachhaltig sind auch die Bastfasern, die Camira zunehmend in seine Kollektionen aufnimmt. Der Vorteil dieser Fasern gegenüber Synthetikfasern: Sie sind nachwachsend und biologisch abbaubar. Und obendrein tauglich fürs Objektgeschäft. Seit der Einführung der Brennnesselfaser beziehungsweise der "Nettle Collection" im Jahr 2008 hat Camira acht neue Stoffe auf den Markt gebracht, die Hanf, Flachs oder recyclte Jute enthalten. Ob Bastfasern oder recycelte Wolle beziehungsweise Polyester – Camira nennt es die "moralische Faser". In Zahlen ausgedrückt: Rund 50 Prozent der Stoffe fürs Objektgeschäft sind mit dem EU Ecolabel zertifiziert.

Das Beispiel des Brennnesselgarns zeigt gut, was Camira unter "Pushing boundaries" – die Grenzen ausloten – versteht: Ganze zwei Jahre Entwicklung bedurfte es, um aus der Brennnessel eine Faser zu gewinnen und diese mit Wolle zu verspinnen. Dabei ist die Verwendung von Brennelfasern nicht ganz neu, war die Brennnessel doch jahrhundertelang ein bekannter Rohstoff für Textilien. So hat man beispielsweise in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Brennnesseln für Stoffe verwendet. Doch die industrielle Aufbereitung dieses Rohstoffes, genauer das mechanische Entfernen der äußeren Rinde, um die Fasern im Inneren zu erhalten, hat es sprichwörtlich in sich. Dank der Zusammenarbeit mit einem deutschen Professor und der De Montfort University in Leicester klappte es schließlich. Ginge es nach Camira, so würden wir in Zukunft ohnehin nichts mehr wegwerfen – aller Abfall ist schließlich Rohstoff. Um das zu demonstrieren hat Camira zusammen mit der "Royal Society of Arts" (RSA) 2015 ein altes, ausrangiertes Sofa von der Müllkippe gerettet, mit recyceltem Material aufgearbeitet und bei der Clerkenwell Designweek in London ausgestellt. Man sieht: Es geht!

Entstanden aus der Kooperation zwischen "Royal Society of Arts" (RSA) und Camira: das "Survivor Sofa"
Biologisch abbaubar: Für die "Nettle Collection" werden Brennnesselfasern mit Wolle versponnen.
Erster Schritt: Hier werden die Fasern auseinandergezupft, gekämmt und schließlich in Fäden zum weiteren Spinnen zusammengeführt.
Feinstarbeit: auf den Webstühlen am Standort Meltham werden über 8 Millionen Meter Stoff pro Jahr gewebt.
Warping: Hier werden die Garne auf eine große Rolle zur Kettvorbereitung aufgespult.
Mustergültig: Im Labor werden die Farbwerte der einzelnen Garne miteinander verglichen.