Kreise ziehen

Scheinbar schwerlos hängt sie zwischen den beiden Gebäuden im Brüsseler Regierungsviertel – die neue Brücke, die den Palais de la Nation mit dem Forumsbau gegenüber verbindet. Ersterer ist der Sitz des belgischen Parlaments, dessen Mitglieder nun bequem in die neuen Sitzungssäle auf der anderen Seite wandeln können. Entworfen wurde der schwebende Ring vom ebenfalls in Brüssel ansässigen Office Kersten Geers David Van Severen. Das hat anscheinend eine Vorliebe fürs Runde, denn die Kreuzung aus Passerelle und Pavillon erinnert unter anderem an das Solo House, das Kersten Geers und David Van Severen 2017 ins spanische Hinterland stellten. Im Unterschied zu dessen radikaler Offenheit präsentiert sich der 2020 fertiggestellte und "Tondo" genannte Bau nach außen hin als geschlossenes und abstraktes Kunstwerk, dessen verspiegelte Außenhaut den umgebenden Stadtraum reflektiert. Nur in der Annäherung offenbart sich das verglaste Innere, in dem sich die Nutzer über geschwungene Rampen von einem Ort zum anderen bewegen.

Da die Architekten die funktionalen Vorgaben um räumliche Qualitäten bereichern wollten, konzipierten sie die Brücke als inoffiziellen Ort des Austauschs, der im Notfall als Fluchtweg dient. Die Bezeichnung "Tondo" kommt nicht von ungefähr, denn Kersten Geers und David Van Severen hatten bei ihrem Entwurf die kreisförmigen Bilder gleichen Namens im Kopf, die besonders in der Renaissance Verwendung fanden, und in verschiedenen Epochen auch als architektonisches Gestaltungselement dienten. Als weitere Referenz nennen sie die Seufzerbrücke in Venedig, die den Dogenpalast mit dem Prigioni nuove, dem neuen Gefängnis, verbindet. Anders als beim venezianischen Vorbild handelt es sich beim Projekt der Belgier um eine moderne Konstruktion, die immerhin 20 Meter überbrücken muss. Tragwerkstechnisch funktioniert das mit Hilfe einer stählernen Dachstruktur in Form einer geneigten Scheibe, die auf der Oberseite ausgesteift ist. Die Fassaden und die untere Bodenplatte sind davon abgehängt, während die nicht sichtbaren Auflagerpunkte, die das Dach und den Bestand miteinander verbinden, die Illusion des schwebenden Rings erzeugen. Auch gestalterisch kommt das "Tondo" trotz seiner Vergangenheitsbewältigung ganz frisch daher, denn Kersten Geers und David Van Severen haben natürlich auch aktuellere Referenzen im Gepäck, wenn es um die Einflüsse auf das eigene Schaffen geht. Die reichen von David Hockney über Reyner Banham bis hin zum frühen Rem Koolhaas, von dem sie sich das Prinzip der architektonischen Irritation entliehen haben dürften. Die ist auch ihrem "Tondo" eingeschrieben, das nun über den Köpfen der Passanten schwebt und einen Einblick gibt, wie die Abgeordneten ihre Kreise ziehen.