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Britain can make it
von Thomas Wagner | 11.04.2013
„Geheimreport Deutsches Design“, Alle Fotos © Tatjana Prenzel, Stylepark

Wovon hier berichtet wird, hat wenig mit dem glamourösen Image zu tun, das man heutzutage mit dem Begriff „Design“ verbindet. Und doch deutet sich bereits eine Entwicklung an, die dazu geführt hat, dass immer häufiger die Gestaltung und nicht allein die Technik industriell gefertigter Massenprodukte über deren Erfolg entscheidet. Lapidar und in der Diktion einer Behörde heißt es über das Unternehmen, das nun unter dem Titel „Geheimreport Deutsches Design“ vorliegt: „Auf Vorschlag des Präsidenten des Handelsministeriums, des Council of Industrial Design, hat die Warenabteilung (good offices) des British Intelligence Objectives Sub-Committee vier Teams nach Deutschland geschickt, um die Stellung des Designers in der deutschen Industrie zu untersuchen.“

Die Sache ist so heikel wie spannend, ist es doch der britische Militärgeheimdienst BIOS (British Intelligence Objectives Sub-Committee), der neun namhafte britischen Designer und Designexperten zwischen Juli und Dezember 1946 nach Deutschland entsendet. In verschiedenen Teams besuchen sie insgesamt 92 Firmen verschiedener Branchen und 22 Ausbildungsstätten für Produktgestalter in der britischen und – mit eingeschränkten Kompetenzen – der amerikanischen Zone. Befragt werden Unternehmer, Geschäftsführer, Techniker, Architekten und Innenarchitekten, Designer und Lehrkräfte an Fach- und Hochschulen. Es werden jede Menge Produkte begutachtet, Fotos und Zeichnungen gesammelt, um herauszufinden, welche Forschungs- und Produktionsmethoden angewendet werden, welche Stellung ein Designer in der Industrie einnimmt, was er verdient und wie er ausgebildet wird. Auch für Vertriebswege, Marketing und Marktforschung interessieren sich die Emissäre. Schwerpunkte sind Berlin, Frankfurt am Main, Offenbach, Stuttgart, München, das bayrische Selb, Krefeld und Bielefeld. Was die Branchen angeht, sind es die elektrotechnische Industrie, die Leichtmetall- und Kunstfaserverarbeitung, aber auch Tapeten- und Metallwarenhersteller sowie Firmen der Möbel-, Textil- und Modeindustrie, die untersucht werden.

Herr Pott aus Solingen erscheint vor den Abgesandten in seiner braunen Arbeitskleidung und spricht Dialekt. Die Edelstahl-Waren, die er herstellt, gestaltet sein Sohn. Herr May, ein Meistertischler aus Osterode, der eine kleine Möbelfirma mit fünfzehn Angestellten betreibt, hat sich während seiner Ausbildung an einer Fachschule in achtzig Prozent der Kurse mit Zeichnen beschäftigt. Er präsentiert einen neuartigen Stuhl ohne Nägel oder Schrauben, von dem tausend Stück pro Woche in der Stuhlfabrik Escher-Hattorf im Harz hergestellt werden. Der Architekt Arno Lambrecht gehört zu den wenigen, die auch als Industrie-Designer arbeiten. Seine Hauptkunden sind Möbelhersteller wie Knoll und Behr. Er erzählt, wie er als junger, mittelloser Designer Telefunken fünf unterschiedliche Entwürfe für Radio-Gehäuse angeboten hat, die revolutionär gewesen seien. Als von seinen Gesprächspartnern Kritik an Details geäußert wird, beharrt er darauf, sie sollten entweder alle oder keinen seiner Entwürfe nehmen. Obgleich sie wenig Enthusiasmus zeigen, wird er gefragt, was er sich als Honorar vorstelle. Er nennt die lächerlich hohe Summe von 20.000 Reichsmark – und sie akzeptieren.

Die Aktion, die den Zweck verfolgt, herauszufinden, worauf die in Britannien ausgemachte Überlegenheit der deutschen Hersteller in Sachen „Formgebung“ oder „Design“ gründet, scheint erstaunlich unproblematisch verlaufen zu sein, obgleich die deutschen Unternehmen gegenüber den Siegermächten auskunftspflichtig sind und die Briten Uniform tragen. Der abschließende, 155 Seiten umfassende Gesamtbericht mit dem Titel „Design Investigation in Selected German Consumer Goods Industries“ wird im Sommer 1947 einem Kreis von Beamten des Wirtschaftsministeriums und britischen Industriellen vorgelegt. Für kurze Zeit ist er als Typoskript auch für 14 Shilling in der Geschäftsstelle des BIOS zu beziehen.

Anne Sudrow, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat den Geheimbericht in Cambridge – genauer, im Außendepot des Londoner „Imperial War Museums“ am ehemaligen Flughafen Duxford – wiederentdeckt und, versehen mit einer fundierten Einleitung, in der sie die Voraussetzungen und Hintergründe des Vorhabens erläutert und dessen Ergebnisse technik- und designhistorisch einordnet, in der Originalsprache herausgegeben. Im Anhang finden sich zudem Biografien der wichtigsten im Bericht erwähnten Produktgestalter. Nach ihrer Einschätzung muss der Bericht „als die wohl umfassendste und bedeutendste Quelle über die Praxis der Produktgestaltung in der deutsche Industrie um die Mitte des 20. Jahrhunderts angesehen werden“.

In der Tat gewährt der Bericht einzigartige Einblicke in die Realität der industriellen Produktion von Konsumgütern im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Neugier der Briten auf deutsches „Know How“ gilt zwar in erster Linie der Rüstungs- und Chemieindustrie, doch sehen die Alliierten in der Konsumgüterindustrie schon deshalb einen Bereich, den auszuforschen es lohnt, weil im Zuge des NS-Vierjahresplans ab 1936 in jenen Industrien Ersatzstoffe verwendet wurden. Was diese Kunststoffe angeht, waren die Deutschen besonders innovativ. Fragen danach, welche Design- und Produktionsmethoden die Deutschen anwendeten, waren also keineswegs zweitrangig. Im Gegenteil. Die Briten waren in Sachen „Formgestaltung“ im Hintertreffen und das ökonomische Wettrennen mit Amerika hatte gerade erst begonnen. Unglücklicherweise sind die Produkte, Materialproben, Kataloge und Broschüren der deutschen Hersteller, die von der BIOS-Kommission eingesammelt wurden, verloren gegangen, weshalb sich nicht mehr rekonstruieren lässt, auf welche Produkte sich der Bericht im Einzelnen bezieht.

Sudrow nennt drei Gründe für das immense Interesse: Erstens sei es den Briten in der eigenen Besatzungszone um Kriegsreparationen und um für die eigene Industrie verwertbare Leistungen gegangen. Da man – im Unterschied zu Franzosen und Russen – weitgehend auf materielle Reparationen wie die Demontage von Maschinen verzichtete, hielt man sich an das entsprechende „Know How“. Zweitens verfolgte das britische Wirtschaftsministerium seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine „neue und innovative Art der Wirtschaftspolitik“, die Design staatlich förderte, um die Exportchancen britischer Produkte zu verbessern. Bereits 1944 war zu diesem Zweck das „Council of Industrial Design“ gegründet worden, das helfen sollte, Vorstellungen von einer „guten Industrieform“ in der Konsumgüterindustrie zu verankern. Zudem hatte der Labour-Wirtschaftsminister Stafford Cripps im September 1945 einen Plan zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit britischer Unternehmen auf dem Weltmarkt vorgelegt. Drittens schließlich habe die Mission einem Berufsstand geholfen, sich in Britannien zu professionalisieren: dem des Industriedesigners.

Zusätzlich an Spannung gewinnt der detaillierte Report dadurch, dass in wenigen anderen Berichten des Geheimdienstes Fragen der Warenästhetik überhaupt eine Rolle spielten. Darüber hinaus war es kein geringerer als der aus Deutschland emigrierte Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner, der, da er zunächst nicht als Kunsthistoriker arbeiten konnte, mit seiner Methode der empirischen Designforschung in England bekannt geworden war. Bereits 1937 hatte er eine Studie veröffentlicht, die für heftige Diskussionen gesorgt hatte, behauptet Pevsner in ihr doch, neunzig Prozent der britischen Produkte seien ohne ästhetische Qualität, der Zustand der Produktgestaltung verheerend. Habe die „moderne Bewegung“ mit John Ruskin und William Morris einmal in Großbritannien ihren Ausgang genommen, so sei sie seit dem Ersten Weltkrieg verkümmert. Als Vorbild galten ihm Gropius und das Dessauer Bauhaus, die Design als Mittel der Sozialreform sowie Handwerk, Kunst und Industrieproduktion als zusammengehörend begriffen hätten.

Das war starker Tobak. Manche vermuteten sogar, Pevsner sei ein deutscher Agent. Die These, Deutschland sei das Zentrum der modernen Gestaltung, weil die deutschen Designer im Unterschied zu ihren englischen Kollegen die Maschine nie abgelehnt, sondern die Möglichkeiten der Serienproduktion produktiv genutzt hätten, war vermutlich einer der Gründe, weshalb Pevsner maßgeblich an dem Geheimbericht mitwirkte. Seine „empirische Designforschung“ bildet auch 1946 die methodische Basis. Im Grunde erhebt der Geheimbericht weiteres empirisches Material für Pevsners These, Deutschland habe Großbritannien in Sachen Design überflügelt. Mit Margaret Leischner gehörte eine weitere Emigrantin zum Team, die kurzzeitig die Weberei des Dessauer Bauhauses geleitet und von 1932 bis 1936 Stoffentwurf an der Berliner Textil- und Modeschule unterrichtet hatte, bevor sie 1936 oder 1938 aus politischen Gründen nach England emigrierte.

Der Report beleuchtet freilich nicht nur ein Kapitel der Industrie- und Zeitgeschichte. Er macht auch nachvollziehbar, wie grundlegend der Umschwung der deutschen Konsumgüterindustrie auf eine moderne, von Ästhetik und Werbung bestimmte Produktion erfolgte. Überraschend ist zudem, wie rasch nach Kriegsende kommerzielle Erwägungen militärische abgelöst haben.

Ausdrücklich wird im Bericht festgestellt, wie begeistert die deutschen Unternehmer „von guter Gestaltung“ seien, wie bereit sie seien, sich „mit deren Philosophie auseinanderzusetzen“. Sie unterstützten die Ausbildungsstätten ihrer Industrie „nicht nur finanziell, sondern nähmen auch auf deren Lehrpläne und die Bildungspolitik Einfluss“. Auch seien die Konsumenten in Deutschland „kritischer“ gegenüber den Produkten, was die Kommission auf drei Ursachen zurückführt: Das kulturelle Niveau sei in den Städten der Provinz höher, weil Berlin als Metropole nie die Bedeutung von London erlangt habe, die „Moderne“ habe in Deutschland größeren Erfolg gehabt, und die Ausbildung aller am Produktionsprozess beteiligter sei besser.

Die Zeiten, in denen „Made in Germany“ als Kainsmal für die deutsche Billigkonkurrenz eingeführt worden war, die Ende des 19. Jahrhunderts schamlos britische Unternehmen ausforschte, war also lange vorbei. Besonders was Kundennähe und professionelle Produktgestaltung anging, war man in Britannien keineswegs auf der Höhe der Zeit. Zudem beschäftigte die britische Industrie noch immer wenige ausgebildete Designer, deren Tätigkeit obendrein auf bloßes Styling beschränkt blieb. Als künstlerische Gestalter hatten sie keinen Anteil an der Konstruktion oder der Gestaltung der Produktionsabläufe. Sie sollten die Dinge verzieren und dem Publikumsgeschmack anpassen, mehr nicht.

Dass sich die Frage der Produktgestaltung – Sudow weist darauf hin – schon während der Kriegsjahre neu stellte, verdankt sich der staatlich geförderten Entwicklung von Standardwaren. In der Kriegswirtschaft waren Material und Arbeitskräfte knapp. Von 1940 an wurde die Produktion von Konsumgütern begrenzt, Import und Export wurden staatlich überwacht. Im Rahmen sogenannter „Nützlichkeitsprogramme“ (Utility Schemes), wurden deshalb Produkte von verschiedenen Firmen gemeinsam entwickelt. Alle Unternehmen mussten einen festgelegten Teil ihrer Produktion auf diese Modelle umstellen. Zugleich stieg die Nachfrage nach Produktgestaltern, die auch mit der Funktion des Produkts vertraut waren und die wussten, wie sich Materialien ökonomisch einsetzten lassen und die Bedürfnisse der Nutzer im Blick hatten. Die Aufgabe des Formgebers bestand nun darin, zusätzlich zum „good style“, einer ansprechenden Form, eine „funktionale Gestaltung“ (functional design) zu erarbeiten.

Schon während des Ersten Weltkriegs hatten die Reformer der „Design and Industries Association“ (DIA) den sachlichen „Maschinenstil“ von Möbeln, Stoffen und anderen Gebrauchsgütern aus Deutschland – etwa von Thonet und der AEG – als vorbildlich angesehen. Neue Fertigungsmethoden, die Typisierung und Modularisierung von Möbeln und der Versuch, den Preis durch größere Stückzahlen zu senken, hätten sie zu Vorreitern gemacht. Hinzu kam der Verdacht, der britische „Decline“ auf dem Gebiet des Designs könne auch in der gewerblichen Bildung zu suchen sein.

Da Deutschland von den Briten zum gestalterischen Musterland stilisiert wurde, nutzte das Council, wie Sudrow nüchtern feststellt, die einzigartige Chance der britischen Besatzung „als neue Möglichkeit der Informationsbeschaffung, um ein Projekt von staatlich beauftragter Industriespionage in deutschen Konsumgüterunternehmen auf den Weg zu bringen.“ Aber auch die Deutschen haben von den Briten gelernt. 1953 wurde, nach dem Vorbild des „Council of Industrial Design“, vom Bundeswirtschaftsministerium der „Rat für Formgebung“ aus der Taufe gehoben und in den Bundesländern regionale „Design-Zentren“ eingerichtet.


Nikolaus Pevsner u.a.
Geheimreport Deutsches Design
Deutsche Konsumgüter im Visier des britischen
Council of Industrial Design (1946)

Englischer Originaltext
mit einer Einleitung herausgegeben
von Anne Sudrow
Deutsches Museum
Abhandlungen und Berichte
Neue Folge, Band 28
336 S. mit 33 Abb., geb., 29,90 €
Wallstein Verlag, Göttingen 2012

„Geheimreport Deutsches Design“, Alle Fotos © Tatjana Prenzel, Stylepark
Ein wiedergefundener „Geheimbericht“ offenbart, wie der britische Militärgeheimdienst 1946 die deutsche Konsumgüterindustrie ausforschte.
Anne Sudrow, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat den Geheimbericht in Cambridge wiederentdeckt.
Der Gesamtbericht umfasst 155 Seiten.
Der Bericht gewährt einzigartige Einblicke in die Realität der industriellen Produktion von Konsumgütern im Deutschland der Nachkriegszeit.
Die Neugier der Briten auf deutsches „Know How“ gilt in erster Linie der Rüstungs- und Chemieindustrie.