Blickpunkt: Architektinnen – Yasmeen Lari
Konvertiten seien, nachdem sie den Glauben gewechselt haben, häufig besonders radikale Verfechter ihrer neuen Überzeugungen, heißt es. Dies gilt wohl auch für die pakistanische Architektin Yasmeen Lari: 36 Jahre lang habe sie "Star-Architektur" betrieben, sagt die 82-Jährige heute, dann sei ihre "egoistische Reise" zu Ende gegangen. Stattdessen hat sie sich den Ärmsten und Hilfsbedürftigsten zugewandt. "Nicht nur die Eliten haben ein Recht auf gute Gestaltung", sagt sie. "ArchitektInnen müssen aufhören, alleine für die ein Prozent zu entwerfen." Für Sätze wie diese wird sie nun auch in den westlichen Ländern gefeiert, nachdem sie in ihrem Heimatland Pakistan und in Asien bereits seit Jahrzehnten mit Preisen für ihr Werk ausgezeichnet wird.
Erste Architektin Pakistans
Geboren wird Lari 1941 in der Provinz Punjab in Zentral-Pakistan, damals noch Teil des britischen Empire. Sie stammt aus einer angesehenen und gebildeten Familie, ihr Vater arbeitet für den britischen Kolonialstaat an der Planung großer Infrastrukturprojekte, an Staudämmen, Straßen, auch an Siedlungen. Ab 1947 ist er für den neuen Staat Pakistan tätig, die Familie zieht in die Provinzhauptstadt Lahore. Es ist auch der Vater, dem der Mangel an ArchitektInnen im jungen Staat auffällt; zu Yasmeen sagt er, es wäre doch gut, wenn sie Architektin würde. Mit 15 kommen Yasmeen und ihre Schwester Nasreen nach London, eigentlich für einen Urlaub, aber sie bleiben, gehen zur Schule und anschließend zur Uni. Noch in der Schulzeit heiratet Yasmeen und bekommt das erste Kind. Für Architektur wird sie zuerst abgelehnt, studiert zwei Jahre Kunst und bewirbt sich erneut, wird doch an der staatlichen Oxford Polytechnic angenommen. Nach dem Abschluss 1964 geht sie zurück nach Pakistan und eröffnet ihr eigenes Architekturbüro "Lari Associates" in Karatschi – da ist sie gerade 23 Jahre alt. Heute wird sie als "erste Architektin Pakistans" bezeichnet, ob das stimmt, lässt sich kaum überprüfen. Wahrscheinlich sind solche Superlative unnötig: Ganz sicher ist Lari eine der ersten Frauen mit eigenem Büro, dazu noch so jung. Ihre Schwester wird übrigens als Nasreen Jalil eine bekannte Politikerin in Pakistan – die Idee der Familie, dass sich die gut ausgebildeten Töchter am Aufbau des neuen Staates beteiligen, erfüllen sich.
Als Architektin arbeitet Lari zweigleisig. Sie entwirft Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, sie entwirft aber auch Villen und Wohnhäuser im modernen, "westlichen" Stil für private Auftraggeber. Ihr erster Auftrag ist das Haus ihres Bruders – "Wer sonst hätte einer frisch Absolvierten damals etwas zugetraut", hat Lari einmal lachend erzählt. Aufmerksamkeit erregt sie mit dem Wohnhaus für ihre eigene Familie in Karatschi, das 1973 fertiggestellt wird. Mit einem betonten Tragwerk aus Sichtbeton-Elementen, die mit unverputztem Backstein ausgefacht werden, bringt sie den britischen "New Brutalism" nach Pakistan. Dazu kommen dramatisch inszenierte Beton-Terrassen, die sie zu einer Seite aus dem Gebäudes auskragen lässt wie weit aufgezogene Schubladen einer Kommode. "Dieses Haus erzählt nicht nur von Laris Experimenten mit Beton, den sie konstruktiv bis an seine Grenzen ausreizen wollte, sondern auch von ihrem Optimismus und dem Glauben an eine Zukunft, die für neue Chancen offen steht, architektonisch wie politisch", schreibt der Kurator Martino Stierli im MoMa-Katalog "The Project of Independence. Architectures of Decolonization in South Asia, 1947-1985". Und weiter: "Beton war für Lari ein machtvolles emanzipatorisches Werkzeug, um vorgefasste Geschlechterrollen in einer konservativen Gesellschaft und einem männerdominierten Beruf aufzubrechen." Auf der Baustelle habe sie sich gerade am Anfang immer wieder beweisen müssen, so erzählt es Lari selbst. Die Arbeiter hätten ihr Fangfragen gestellt oder sie auf wacklige Leitern klettern lassen. Sie beklagt sich nicht darüber. Sie habe sich das Vertrauen eben erarbeiten müssen. Mit ihrer kraftvollen, muskulösen Bauweise wollte sie insofern auch die "Vorstellung von femininer oder filigraner Architektur, die mir als Frau zugeschrieben wurde" in Frage stellen, so Lari.
Von der Star- zur Barfuß-Architektin
Diese Architektur führt Lari zu immer größeren Aufträgen aus der Privatwirtschaft, darunter das Taj Mahal Hotel (1981), das Finance and Trade Center (1989) und das Hauptquartier der pakistanischen Erdölgesellschaft PSO (1991) in Karatschi. Es sind gewaltige Großstadtgebilde aus Beton, Stahl und Glas, deutlich an der westlichen Moderne orientiert. Heute sind es eben diese drei Gebäude, die Lari selbst als stellvertretend für ihre Karriere in eben jener "Star-Architektur" stehen, die sie im Jahr 2000 selbst beendet. Sie will sich dem Gegenteil widmen: Einer extrem einfachen Architektur, die auch von Menschen mit wenig Vorkenntnissen aus lokal verfügbaren Materialien wie Lehm, Bambus und Kalkstein selbst gebaut werden kann. Sie will die traditionellen Bauweisen und Handwerkskünste wieder beleben, das Wissen darüber verbreiten und den Menschen erklären, dass auch damit gute, würdige Häuser geschaffen werden können. Lari selbst spricht von einer "Barfuß-Architektur" mit hohem sozialem Anspruch. Und sie setzt sich auch für den Erhalt der ganz alten Bauten ein, den Forts aus Lehm und den Altstädten, in denen kaum jemand in Pakistan einen Wert erkennt. Sie erforscht die Bauweisen, die Verwendung der Materialien und nutzt diese Erkenntnisse in Sanierungen und Neubauten.
Es ist allerdings keine 180-Grad-Drehung, die Lari 2000 vollführt, keine Umkehr vom Saulus zum Paulus. Architektur mit sozialem Anspruch hat sie schon ihre ganze Karriere lang betrieben: Für das soziale Wohnungsbauprogramm unter Premierminister Zulfikar Ali Bhutto entwirft Lari eine der ersten großen Siedlungen in Lahore: Das Anguri Bagh-Quartier musste rasch Wohnraum für Menschen schaffen, die durch eine Flut obdachlos geworden waren. Lari entwickelt ein einfaches System aus einer Tragstruktur aus Ortbeton und Ziegelwänden, die auch von ungelernten Arbeitern mit dem hergestellt werden kann, was vor Ort verfügbar ist: einfaches Werkzeug, einfache Materialien. Das Ergebnis erinnert nicht ganz zufällig an ihr eigenes Wohnhaus, wenn auch in der Bauweise viel einfacher. Die Positionierung der dreigeschossigen Blöcke in Anguri Bagh sicherte jeder Wohnung gute Belüftung und Belichtung, Höfe und Hausabstände sorgten für Schatten und Klimatisierung, dazu gab es Terrassen für die in der Region wichtige Hühnerhaltung. Auch für dieses Projekt erhält sie internationale Aufmerksamkeit, kommt auf die Shortlist des renommierten Aga Khan-Awards und wird auf der Architekturbiennale in Venedig 1982 gezeigt.
Architektur als Selbsthilfe
Danach hat Lari, parallel zu ihren kommerziellen Großaufträgen, immer an Slum-Verbesserungsprojekten gearbeitet, bei denen die bestehenden Häuser nicht abgerissen, sondern mit den Bewohnern gemeinsam und möglichst im Selbstbau verbessert werden. 1980 gründet sie mit ihrem Mann die "Heritage Foundation of Pakistan", da es in Pakistan keine Denkmalpflege gab und auch kein Bewusstsein für das baukulturelle Erbe im Land. Im selben Jahr beginnt sie mit dem spendenfinanzierten "Lines Area Resettlement Program", mit dem die Lebensumstände von etwa 13.000 Bewohnern von Karachis größtem innerstädtischen Slum schrittweise und kooperativ verbessert werden. Diese Veränderungen orientieren sich an den Strukturen der Altstadt, die Lari studiert und deren Wert sie erkennt – enge Straßen, kleine öffentliche Plätze, viel Schatten, viel kühle Luft für die Wohnungen. In allen Projekten geht es Lari auch um die Bildung der Menschen, denen neben praktischen handwerklichen Fähigkeiten auch eine Wertschätzung der alten, gewachsenen Strukturen und Materialien ihres baukulturellen Erbes vermittelt wurden. "Ich habe nichts Neues gemacht", hat Lari einmal gesagt. "Dieses Wissen gab es auch schon vorher in unserem Land, aber es wurde nicht oder zu wenig genutzt." Mit kleinen Weiterentwicklungen haben sie und ihr Team die alten Techniken, mit Lehm, Bambus und Kalk zu bauen, lediglich verbessert und das Wissen erneuert.
Nach 2000 widmete sie sich dann ganz ihren Forschungsprojekten – über den Wert von Pakistans Altstädten etwa – und der humanitären Architektur. Immer wieder wird Pakistan von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht und Lari fährt dann in die Katastrophengebiete, um vor Ort mit den Betroffenen zusammen den Wiederaufbau zu organisieren. Insgesamt sind nach ihren Entwürfen zehntausende Häuser gebaut worden, sanitäre Infrastrukturen, rauchfreie Öfen und Gemeinschaftseinrichtungen wie das Frauenhaus in Darya Khan und das Besucherzentrum für die archäologischen Ausgrabungen in Kot Diji. Es ist eine dringend notwendige Verbesserung des Alltags von zehntausenden, die sonst keinerlei Zugang zu Architektur oder Stadtplanung haben. "Wir müssen alles neu denken, und wir müssen es jetzt tun", sagt Lari, die 82-jährige, die gerade letztes Jahr, als ein Drittel von Pakistan überflutet war, erneut engagiert vor Ort bauliche Hilfe und Beratung leistete. Bei ihr sind dies aber nicht nur Merksätze für den Kalender, sondern sie setzt diese Ideen seit Jahren um. "Manchmal denke ich", hat sie dem Guardian einmal gesagt, "dass ich ein bisschen von dem, was ich als Star-Architektin mit meinen Glas-und-Stahl-Gebäude angerichtet habe, wieder gutmachen möchte."
"Wir müssen alles neu denken, und wir müssen es jetzt tun"
Ein Star bleibt sie dennoch, denn ihre "Barfuß-Architektur" erfährt großen Zuspruch: 2002 wird sie von der UN ausgezeichnet, 2006 erhält sie eine der höchsten zivilen Auszeichnungen Pakistans, 2011 wird sie sogar zur "Wonder Woman of the Year" ihres Heimatlandes erklärt. Nur der Westen brauchte etwas länger, um ihr Lebenswerk zu sehen: Nach der Venedig-Biennale 1982 hatte es kaum Veröffentlichungen oder Ausstellungen zu Laris Werk gegeben. Das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert. 2020 erhielt Lari in Großbritannien den Jane-Drew-Preis, 2021 das Ehrendoktorat der Politecnico di Milano, aktuell hat sie eine Gastprofessur in Cambridge. Das Architekturzentrum in Wien zeigt noch bis zum 16. August 2023 die erste große Gesamtschau zu Yasmeen Laris Werk, inklusive eines ausführlichen Katalogs. In diesen Tagen erhält Yasmeen Lari zudem die 2023 Royal Gold Medal des Royal Institute of British Architects (RIBA) und ist damit die erste Architektin Pakistans dessen Arbeit mit dieser Auszeichnung gewürdigt wird. Es scheint, als ob in den gängigen Architekturlehrbüchern noch viele nicht-westliche ProtagonistInnen und Positionen fehlen: Yasmeen Lari, Hassan Fathy, Mahendra Raj, Muzharul Islam, Minnette de Silva, Geoffrey Bawa… Wir haben gerade erst angefangen, dieses Wissen zu erschließen.