Blickpunkt: Architektinnen – Xu Tiantian
Der chinesische Bauboom der letzten Jahrzehnte hat in der westlichen Wahrnehmung vor allem aus dem Boden gestampfte Millionenstädte und von Star-Architektinnen entworfene Spektakelarchitektur hervorgebracht. Hochhäuser wie die CCTV-Headquarters in Peking von OMA oder Städte wie Shenzhen, die von einer Kleinstadt mit 30.000 EinwohnerInnen Ende der 1970er-Jahre zu einer Megacity mit rund 18 Millionen Menschen angewachsen ist, stehen exemplarisch für eine Urbanisierung im Zeitraffer. Bauliche Traditionen scheinen diesem massiven Umbruch zeitbedingt zum Opfer zu fallen. Allerdings gibt es Ausnahmen wie den chinesischen Architekten und Pritzker-Preisträger Wang Shu, der sich bei seinen Bauten mit der Geschichte des Orts auseinandersetzt. So verwendete er bei seinem 2007 fertiggestellten Ningbo History Museum im chinesischen Ningbo das Abbruchmaterial von über 30 Dörfern, um an verloren gegangene Kulturlandschaften zu erinnern. Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit der Pekinger Architektin Xu Tiantian, die mit den Projekten ihres Büro DNA Design And Architecture ländliche Strukturen stärken will.
Als prägend für ihr Architekturverständnis gibt die 1975 in Fujian, einer Provinz im Südosten Chinas, geborene Architektin das Aufwachsen im traditionellen Haus ihrer Familie an. Dort lebten über 100 Menschen, die durch mehrere Höfe und Gänge miteinander verbunden waren. In ihrer Kindheit und Jugend erlebte sie dann die Modernisierungswelle Chinas, die Ende der 1970er-Jahre unter Deng Xiaoping begann. Der massive urbane Wandel ab den 1990er-Jahren betraf auch ihre Heimat, als traditionelle Stadtstrukturen zu Hochhaussiedlungen wurden. Architektur studierte Xu Tiantian zunächst an der Tsinghua-Universität in Peking und absolvierte dann einen Masterabschluss in Stadtplanung an der Harvard Graduate School of Design. Nach Arbeitserfahrungen in Boston und bei OMA ging sie 2004 zurück nach China und gründete in der Hochphase des chinesischen Baubooms ihr Büro DNA Design And Architecture.
Mittlerweile kann Xu Tiantian eine beeindruckende Zahl an Bauten vorweisen. Die meisten befinden sich in der Bergregion Songyang, einer ländlich geprägten Gegend mit etwa 400 Dörfern, die 400 Kilometer südöstlich von Shanghai liegt. Dort hat die Architektin in den letzten Jahren mehrere Neu- und Umbauten im Rahmen verschiedener Revitalisierungsmaßnahmen der Provinzregierung umgesetzt. Deren Ziel ist es unter anderem, die lokale Ökonomie, das traditionelle Handwerk und den Tourismus zu stärken. Dabei spielt auch Architektur eine Rolle, die sich hier aber nicht als Spektakel westlicher Prägung präsentiert. Stattdessen nimmt Xu Tiantian fein gesetzte Eingriffe vor, die sie zusammen mit der Bevölkerung entwickelt. Sie selbst bezeichnet ihre Projekte als architektonische Akkupunktur, deren Ziel es ist, das kulturelle Erbe der Region zu fördern. Zum Einsatz kommen lokale Materialien und traditionelle Bauweisen, gepaart mit einem Fokus auf gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Durch das Aufgreifen regionaler Themen und der Geschichte des jeweiligen Orts will sie eine Identifikation mit den Projekten erreichen.
Gleichzeitig integriert sie wirtschaftliche und soziale Aspekte, um mit Hilfe der Architektur eine nachhaltige Entwicklung der Region zu fördern. Die Bauten sollen so die Dorfgemeinschaften stärken und eine Landflucht verhindern. Den Anfang machte ein Hotelprojekt, durch das die Architektin in Kontakt mit den Menschen vor Ort kam. In der Folge entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Dörfern, für die Xu Tiantian mehr und mehr zu einer Beraterin wurde. So entstanden über die Jahre einerseits Prestigebauten wie Museen, andererseits aber auch Brücken, Pavillons, Gästehäuser und Fabrikgebäude, die zwischen regionaler Tradition und poetischer Moderne changieren.
Ein Beispiel ist die Renovierung und der Ausbau einer Steinbrücke aus den 1950er Jahren, die nun die beiden Dörfer Shimen und Shimenyu verbindet. Dazu entwarf Xu Tiantian eine Überdachung aus Holz, in deren Mitte sich ein mit Bäumen bepflanzter Platz aufweitet. Die Brücke dient nicht nur als infrastrukturelle Notwendigkeit, sondern auch als Ort des Austauschs, an dem sich die BewohnerInnen beider Dörfer treffen können. Gleichzeitig bezieht sich der Entwurf auf die traditionellen mit Pavillons bestückten Wind- und Regen-Brücken, die Schutz vor dem Wetter bieten sollen. Das Thema des Zusammenkommens kennzeichnet viele Projekte in Songyang – wie etwa das Bambustheater, dass Xu Tiantian für das Dorf Hengkeng entwarf. Eine Freiluftbühne wird hier von einer Bambuskuppel gekrönt, die scheinbar aus der umgebenden Natur herauswächst. Für deren Form und Konstruktion ließ sich die Architektin von einer Schriftrolle des Malers Qiu Ying aus dem 16. Jahrhundert inspirieren. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung des traditionellen Baumaterials sind die Bambuspavillons in der Teeplantagenregion Damushan, die auch das erste Projekt der Architektin in Songyang waren. In unterschiedlicher Größe am Rand der Teeplantagen platziert, fassen sie die Kulturlandschaft ein und können für Veranstaltungen oder als Aussichtspunkt genutzt werden.
Neben diesen infrastrukturellen Interventionen entwirft Xu Tiantian auch Industriegebäude in Songyang – wie etwa eine Fabrik, die am Übergang zwischen Zuckerrohrfeldern und dem Dorf Xing liegt. Der Gebäudekomplex ist nicht nur für die Herstellung von braunem Zucker gedacht, sondern wird auch als Touristenziel und Treffpunkt für die DorfbewohnerInnen genutzt. Er präsentiert sich entsprechend repräsentativ und erinnert in seinem Erscheinungsbild eher an ein Museum als an eine Fabrik. Die großflächige Glasfassade verleiht dem Bau eine moderne Eleganz und bietet einen freien Blick auf die angrenzenden Felder. Gleichzeitig steht sie im Kontrast zur rohen, mit Wellblech verkleideten Stahlkonstruktion, die den Hauptraum mit den Öfen zur Zuckerproduktion umhüllt. Hinzu kommen Klinkerwände, die mal einfach, mal ornamental gehalten, die Dialektik der Nutzung widerspiegeln. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Tofu-Manufaktur in Caizhai, in der die traditionelle Tofu-Produktion des Dorfes nun nach Hygienevorschriften kommerziell von den BewohnnerInnen betrieben wird. Der Holzbau, den die Architektin als zusammenhängende Pavillons mit Sheddach in die vorhandene Topografie einfügte, dient gleichzeitig als Touristenziel. Seine offene Struktur erlaubt Einblicke von außen in die inneren Abläufe. Hinzu kommt eine Landschaftstreppe aus Beton, die sich durch das Gebäude in Längsrichtung zieht.
Eines der neuesten Projekte der Architektin zählt auch gleichzeitig zu ihren eindrucksvollsten. Es befindet sich nicht in Songyang, sondern in der nahe gelegenen ehemaligen Bergbauregion Jinyun. Dort hat Xu Tiantian drei Steinbrüche im Tal Xiandu jeweils in eine Open-Air-Bibliothek, einen Versammlungsort und eine Bühne für Opernaufführungen verwandelt. Die tatsächliche architektonische Intervention kommt – komplementär zu den beeindruckenden Felsformationen – zurückhaltend daher. So besteht die Bibliothek aus einer filigranen, mit Bambus ausgefachten Stahlkonstruktion, die sich in Form von Treppen und Galerien über die steinerne Kulisse legt. Was bescheiden und einfach wirkt, bedurfte einer großen Anstrengung, da die bis zu 38 Meter hohen, von Menschenhand geschaffenen Hohlräume des Tuffsteingebirges in Teilen aufwändig mit Beton stabilisiert werden mussten.
Weitere Umnutzungen in den über 3000 Steinbrüchen der Region sind geplant, darunter ein Restaurant und ein Ort für Teezeremonien. Im Unterschied zu den deutlich bescheideneren Akkupunkturen in Songyang, präsentieren sich die Steinbrüche als architektonisches Spektakel, bei dem die Architektin trotzdem auf das Vorgefundene setzt. Symbolischer als die Arbeit mit den steinernen Schichten der ehemaligen Steinbrüche lässt sich Xu Tiantians Auseinandersetzung mit Ort und Zeit kaum abbilden.