Blickpunkt: Architektinnen – TOMAS Transformation of Material and Space
David Kasparek: Sofia Ceylan, Katharina Neubauer und Annabelle von Reutern, seit kurzem arbeiten Sie als TOMAS zusammen. Dazu sicher gleich mehr. Zunächst aber die Frage: Wie haben Sie sich kennengelernt?
Sofia Ceylan: Wir haben uns 2007 im Studium in Aachen kennengelernt. Dort saßen wir im gleichen Arbeitsraum. Katharina und ich saßen sogar bei der Auftaktveranstaltung nebeneinander. Nach dem Bachelor sind wir dann alle für den Master nach Berlin gezogen. Erst nach dem Studium haben wir schließlich verschiedene Richtungen der Architektur eingeschlagen.
David Kasparek: Sie haben für unterschiedliche Büros gearbeitet, Sofia Ceylan bei Kim Nalleweg, Katharina Neubauer bei Max Dudler sowie in der Lehre an der TU Berlin und heute in Luzern, Annabelle von Reutern für das Unternehmen Concular. Was hat Sie wieder zusammengeführt?
Annabelle von Reutern: Das Alter. (lacht) Im Ernst, ich wollte immer schon selbständig arbeiten und in die Projektentwicklung gehen. Jetzt war ein guter Zeitpunkt. Zufällig gab es bei uns gleichzeitig eine Neuorientierungsphase. Katharina hatte angeregt uns auszutauschen, was als nächstes ansteht, und daraus ist TOMAS entstanden.
Katharina Neubauer: Die Idee, gemeinsam zu gründen, gab es schon einmal direkt nach dem Master. Wir haben uns dann aber doch dafür entschieden, erstmal Erfahrungen in Büros zu sammeln. Ich habe mich dann irgendwann gefragt, warum diese Idee eigentlich in Vergessenheit geraten ist. Wir hatten uns in relativ festen Strukturen bewegt, die in meinem Fall durch die Elternzeit aufgebrochen wurden. Ich hatte ein sechs Monate altes Baby und mir war klar, ich gehe nicht in diese männerdominierten Bürostrukturen zurück. Ein Treffen in Venedig am Abschlusswochenende der letzten Biennale war die Initialzündung zu einem gemeinsamen Büro. Und dann ging es auf einmal sehr schnell und die Idee von TOMAS war da.
Sofia Ceylan: Die Frage war dann natürlich, was wollen wir eigentlich tun. Architekturbüros sind in der Regel nur Dienstleister für InvestorInnen. Für mich war es eine Riesenmotivation, nun neu zu bestimmen, wer möchte ich in diesem Prozess sein und wo können wir unsere Arbeit anbinden.
David Kasparek: Wo auf diesem Weg zwischen Investition und vom Architekturbüro umgesetzten Haus verorten Sie sich und Ihre Arbeit? Sind Sie diejenigen, die, wie Annabelle von Reutern sagte, Projekte entwickeln oder diejenigen, die umsetzen – oder beides?
Annabelle von Reutern: TOMAS kümmert sich um alles. Wenn man Immobilien betrachtet, tun das ja die meisten Leute nicht über den gesamten Lebenszyklus hinweg, sondern oft nur in Teilstücken: Investition, Planung, Betrieb, Verkauf. Da gibt es immer wieder Verantwortungslücken. Das ist auch ein Grund, weshalb Immobilien teilweise verwahrlosen und nicht die Wertschätzung erhalten, die ihnen gebührt. Das Haus wird zum Asset. Wir sind davon überzeugt, dass es auch anders möglich ist. Diese Lücke wollen wir schließen, indem wir Verantwortung übernehmen. TOMAS will investieren, transformieren und sich über den Lebenszyklus hinweg kümmern. Wir identifizieren unterschätzten Leerstand und erarbeiten Nutzungskonzepte, die vielleicht bisher unüblich waren. Wir agieren also als Projektentwicklerin und Bestandshalterin von Immobilien. Und da wir unser Wissen gerne teilen, bieten wir den Transformationsprozess für untergenutzte Immobilien auch als Dienstleistung für Eigentümerinnen an, die nicht wissen, was sie mit ihren Häusern anstellen sollen.
David Kasparek: Wie steht es dabei um soziale Verantwortung?
Sofia Ceylan: Unser Ziel ist es, das alles innerhalb der planetaren Grenzen zu schaffen. Was unter anderem bedeutet, dass wir Bestand erhalten, auf den sparsamen Einsatz von Ressourcen achten und zirkulär bauen. Die gesellschaftlichen Spannungen sind direkt an die gebaute Realität gekoppelt. Soziale Verantwortung bedeutet für uns mehr als bezahlbare Mieten zu schaffen. Es geht uns darum, echte Teilhabe zu generieren. Von den Investorinnen, die sich auch mit kleinen Beträgen beteiligen können, über die Planenden bis zu den Nutzerinnen, die in andere Immobilien keine Chance bekommen würden.
David Kasparek: Auf Ihrer Website zeigen Sie das Stadthaus in Krefeld – ein Bau, der nach einem Entwurf von Egon Eiermann zwischen 1953 und 1956 realisiert wurde, seit 2017 eigentlich saniert werden soll – und Sie haben sich selbst dort ablichten lassen. Was verbindet Sie mit dem Haus?
Katharina Neubauer: Wir haben ein leerstehendes Gebäude in NRW für das Shooting gesucht und dies war der Vorschlag unserer Fotografin Magdalena Gruber.
Sofia Ceylan: Für uns war das ein tolles Beispiel, an dem man sehen kann, dass Menschen immer wieder auf Gebäude und ihre Qualitäten hingewiesen werden müssen. Und das ist noch nicht einmal eines dieser ungeliebten, vermeintlich gesichtslosen Beispiele, sondern ein Eiermann-Bau, der aber völlig verkommt und bei dem offen die Zukunft ungewiss ist. Es gibt sogar Befürworter für einen Abriss. Das ist genau das, womit wir uns auseinandersetzen. Wie oft sind wir jetzt schon auf den Eiermann-Bau angesprochen worden? (schaut in die Runde) In diesem Fall funktioniert also schon der erste Schritt, nämlich Aufmerksamkeit für die Immobilie zu wecken.
David Kasparek: Bei einem Bau von Egon Eiermann lassen sich schnell Argumente für den Erhalt und sein Bestehen als Teil des gebauten Kulturguts finden. Wie steht es um andere, weniger gut beleumundete Bauten?
Annabelle von Reutern: Es ist wichtig, den Scheinwerfer auf diese Immobilien zu schwenken, auf Bauten, die underrated sind und von vielen Menschen als wertlos erachtet werden. Deswegen interessieren uns besonders Kaufhäuser, Kirchengebäude, die aus der Nutzung fallen, oder schon lange nicht mehr genutzte Bahnhofsgebäude. Immobilien aus den 1970ern, -80ern und -90er Jahren, die allzu oft als Schandflecke bezeichnet werden, sind uns am liebsten.
Sofia Ceylan: Ich komme aus Duisburg. Dort gibt es sehr viel Leerstand, auch in Wohnimmobilien, und gleichzeitig explodieren in Düsseldorf die Mietpreise. Es gibt in relativer örtlicher Nähe also ein absolutes Missverhältnis. Und gleichzeitig tauchen Begriffe wie "Schrottimmobilien" auf, die suggerieren, dass es Müll ist, mit dem man angeblich nichts mehr anfangen kann. Eine "Schrottimmobilie" ist eben kein Asset mehr und wirkt sich negativ auf die Straße oder das ganze Quartier aus. Das ist auch ein Aspekt von TOMAS: Wir wollen uns damit auseinandersetzen, wie ein bezahlbarer Mietpreis entsteht. Wo sind die Hebel? Zum Beispiel schon bei der Investition, indem wir uns auf Immobilien konzentrieren, die keiner mehr haben will ...
Katharina Neubauer: … und indem wir auf den ersten Blick ungewöhnliche Nutzungen vorlegen, wie in Celle, wo wir für die Umnutzung eines ehemaligen Kaufhauses ein Datenspeichergebäude vorgeschlagen haben. Annabelle hat es gut aufgelistet: Das sind mitunter ungewöhnliche Typologien, bei denen immer die Frage mitschwingt, ob Wohnen wirklich die der Typologie angemessene Nutzung ist.
„Der entscheidende Punkt ist die Möglichkeit, mitgestalten zu können. Wenn wir nur zu 20 Prozent beteiligt sind, haben wir auch nur die 20-prozentige Chance, überhaupt mitzugestalten – das wollen wir ändern.“
All das betrifft auch das Thema Klimagerechtigkeit. Wenn man sich Ihre Website ansieht, fällt auf, dass es noch ein anderes Gerechtigkeitsthema gibt, nämlich Geschlechtergerechtigkeit. Zum einen prangern Sie an, dass das Bauen konkrete materielle Ressourcen vergeudet, für Flächenfraß und Abfallaufkommen verantwortlich ist, zum anderen gehen Sie dezidiert auf die Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen ein: 80 Prozent des weltweiten Grund und Bodens sind in Männerhand, nur zwei Prozent des weltweiten Risikokapitals gehen an Frauen. Ist der Name TOMAS also ein Akronym, oder ein Hinweis auf den Thomas-Koeffizienten, nachdem es in deutschen Vorständen weniger Frauen gibt als Männer, die Thomas heißen?
Katharina Neubauer: Es ist ein Backronym. Es gab zuerst TOMAS – wegen der von Ihnen genannten Verteilung – und dann die entsprechende Bedeutung der einzelnen Wörter.
Annabelle von Reutern: Wenn es in den DAX-Vorständen mehr Thomase gibt als Frauen, dann braucht man scheinbar einen Thomas, um erfolgreich zu sein.
Katharina Neubauer: Einige der Zahlen, die wir da zusammengetragen haben, waren uns vorher in ihrer Drastik so auch nicht klar. Wenn 80 Prozent des weltweiten Grund und Bodens in Männerhand sind, dann bestimmen sie auch über diesen Raum. Darauf muss hingewiesen werden und im allerbesten Fall – das ist unser langfristiges Ziel – ändert sich an dieser Zahl etwas, weil wir andere Frauen befähigen, gemeinsam Immobilien zu kaufen.
Sofia Ceylan: Der entscheidende Punkt ist die Möglichkeit, mitgestalten zu können. Wenn wir nur zu 20 Prozent beteiligt sind, haben wir auch nur die 20-prozentige Chance, überhaupt mitzugestalten – das wollen wir ändern. Deswegen wollen wir mehr Frauen dazu animieren, sich dem Thema anzunehmen. Das fängt beim Wording an: "Asset", da habe ich bisher die Grenze zu meiner Arbeit als Architektin gesehen. Diese ganze Real Estate-Branche wirkte von außen immer wie ein Buch mit sieben Siegeln. Die Grenze zwischen Architektur und Immobilienwirtschaft zu durchbrechen, auch darum geht es uns.
David Kasparek: Ich unterstelle mal, dass sowohl Klimagerechtigkeit als auch Geschlechtergerechtigkeit in Ihrer Ausbildung keine sonderlich große Rolle gespielt haben…
Annabelle von Reutern: … Zero, Null!
Sofia Ceylan: Mies Van der Rohe, Le Corbusier und die ganzen anderen Jungs…
Annabelle von Reutern: Mehr gab es da nicht. Und über Zaha Hadid wurde abwertend gesprochen. Wie kann es eine Frau nur wagen erfolgreich zu sein und sich "wie ein Mann" zu verhalten!
Katharina Neubauer: Ja und nein. Es gibt natürlich Einflussgrößen. Wie Anne-Julchen Bernhardt zum Beispiel, die sowohl unsere Bachelorarbeit wie unsere Masterarbeit betreut hat. Es gab also schon Lichtblicke, aber natürlich waren das leider Ausnahmen.
David Kasparek: Wie sind diese Themen dann zu Ihnen gekommen?
Annabelle von Reutern: Es reicht eine Frau zu sein und Grenzen zu erfahren, an die kein Mann stoßen würde. Und wie das Thema Klimagerechtigkeit zu uns gekommen ist, bedarf wohl keiner Erklärung. Wir fragen uns eher, wie es einem in seinem täglichen Tun egal sein kann, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat.
Sofia Ceylan: Obwohl wir im Jahr 2024 drei Ingenieurinnen sind, die an Top Hochschulen studiert haben und selbst in einem privilegierten Umfeld unterwegs sind, gibt es den Gender-Pay-Gap. Es sind die Männer in meinem Freundeskreis, die Immobilien besitzen oder schon ihr drittes Start-up gegründet haben. Das ist kein Zufall. Und da gehört es auch dazu, von den eigenen Zweifeln zu sprechen und wie man sich denen stellt. Soll ich einen unbefristeten Vertrag aufgegeben, um zu gründen. Was ist mit Familienplanung und Altersvorsorge? Warum stelle ich mir all diese Fragen, und warum scheinen meine männlichen Freunde die damit verbundenen Zweifel nicht in gleicher Art und Weise zu spüren?
Annabelle von Reutern: Je mehr ich mich mit den Themen Patriarchat und Kapitalismus beschäftigt habe, desto wütender wurde ich. Ich verstehe mittlerweile das System, das hinter der Ausbeutung dieses Planeten, und auch vieler Menschen steckt. Diese Wut ist ein Motor für mich und ich verwandle sie in etwas Positives. Ich möchte nicht gegen etwas sein, ich möchte für etwas sein: für eine sozial gerechtere Welt. Für eine Welt, in der nicht nur der alte, weiße Mann die Deutungshoheit hat, sondern eine diverse demokratische Gesellschaft.
David Kasparek: Dann konkretisieren wir das: An was arbeiten Sie gerade?
Annabelle von Reutern: Zum Beispiel schauen wir uns bald ein Bahnhofsgebäude an, das seit zehn Jahren leer steht. Es ist ein völliger Irrsinn, dass dieses Objekt in einer super Lage brach liegt. Wir wollen den Bauherrn überzeugen uns die Immobilie günstig zu verkaufen. Der Kaufpreis ist bisher viel zu hoch. Reine Spekulation. Eine andere Möglichkeit ist, mit ihm über ein Zwischennutzungskonzept zu sprechen. Wir wissen, dass der Wunsch der Gemeinde groß ist, diese Immobilie wieder zu beleben.
Katharina Neubauer: Außerdem prüfen wir gerade den Ankauf eines Wohnhauses aus dem Jahr 1959. Großartige Architektur – aus wenig viel gemacht. Das Haus ist in die Jahre gekommen und die Eigentümerfamilie möchte es verkaufen. Es wäre ein klassisches Sanierungsprojekt mit Ausbaupotenzial im Dach- und Erdgeschoss.
David Kasparek: Das klingt nach sehr viel Eigeninitiative und nicht nach eingeladenen, offenen Wettbewerben oder Gutachterinnenverfahren. Wie kommen die Projekte also zu Ihnen?
Annabelle von Reutern: Durch unsere Berufserfahrung haben wir uns ein breites Netzwerk aufgebaut, auf das wir nun zurückgreifen. Die beiden genannten Objekte sind aus diesem Netzwerk entstanden. Das sehen wir als absolute Stärke. Wir beginnen nicht bei Null. Und Eigeninitiative ist schon immer eine unserer Kernwerte gewesen. Wenn wir etwas wollen, kümmern wir uns drum. Wir haben aber auch schon an zwei Wettbewerben teilgenommen. Für einen haben wir sogar eine Anerkennung bekommen.
Sofia Ceylan: Der Bedarf nach Transformationsprozessen im Bestand ist riesig. Ich war jüngst auf einem Quartiersentwicklungstreffen. Dort kam ich mit einer Quartiersmanagerin einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft ins Gespräch und sie sagte, dass sie Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Bestandsimmobilien benötigen. Genau da wollen wir unterstützen.
Katharina Neubauer: Und dann gibt es natürlich auch Anfragen aus dem privaten Umfeld. So unterstützen wir auch bei der Transformation eines leer stehenden Drei-Seit-Hofs in Brandenburg. So bewahren wir auch im kleinen, Immobilien vor dem selbständigen Verfall oder dem Abriss.
„Das sind mitunter ungewöhnliche Typologien, bei denen immer die Frage mitschwingt, ob Wohnen wirklich die der Typologie angemessene Nutzung ist.“
David Kasparek: Wenn Sie sich ein Projekt ausdenken könnten, das von A bis Z umgesetzt wird, was wäre das für eine Aufgabe?
Sofia Ceylan: Wenn ich mir eines aussuchen könnte, würde ich das Karstadt-Gebäude in Celle nehmen…
David Kasparek: … der schon mehrfach angesprochene Ideenwettbewerb fragte Anfang des Jahres nach Möglichkeiten für die Nach- und Umnutzung des Warenhauses in der niedersächsischen Stadt, Ihr Beitrag wurde mit einer Anerkennung gewürdigt. Was war Ihr Vorschlag?
Katharina Neubauer: Wir haben vorgeschlagen, den ehemaligen und nun leerstehenden Karstadt-Bau künftig als Datencenter zu nutzen. In gewisser Weise ist es die Fusion aus meiner Doktorarbeit – die sich mit Datenspeichergebäuden im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Bedeutung und räumlicher Präsenzlosigkeit auseinandergesetzt hat – und den bereits besprochenen Fragen nach dem Umgang mit den Typologien wie Kaufhäusern, Bahnhöfen oder Kirchen. Es muss und kann nicht immer Wohnen sein. Was aber kann die angemessene Nutzung für diese Typologie sein? In diesem Fall ist es das Speichern von Daten, die die Waren unserer Zeit sind.
Sofia Ceylan: Es war auf so vielen Ebenen wahnsinnig spannend, daran zu arbeiten. Wie geht man mit einer so großen Struktur der 1970er Jahre in einer solchen Kulisse um? Welche Akteurinnen spielen mit? Celle als Fachwerkstadt sucht nach Wegen, wie sie die Fachwerkgebäude mit nachhaltigen Energiequellen versorgen können, ohne sie kaputt zu sanieren. Unser Konzept nutzt die Abwärme der Server, die man für die Datenspeicherung braucht, und die ohnehin anfällt. TOMAS ist immer auch politisch. Bei der Preisverleihung sagte uns jemand, dass sie sehr froh um die Umnutzungskonzepte seien, weil sie der AfD den Wind aus den Segeln nehmen. Die Partei fordert nämlich den Abriss des Karstadt Gebäudes, um einen historisierenden Neubau zu errichten. Zu sehen, wie groß das Interesse ist, das Gebäude nicht abzureißen, sondern es umzunutzen und ins Stadtbild zu integrieren, war toll.
David Kasparek: Zum Abschluss interessiert mich die Frage nach Ästhetik. Nicht im landläufigen Sinne von Schönheit, sondern vielmehr mit Blick auf Sinnlichkeit oder Sinnhaftigkeit. Sandra Meireis und Daniel Martin Feige haben jüngst einen Sammelband vorgelegt, der Ästhetik rein aus der Warte der Architektur versucht zu umreißen. Geht Ihrer Meinung nach mit der doppelten Bauwende, wie sie Ihnen vorzuschweben scheint, auch eine andere Ästhetik einher? Sehen Architekturen, die sich rein aus der urbanen Mine bedienen, anders aus als bisher? Müssen sie anders aussehen, um mit einer anderen Sinnlichkeit ihre eventuell veränderte Sinnhaftigkeit auszudrücken?
Sofia Ceylan: Ich glaube das, ja. Das Grundprinzip von zirkulärem Bauen und Bio-Based-Architecture steht nie im Widerspruch zu Gestaltung und dem Ziel, etwas Schönes herzustellen. Ein Teil des nachhaltigen Bauens ist zum Beispiel die Demontierbarkeit, also auch die andere Art des Fügens. Das ist ein Grundthema der Architektur. Durch die Art und Weise, wie ich etwas füge, ändert sich die Gestaltung. Ich kann mit dieser aufdringlichen, patchworkartigen Architektur, die momentan immer wieder unter dem Siegel der Bauwende entsteht, nicht so viel anfangen. Das Studierendenhaus der TU Braunschweig von Gustav Düsing und Max Hacke dagegen ist komplett demontierbar, nachhaltig und modular. Der Entwurf geht von diesen Prämissen aus und mündet in einer bestimmten Ästhetik.
Katharina Neubauer: Ich erlebe es in der Lehre: Man muss die Frage nach Ästhetik unserer Zeit, die durch vermeintlich oder tatsächlich andere Prozesse entsteht, wirklich sehr, sehr differenziert betrachten. Wenn es um partizipative Gestaltungsprozesse oder um Räume geht, mit denen prozesshaft umgegangen wird, glaube ich schon daran, dass die auch anders aussehen können – das heißt nicht, dass sie in der ästhetischen Bewertung als minderwertig betrachtet werden. Aber, dass sie anders aussehen, liegt dann nicht an einer Mode, sondern an einer grundsätzlich anderen Herangehensweise an Raumbildung.
Annabelle von Reutern: Bei der Frage nach der Ästhetik geht es auch um Berechtigung. Wer bestimmt denn was als schön angesehen wird? Sofia und ich haben – wie so viele – die Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris angeschaut. Und jetzt regen sich rassistische, antifeministische und queer-feindliche Menschen so derart über die Show auf, weil sie nicht ihrem Weltbild entsprach. Da merkt eine Gruppe von Menschen, die bisher den Ton angegeben haben, dass ihr Stern sinkt. Wir waren von der Feier auch deshalb begeistert, weil sie divers war und uns gezeigt hat, wie eine Welt sein könnte. Es ist essenziell, dass wir Dinge auch aushalten können – selbst wenn wir sie nicht schön finden –, ohne dass wir das andere abwerten müssen. Die Akzeptanz, dass es nicht nur meine Empfindung von Schönheit gibt, ist mir in allen Lebensbereichen wichtig – auch in der Baukultur. Für mich sind Dinge schön, die innerhalb der planetaren Grenzen entstanden sind und unter denen niemand leiden musste.