Blickpunkt: Architektinnen – Silvia Gmür
1971 wurde das Frauenwahlrecht in der Schweiz eingeführt. Damit war die Eidgenossenschaft eines der letzten Länder auf dem europäischen Kontinent, das Frauen die vollen Bürgerrechte zugestand. Die 1939 in Zürich geborene und 2022 im Alter von 82 Jahren verstorbene Silvia Gmür zählt folglich zur ersten Generation Schweizer Architektinnen, die ihre Spuren in der bis dahin von Männern dominierten Disziplin hinterließ. 1959 begann sie ihr Studium an der ETH Zürich, wo sie später auch als Gastdozentin unterrichtete. Nach ihrem Diplom bei Werner Moser im Jahr 1964 sammelte sie erste Berufserfahrungen in London und New York. Dort kam sie mit der Postmoderne und dem Werk von Louis Kahn in Berührung. 1972 kehrte sie in die Schweiz zurück und eröffnete mit 33 Jahren ihr eigenes Büro in Basel, das sie zeitweise in Partnerschaft mit dem Tessiner Architekten Livio Vacchini führte. 2005 stieß ihr Sohn Reto dazu, mit dem sie fortan zusammenarbeitete.
In ihrer fünf Jahrzehnte umfassenden Laufbahn, in der sie unter anderem den Prix Meret Oppenheim der Schweizerischen Eidgenossenschaft erhielt, verwirklichte Silvia Gmür verschiedene Gebäudetypen. Bekannt sind vor allem ihre Krankenhausbauten, für die sie über die Grenzen der Schweiz hinaus Anerkennung erfuhr. Den Anfang machte aber – ganz klassisch – ein Einfamilienhaus, das sie für sich selbst entwarf. Der 1978 fertig gestellte Holzbau befindet sich in Riehen nahe Basel. Trotz seiner hohen Abstraktion, die besonders in den dafür angefertigten Axonometrien und Grundrissen zum Ausdruck kommt, ist das Wohnhaus keine formale Spielerei, sondern präzise gesetzte Architektur. Auf einer schmalen Parzelle platzierte die Architektin ein um 45 Grad abgedrehtes Konstruktionssystem im Hang, das die Fluchten der Grundstücksgrenzen aufgreift. So entsteht eine Verzahnung von Innen- und Außenraum mit optimaler Belichtung. Die Wohn- und Essbereiche verbinden sich mit dem Garten, während im Außenraum verschiedene Zonen wie Zugangsbereich, Spielplatz oder ein Wohngarten entstehen. Wichtig waren der Architektin die Flexibilität und Auswechselbarkeit der unterschiedlichen Bereiche, weshalb sie das Wohnhaus in 30 bis 40 Quadratmeter große Raumgruppen mit Sanitärkern unterteilte. Das Ergebnis ist ein funktional durchdachtes Haus, das gleichzeitig durch seine geometrische und räumliche Vielschichtigkeit überzeugt: Die um 45 Grad abgedrehten Wände verbinden sich mit dem Satteldach zu einem plastischen Volumen, deren einzelne konstruktive Elemente im offenen Raumgefüge durch große Fenster und Oberlichter inszeniert werden.
Die Kombination aus funktionaler Durchdachtheit und konsequenter kompositorischer Poetik sollten auch die späteren Bauten von Silvia Gmür prägen. Dass sie nicht bereit war Kompromisse einzugehen, verdeutlicht ein Interview aus dem Jahr 2013, das im Oral History Archiv, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich abrufbar ist. Dort sagt die Architektin: "Ich habe eine Haltung im Leben und ich habe sie in der Architektur. Ich verkaufe mich nicht. Ich bin kein Diener des Auftraggebers. Ich will ein Partner sein. Ich würde auch nicht jeden Auftrag annehmen. Unter keinen Umständen. Wenn ich spüre, dass etwas nicht stimmt, oder dass etwas nicht funktioniert, dann mache ich das nicht. Und zwar nicht, weil ich so arrogant wäre, dass ich meine, nur meine Meinung zählt. Aber weil ich glaube, dass es ein Dialog ist. Ein wirklich guter Bau entsteht nur aus einem Dialog zwischen dem Auftraggeber, der Auftraggeberin und dem Architekten."
Dass sie diese Kompromisslosigkeit ausgerechnet im von funktionalen Zwängen geprägten Krankenhausbau umsetzen konnte, verdeutlicht das besondere Talent der Architektin. So arbeitete sie in den 1990er-Jahren zusammen mit Livio Vacchini an der Gesamtsanierung des Klinikums 1 des Universitätsspitals Basel, das in den 1940er-Jahren errichtet worden war. Hinzu kam eine Erweiterung im Westflügel für die Frauenklinik und einen neuen Operationstrakt, den sie bis 2002 ebenfalls mit Livio Vacchini umsetzte. Als Grundlage diente ein quadratisches Volumen, das als flexible Raumstruktur ausformuliert ist. Das Gebäude greift dazu die Geometrie des Bestandbaus auf und ist um einen zentralen Verteilerraum im Erdgeschoss organisiert. Licht erhält es durch eine umlaufende Glasfassade, bei der sich die Architektin am Rhythmus des Bestands orientierte. Hinzu kommt ein Oberlicht in Form eines plastischen Leuchtkörpers, der durch das erste Obergeschoss durchgesteckt ist und den Verteilerraum mit Tageslicht versorgt. Ein Blickfang sind die vor dem Gebäude angeordneten Lichtrampen für das Untergeschoss. Als plastische Betonkörper in die Rasenböschung eingeschnitten, geben sie dem abstrakt-neutralen Gebäudevolumen ein expressives Gesicht.
Zu den bekanntesten Projekten von Silvia Gmür dürfte das Bürgerspital in Solothurn zählen, das sie zusammen mit ihrem Sohn Reto verwirklichte. Der zwischen 2013 und 2021 errichtete Bau wurde nach den Prinzipien der Healing Architecture entworfen. Architektur wird hier zu einem ,wichtigen Bestandteil der Therapie – ein Ansatz, den die Architektin in ein L-förmiges Gebäudeensemble übersetzte. Es dient als Ersatz für ein Hochhaus aus den 1970er Jahren, das nach der Errichtung des Neubaus abgerissen wurde. Das Gesamtvolumen setzt sich aus drei Quadraten zusammen, die unterschiedlich bespielt werden und das Klinikgelände im Westen und Süden einfassen. So entsteht ein geschützter Außenraum, der sich als Park zwischen den einzelnen Gebäuden des Klinikgeländes aufspannt. Im Sockel befinden sich öffentliche Bereiche, Untersuchungs- und Behandlungsräume.
In den Geschossen darüber sind die Bettenstationen untergebracht. Dabei achtete die Architektin bei der Erschließung auf eine natürliche Belichtung und eine gute Orientierung mit übersichtlichen Wegen, die im Sockelgeschoss den Blick auf den umgebenden Park freigeben. Gleichzeitig ergibt sich aus der Erschließung entlang der Fassaden eine innenliegende Funktionsfläche, die von den medizinischen Abteilungen flexibel bespielt werden kann. In den Patientenzimmern sind die Betten um etwa 90 Grad gedreht, was jedem Patienten einen freien Blick aus den raumhohen Fenstern erlaubt. Hinzu kommen größere Abstände zwischen den Betten, eine eigene Raumzone für jeden Patienten und eine wohnlichere Atmosphäre – etwa durch den Parkettboden aus Eiche oder Nussbaum, farbige Möbel und eine versteckte Technikleiste über den Betten. Als Sichtschutz und Verschattungselement der Fassade dienen skulpturale Brise-Soleils. Insgesamt 1.740 weiße Betonelemente wurden dafür verwendet, deren expressive Kraft das Erscheinungsbild des Gebäudes prägen.
Neben den Gebäuden in Basel und Solothurn entwarf, erweiterte oder sanierte Silvia Gmür noch andere Krankenhausbauten wie etwa die Geriatrische Klinik und das Institut für Pathologie und Rechtsmedizin Kantonsspital St. Gallen, das Spital Zollikerberg, das Rätische Kantons- und Regionalspital Chur und das Universitätsspital Zürich. Daneben baute sie auch noch mal für sich selbst: das Casa ai pozzi, ein 2011 fertig gestelltes Zweifamilienhaus in Menusio im Tessin. Auf zwei auskragende Betonplatten verteilt, werden die beiden Wohnhäuser über zwei pyramidenförmige Betonstützen zusammengehalten, die versetzt zueinander angeordnet sind und die Bäder als Kern in sich aufnehmen. Hinzu kommen große umlaufende Glasflächen und Terrassen, die den Übergang zwischen Innen und Außen verschwimmen lassen. Die Wohnhäuser werden so zu einer bewohnbaren Skulptur inmitten der Tessiner Landschaft – eine Architektur als konsequent abstrakter Raum und als größtmöglicher Gegensatz zur umgebenden Natur. Bis ins hohe Alter engagierte sich Silvia Gmür in ihrem Büro. Ihre Haltung zu ihrem Beruf bringt eine Aussage aus dem mit ihr geführten Interview wohl am besten auf den Punkt: "Irgendwie hab ich vielleicht begriffen, dass Architektur etwas ist, was mit Passion zu tun hat, das man nicht so ein bisschen machen kann. Das man nur ganz oder gar nicht machen soll."