top
Antares Tower in Barcelona

Blickpunkt: Architektinnen – Odile Decq

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das von Odile Decq, die mit ihrer Arbeit nach einem individuellen und ganzheitlichen Ausdruck in der Architektur sucht.
von Alexander Russ | 30.04.2024

Odile Decq wird von den Medien gerne als Punk-Architektin bezeichnet. Grund dafür dürfte ihr expressives Äußeres sein – und tatsächlich trügt der Schein hier ausnahmsweise mal nicht. Denn die Französin ist vom Geist der Punkbewegung aus London geprägt, eine Stadt, die sie in den 1970er und 80er-Jahren regelmäßig besuchte. Dort verfolgte sie neben der Musik- auch die Architekturszene, wie etwa die Bauten von Richard Rogers und Norman Foster. Ähnlich wie bei den beiden Pionieren der High-Tech-Architektur findet sich in ihren Projekten eine Hinwendung zur technischen Innovation, sei es in den Bereichen Beleuchtung, Akustik, Verglasung oder Fassade. Gleichzeitig verkörpern sie eine radikale Expressivität, die einem ganzheitlichen Ansatz folgt: Stadtplanung, Architektur, Design und Kunst sollen eine möglichst konsequente Einheit bilden. Neben ihrem architektonischen Engagement setzt sich die Architektin für die Gleichberechtigung von Frauen ein. So war sie etwa Teil einer Protestaktion, die 2018 während der Architekturbiennale in Venedig stattfand, um dort ein Zeichen gegen Diskriminierung zu setzen.

Geboren wurde Odile Decq 1955 in Laval, einer Kleinstadt in der Bretagne. In Rennes studierte sie zunächst Kunstgeschichte, wechselte dann aber zur Architektur. Ihren Abschluss machte sie 1979 an der École Nationale Supérieure d'Architecture in Paris-La Villette und eröffnete anschließend ihr eigenes Büro in Paris. 1985 gründete sie mit Benoît Cornette das Büro ODBC, das zu Beginn vor allem sozialen Wohnungsbau umsetzte, aber auch ein Bürogebäude für Apple in Nantes verwirklichte. Den internationalen Durchbruch brachte der Geschäftssitz der Banque Populaire de L’Ouest et d’Armorique in Rennes, der 1992 fertig gestellt wurde. Für die große Glasfassade des Gebäudes arbeiteten die beiden mit dem Bauingenieur Peter Rice zusammen, der unter anderem am Centre Pompidou von Richard Rogers und Renzo Piano und dem Lloyd’s building, ebenfalls von Richard Rogers, beteiligt war. Das Ergebnis ist ein Ensemble, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt: ein Verwaltungsbau und ein Gebäudeteil, der Schulungsräume, verschiedene Bürotypen und eine Mensa umfasst. Besonders die auf der Längsseite verlaufende Fassade mit hängender Verglasung im Süden dient als Gesicht des Ensembles, das großzügige Ausblicke in die Landschaft erlaubt. Während der Bau noch den Geist der High-Tech-Architektur atmet, verwandelten die Möglichkeiten des Computerzeitalters den architektonischen Ausdruck des Büros: So gewannen ODBC etwa 1996 den Goldenen Löwen in Venedig für ihre Zeichnungen, die freie und dynamische Formen zeigen, wie sie etwa zeitgleich Zaha Hadid verfolgte.

1998 starb Benoît Cornette bei einem Autounfall und Odile Decq, die mit im Auto saß, wurde verletzt. Sie führte das Büro nach dem Tod ihres Partners weiter und benannte es 2013 schließlich in Studio Odile Decq um. Parallel dazu unterrichtete sie an verschiedenen Hochschulen, unter anderem von 2007 bis 2012 als Leiterin der Abteilung für Architektur an der École Spéciale d'Architecture in Paris. Zudem war sie als Gastprofessorin an renommierten Universitäten wie etwa der Bartlett School of Architecture in London, der SCI-Arc in Los Angeles, der Columbia University in New York oder der Graduate School of Design in Harvard tätig. 2014 gründete sie sogar ihre eigene Schule in Paris: das Confluence Institute for Innovation and Creative Strategies in Architecture. Darin sieht sie sich dem Geist der 1970er-Jahre und dessen Diskurskultur verpflichtet, wie sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagt: "Ich wollte eine Schule haben, in der sich Menschen engagieren können. Wo sie die Möglichkeit haben, Position zu beziehen. Und natürlich, wo sie entwerfen und bauen können."

Nach dem Tod von Benoît Cornette folgte eine Durstrecke ohne Aufträge, die sie schließlich überwand. Zu ihren bekanntesten Projekten zählen seitdem die Erweiterung des Museums für zeitgenössische Kunst MACRO in Rom aus dem Jahr 2010, das 2011 fertig gestellte Restaurant Phantom in der Opera Garnier in Paris und das Museum FRAC Bretagne in Rennes von 2012. Kurz vor dem Wettbewerbsgewinn des MACRO konnte auch Decqs alte Weggefährtin Zaha Hadid den Wettbewerb für das MAXXI ­in Rom für sich entscheiden. Während Hadid ein komplett neues Museum in der ewigen Stadt baute, handelt es sich beim MACRO um einen Erweiterungsbau mit circa 2000 Quadratmetern. Er umfasst unter anderem Ausstellungsbereiche, einen Saal für Filmvorführungen und einen Buchladen. Eine große Terrasse überdeckt den neuen Gebäudeteil als prägendes Element. Sie ist vom Stadtraum aus zugänglich und bildet den Auftakt zu einer Architekturpromenade in Form gekrümmter schwarzer Stahlstege, die sich durch den Anbau ziehen. Hinzu kommt ein gläsernes Foyer im Erdgeschoss. Es öffnet sich ebenfalls zur Stadt und umschließt ein in Rot gehaltenes und von einem großen Oberlicht angestrahltes Auditorium, das, im wahrsten Sinne des Wortes, als Herzstück des Gebäudes dient.

Ein weiteres Projekt von Odile Decq ist das Restaurant Phantom in der Opera Garnier in Paris. Es zeigt auf exemplarische Weise den ganzheitlichen Ansatz der Architektin, bei dem Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign sich zu einem homogenen Ganzen fügen sollen. Gerade in Bezug auf letztere Disziplin unternimmt Decq immer wieder Exkursionen, zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit Möbelfirmen: So entwarf sie etwa Besteck für Alessi, Leuchten für Luceplan oder Möbel für Poltrona Frau. 2013 wurde sie von Maison & Object zum "Designer of the Year" ernannt. Das von ihr entworfene Mobiliar kommt auch in ihren Projekten zum Einsatz, wie etwa die maßgefertigten roten Sessel des Restaurant Phantom von Poltrona Frau Custom Interiors. Sie fügen sich mit ihren geschwungenen Linien in die Innenarchitektur ein, die sich aus einer gewellten Glasfassade und einer weißen, amorph anmutenden Galerie zusammensetzt. Letztere vergleicht die Architektin mit einem Gespenst, dessen weißes Gewand sich auf das alte Gemäuer der Opera Garnier legt. Hinzu kommen rote, organisch geformte Teppiche, die einen kräftigen Kontrast bilden und die Stufen der Haupttreppe entlang fließen. Gleichzeitig zonieren sie den offen gehaltenen Grundriss. Die weiße Galerie formt rote Sitznischen aus, die einen Blick durch die großen Glasflächen auf die Straßen von Paris und den darunter liegenden Restaurantbereich ermöglichen.

Phantom Opera Restaurant, Paris

Gerade hat Odile Decq ihr erstes Hochhaus fertiggestellt, ein luxuriöser Wohnturm in Barcelona. Der sogenannte Antares Tower ist von der Kunst Joan Mirós und den Bauten Antoni Gaudís inspiriert. Fließende Balkone mit einer umlaufende Glasfassade umhüllen das Gebäude und sollen an die Wellenbewegungen des Mittelmeeres erinnern. In der großzügigen, leuchtend roten Lobby im Eingangsbereich findet sich ein expressiv gewelltes Glas für die Fassade, dass die Architektin schon für das Restaurant Phantom in Paris verwendete. In den oberen Geschossen sind Maisonette- und Penthouse-Wohnungen untergebracht, hervorgehoben durch in rot gehaltene Balkone. Hinzu kommt eine große Dachterrasse mit Infinity-Pool, die einen Panoramablick über Barcelona und das Mittelmeer bietet. Auch für die Gestaltung der einzelnen Wohnungen zeichnet das Büro verantwortlich, wie etwa die Küchen, die Beleuchtung oder das Mobiliar. Das Projekt macht einmal mehr deutlich, dass es das Spezifische und Besondere ist es, was Odile Decq interessiert – eine Architektur als möglichst individueller Ausdruck. Die Architektin drückt es im Interview mit der Süddeutschen Zeitung so aus: "Wir brauchen größere und bessere Räume. Und wir brauchen die Vorstellung, dass Architektur etwas ist, worin man lebt, und nicht einfach nur eine gewisse Menge an Flächen."