Blickpunkt: Architektinnen – Lina Bo Bardi
Die Architektur der brasilianischen Nachkriegsmoderne war für lange Zeit, wie so viele andere Abschnitte der Architekturgeschichte, in der historischen Rückschau eine reine Männersache – fest verbunden mit Namen wie der Überfigur Oscar Niemeyer, dem Brasilia-Entwerfer Lúcio Costa, dem genialen Betonkonstrukteur Affonso Reidy, dem Hardcore-Strukturalisten João Vilanova Artigas oder dem Gartenarchitekten Roberto Burle Marx. Dass zu diesem Männer-Quintett auch eine Frau zu zählen ist, diese Erkenntnis hat sich erst im Verlauf der 2000er-Jahren durchgesetzt: Dabei hat die Italienerin Lina Bo Bardi (1914-1992) mit ihrer Casa do Vidro (Das Gläserne Haus, 1952), dem Nachbarschaftszentrum SESC Pompéia (1977-1986) und vor allem mit dem MASP, dem Museu de Arte de São Paulo (1968), dem Tropical Modernism einige seiner eindrucksvollsten Gebäude geschenkt.
Achillina "Lina" Bo kam am 5. Dezember 1914 als Achillina Bo in Rom zur Welt, als in Europa der Erste Weltkrieg gerade begonnen hatte. Ihr großbürgerliches Elternhaus ermöglichte ihr – als eine von sehr wenigen Frauen – ab 1934 ein Architekturstudium in Rom, das sie 1940 abschloss. Da hatte in Europa gerade zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit ein alles vernichtender Krieg begonnen. Bo wird als sehr selbstbewusste, eigenständige Frau beschrieben, die außergewöhnlich viel Wert auf ihre Unabhängigkeit legte. Das eigene Büro gründete sie 1940 in Mailand – wohl auch deshalb mit dem Studienkollegen Carlo Pagani, weil sie es als Architektin sonst noch schwerer gehabt hätte. Die Arbeitslage war im Weltkrieg aber ohnehin schlecht, weshalb sich Pagani und Bo mit Messeständen und Ladeneinrichtungen durchschlugen. Zeitgleich arbeitete Bo als eine von vielen unbezahlten Assistenten bei Giò Ponti, außerdem schrieb und illustrierte sie für Mode- und Architekturmagazine. Für Pontis berühmtes Architekturmagazin Domus reiste Bo 1945 kurz nach Kriegsende fotografierend durch ganz Italien, um die Zerstörungen zu dokumentieren. Das Leid der Menschen und das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörungen bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass alle Architektur dem Wohle der Menschen dienen muss. In Europa sah sie keine Zukunft mehr. Stattdessen fand sie im Kunstsammler Pietro Maria Bardi einen Seelenverwandten. Heiraten wollte sie eigentlich nicht, aber mit Bardi kam sie zu einem Arrangement, das für beide ein Leben lang halten sollte. Ihren Nachnamen gab Bo entsprechend nicht auf, sondern stellte beide Nachnamen gleichberechtigt hinter ihren Spitznamen: Lina Bo Bardi. Zusammen emigrierten sie 1946 nach Brasilien.
Brasilien lernten die beiden als jungen, aufstrebenden und sozialistischen Staat kennen, der ihnen den ersehnten Abstand zum zerstörten Europa bot. Zuerst organisierten die Bo Bardis gemeinsam drei große, erfolgreiche Ausstellungen mit europäischer Kunst. Pietro war schon seit 1933 regelmäßig nach Südamerika gereist und verfügte über gute Kontakte zu Künstlern, Politikern und Architekten. Dann lernte er den Medienmogul Assis Chateaubriand kennen. Mit ihm entwickelte er die Idee eines bedeutenden neuen Museums für moderne und klassische Kunst in São Paulo, dem MASP. Chateaubriand war für die Finanzen und die notwendigen Kontakte zuständig, Pietro kümmerte sich um den Aufbau einer Sammlung und Lina um den Umbau einer schlichten Büroetage. Diese sollte für die ersten Jahre das Zuhause des neuen Museums sein, bevor die Gelder zusammenkamen für den spektakulären Neubau, den Lina Bo Bardi ab 1957 für das MASP entwickelte: Direkt an der Avenida Paulista, einer der Hauptadern der Stadt, hängte sie den rechteckigen, fast vollständig verglasten Baukörper an zwei gewaltigen Stahlbetonträger auf, die wie Brücken über dem Gebäude stehen und das Haus gute zehn Meter über dem Boden schweben lassen. Unter dem Neubau entstand so ein öffentlicher, durch das Museum überdachter Platz, auf dem alle möglichen Veranstaltungen stattfinden konnten. Um die Dramatik der Geste noch zu unterstreichen, ließ Bo Bardi die beiden Stahlbetonträger in kräftigem Rot streichen. Als das Museum 1968 feierlich eröffnet wurde, war es eine Sensation – und ist es sicher auch heute noch. Pietro Bardi blieb bis 1996, drei Jahre vor seinem Tod, Direktor des MASP.
Allerdings bildet dieser Entwurf in seiner drastisch modernen Sprache eine Ausnahme im Werk von Lina Bo Bardi. In den vielen anderen von ihr entworfenen Häuser und Möbeln suchte sie statt einer puren, radikalen Moderne lieber nach Verbindungen mit lokalen Bau- und Handwerkstraditionen. Schon 1951 hatte sie voller Überzeugung die brasilianische Staatsbürgerschaft angenommen – mit Europa hatte sie abgeschlossen. Noch 1991 sagte sie in einem Interview: "Ich erinnere mich nicht an Italien, und es interessiert mich auch nicht im Geringsten." Mit der Empathie und Neugierde des Einwanderers erforschte sie nun ihre neue Heimat und fügte in ihre modernen Entwürfe stets traditionelle Motive und lokale Materialien ein. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die "Casa do Vidro", das Gläserne Haus, das sie als neues Heim für sich und ihren Mann schon 1952 auf ein steil abfallendes und dicht bewaldetes Grundstück in São Paulo setzte. Auf die steile Topografie antwortete sie mit einer radikalen, eingeschossigen Hausscheibe, die sie horizontal gegen den Hang setzte. So erscheint das Haus zur Straße als schlichter Pavillon, steht aber hangabwärts auf elf schmalen, immer höheren Stelzen zwischen den fast ebenso schmalen Bäumen. Ins Zentrum des Hauses setzte Bo Bardi zudem einen offenen Hof, durch den die dichte Vegetation von unten hindurchwächst. Und nicht nur die heimische Pflanzenwelt durchdrang in diesem Entwurf die europäisch geprägte Moderne des Hauses: In die Betonwände ließ Bo Bardi farbige Kiesel und Keramikscherben von den Handwerkern einsetzen, um die Härte des Betons zu brechen.
Diese Motive ziehen sich durch Bo Bardis großes, vielfältiges Werk als Architektin. Ganz in der Tradition der europäischen Moderne suchte sie nach Verbindungen zwischen dem Innen und Außen, nach fließenden Übergängen mit großen Fenstern und einer Gestaltung, die zwischen Gebäude und Grünraum vermittelt. Die Häuser, die sie entwarf, sind von Gärten, Veranden, Terrassen und Höfen umgeben und der Aufbau der verschiedenen Raumschichten, die mit Schiebeelementen und großen Fenstern verbunden werden, erinnert manchmal an die komplexen Raumkonstruktionen der japanischen Architektur. Bei den Materialien nutzte Bo Bardi immer wieder roh belassene Baumstämme aus der unmittelbaren Umgebung, sowie Lehm, traditionelle Dachziegel, Kiesel und Keramikfliesen. Manchmal kam sie dabei der folkloristischen, afro-brasilianischen Architektur sehr nahe, die sie auf Reisen in den Norden Brasiliens studierte. Aber immer gelang es Bo Bardi, alles Nostalgische oder Romantisierende aus ihren Arbeiten fernzuhalten. Die übergroßen Fenster, die fast rahmenlosen Glasscheiben und die feinen eisernen Handläufe sind immer wieder eine Vergewisserung, dass es sich bei ihrem Werk um eine dezidiert zeitgemäße Architektur handelt.
Dabei scheint aus heutiger Sicht noch ein anderer Aspekt in Bo Bardis Arbeit umso wichtiger: Während die meisten ihrer Architektenkollegen immer nach Neubauten streben, widmete sich Bo Bardi schon früh dem Erhalt und dem Umbau von bestehender Baukultur. So sollte sie in Salvador do Bahia 1958 einen geeigneten Standort für ein neues Museum für moderne und indianische Kunst finden. Sie entschied sich für einen jahrhundertealten, mehrfach umgebauten Gebäudekomplex mit wunderbarem Blick auf die Allerheiligenbucht. Mit minimalen Eingriffen ließ sie diesen Komplex zum Museu de Arte Moderna da Bahia (MAM) umbauen: die bestehende Struktur höhlte sie aus, ließ Unnötiges entfernen und legte neue Verbindungen. Ins Zentrum stellte sie eine skulpturale Wendeltreppe, die aus rohen, von lokalen Handwerkern gehauenen Brettern wie zusammengesteckt wirkt. Der niederländische Architekt Aldo van Eyck geriet hier noch im Jahr 1995 in Ekstase: "Diese Treppe ist ein Ereignis! Sie macht etwas mit den Menschen, jeder sieht hier nobel aus. Sie diktiert den Weg nicht, sondern stimuliert und leitet mit Eleganz. Dies ist keine Treppe, sondern ein Wunder!"
Der Militärputsch in Brasilien 1964 setzte Bo Bardis Arbeit an öffentlichen Aufträgen zunächst ein jähes Ende. Wie in Italien hatte sie sich auch in Brasilien politisch geäußert. Drei große Projekte von ihr blieben so ungebaut, während sie vor allem an Ausstellungen, Film- und Theaterprojekten arbeitete. Ihr Mann blieb Direktor am MASP und Bo Bardi bekam 1977 den Auftrag, die gewaltige, alte Fabrik SESC Pompéia in einem Armenviertel von São Paulo abzureißen und stattdessen ein modernes Sport- und Freizeitheim zu errichten. Aber Bo Bardi dachte keine Sekunde über einen Abriss nach, sondern darüber, wie auch dieses Relikt mit wenigen Eingriffen zu erhalten und zu einem Symbol des Wandels umgestaltet werden könnte. Neben den gewaltigen Schornstein setzte sie zwei mächtige Neubauten mit Sichtbetonfassaden: einen zwölfgeschossigen Turm und einen etwa zehngeschossigen Quader mit völlig unregelmäßigen Fensterlöchern, die von innen mit groben Schiebeelemente aus knallrot gestrichenem Holz geschlossen werden können. Zwischen die beiden Gebäude spannte sie markante Betonbrücken, auf denen die Benutzer der übereinander gestapelten Sportfelder und des Schwimmbades sichtbar hin- und herlaufen können. Die restlichen Hallen der alten Fabrik füllte sie mit einer räumlich ausgesprochen großzügigen neuen Struktur aus Backstein und Beton, in die sie alle denkbaren Formen von Veranstaltungssälen, Bühnen, Treffpunkten, Versammlungsräumen sowie eine Stadtteilbibliothek einfügte. Auch das Plakat zur Eröffnung 1986 gestaltete Bo Bardi selbst: Aus dem alten Schornstein quollen nun Blüten. Aus einem Symbol industrieller Arbeit hatte sie mit wenigen Mitteln ein Haus für ein geselliges, soziales Miteinander geschaffen.
Lina Bo Bardi starb am 20. März 1992 in ihrem Gläsernen Haus in São Paulo. Wieso ihre Arbeiten so lange nicht zum Kanon der modernen brasilianischen Architektur gezählt wurden, bleibt rätselhaft. Vielleicht war ihre Architektur dafür nicht "pur" genug, weil sie ihre Vorstellungen einer alle Lebensbereiche verbessernden Moderne stets mit lokalen Anleihen und im direkten Austausch mit den Menschen vor Ort entwickelte – und dabei soziales, politisches und kulturelles Engagement über die "reine Lehre" stellte. Noch 2010, als ihr Werk auf der Architekturbiennale in Venedig als Teil der Hauptausstellung gezeigt werden sollte, wurde der brasilianische Fotograf Nelson Kon losgeschickt, um ihre Häuser zu fotografieren – viele davon waren zuvor noch nie dokumentiert worden.
Tipp:
Lina Bo Bardi – Die Poesie des Betons
Tchoban Foundation. Museum für Architekturzeichnung
Christinenstraße 18a
10119 Berlin
Ausstellungseröffnung am 31. Mai 2024 um 19:00 Uhr
Ausstellungsdauer: 1. Juni – 22. September 2024
Öffnungszeiten:
Mo bis Fr 14 – 19 Uhr
Sa bis So 13 – 17 Uhr