Blickpunkt: Architektinnen – Jórunn Ragnarsdóttir
Wie die 1957 in Akureyri gebürtige Isländerin Jórunn Ragnarsdóttir zur Architektur gekommen ist? Schon als Kind hat sie für ihre Puppen nicht nur Kleider genäht, sondern auch Wohnungen gebaut und eingerichtet. Als sie elf war, bauten die Eltern ein Haus und sie durfte mitreden und mitentscheiden. Ein Schulaufenthalt in der damaligen Odenwaldschule hat ihr sehr gut gefallen, so interessierte sie sich für ein Architekturstudium in Deutschland, denn Island erschien ihr zu isoliert und Skandinavien zu nahe.
Lange Zeit war ihr Name mit dem des Stuttgarter Architekten Arno Lederer verbunden. Sie hatte ihn gegen Ende des Studiums an der Universität Stuttgart in einer Wirtschaft kennengelernt und gleich nach dem Diplom in seinem Büro gearbeitet. Die Zusammenarbeit bewährte sich nicht nur auf fachlich-inhaltlichem Gebiet und mündete 1983 in eine Lebens- als auch 1985 in eine Bürogemeinschaft. 1992 trat Marc Oei als dritter Partner in das Büro ein, das fortan unter Lederer Ragnarsdóttir Oei firmierte. Offiziell traten die PartnerInnen gemeinsam auf, galten Lederer Ragnarsdóttir Oei als gemeinsame UrheberInnen aller Projekte. Intern ergaben sich gewisse Schwerpunkte. Marc Oei brachte vor allem technische und administrative Kompetenzen ein, entwarf einige Projekte, trat aber nach außen hin kaum auf. Jórunn Ragnarsdóttir oder Ragnarstochter, wie sie sich in Deutschland zuweilen auch nennt, erledigte die Büro- und Personalführung, entwarf Projekte – und zog nebenher vier Kinder groß.
Arno Lederer (1947-2023) vertrat das Büro nach außen hin. Er war ein charismatischer Menschenfänger, grandioser Festredner, Essayist und Vordenker der Architektenszene sowie Lehrer an drei Universitäten. Seine dominante Präsenz in der Öffentlichkeit führte dazu, dass die Urheberschaft der Bauten automatisch ihm zugeschrieben wurde. Dabei stammte ein großer Teil der Entwürfe, und nicht die unbedeutendsten, etwa das Historische Museum Frankfurt am Römer, der Hospitalhof in Stuttgart, der Erweiterungsbau der Landesbibliothek in Stuttgart, die Schule in Ostfildern und die Schule in Aschersleben von ihrer Hand.
Das erste große Projekt von Arno Lederer entstand 1987 in Fellbach, die "Sanierung Stadtmitte Fellbach", ein stattliches Bauprogramm mit Bank, Geschäfts- und Wohnhaus und einer Bibliothek. Fühlte er sich zu jener Zeit eher der weißen Moderne verpflichtet – einschließlich der obligatorischen weißen Villen – streifte er später ein wenig die Postmoderne und Memphis – hier und da tauchte eine rote Säule, eine blau gestreifte Wand auf. Später, in der gemeinsamen Arbeit, waren die beiden auf soliderem Terrain unterwegs. Fest gemauert auf der Erde stehen die Bauten, und sie scheinen auch aus dieser ihre Kraft zu ziehen. Eine Kraft, die der Moderne längst abhanden gekommen ist.
Die Häuser von Lederer Ragnarsdóttir Oei könnten, was die Grundrisse betrifft, moderner nicht sein, sie sind penibel ausgetüftelt, bestens aufgeräumt, sie funktionieren. Doch wo andere für die "Vereisung der Architektur" verantwortlich sind, weil sie aus diesen Grundrissen im besten Falle ätherische Artefakte machen, meist jedoch nur abstrakte, tote Kisten ohne Anmutung und Inspiration, da bedienen die BaukünstlerInnen Lederer Ragnarsdóttir Oei Grundbedürfnisse des Menschen nach Raumerlebnis, Orientierung, der Erfahrung mit allen Sinnen, Geborgenheit und Heimat. Damit einher geht die Vorliebe für kraftvolle Formen und natürliche Materialien mit haptischen Qualitäten, wie Fassaden nicht mit Wärmedämmverbundsystem gefertigt werden, sondern aus Ziegeln, der Innenausbau in Holz und Leder geschieht, statt in Kunststoff.
Es ist aber auch die baukünstlerische Gestaltungskraft, mit der Lederer Ragnarsdóttir Oei den von ihnen beanspruchten "genügenden Spielraum für Ästhetik" lustvoll ausfüllten. Jórunn Ragnarsdóttir ist überzeugt, dass man, um schöne Häuser bauen zu können, sich mit schönen Dingen umgeben sollte, die einem etwas bedeuten, schöne Arbeitsmaterialien, Papier, Buntstifte, schöne Skizzen. Geschrieben wird mit dem Füller. Schöne Arbeitsprozesse führen zu schönen Räumen (nicht Design!). Zu den schönen Dingen gehört auch die Beschäftigung mit der klassischen Musik, der bildenden Kunst und der Natur. Die Natur ist von sich aus schön, sie bedarf keiner Korrektur. Anders als Arno Lederer, der traurig war, zum Vordiplom nur das Diskutieren und Analysieren gelernt zu haben, lernten die Studierenden bei Arno Lederer und Jórunn Ragnarsdóttir also auch, wie man schöne Häuser entwirft, und vor allem, wie man ein Haus so baut, dass es langfristig seine Qualität behält wie das Umfeld bereichert. Und das war nicht nur statisch-konstruktiv gemeint, sondern beinhaltete auch die, heute sagt man, "ästhetische Nachhaltigkeit". Denn was nützt ein langlebiges Haus, das binnen kurzem aus der Mode gekommen ist.
So kommt es, dass Bauwerke aus dem Architekturbüro von Lederer Ragnarsdóttir Oei sowohl kühl kalkuliert erscheinen, wie auch aus dem Bauch heraus gestaltet sind, dass sie die Fachleute begeistern und von Laien gleichermaßen geschätzt werden. Von wessen Architektur lässt sich das heute schon behaupten? Diese Gestaltungskraft führt auch immer wieder zu Entwürfen, die sich in historischem Umfeld sowohl einfügen, als auch behaupten. Die Erweiterung des Klosters Hegne Marianum in Allensbach (2009), entworfen von Jórunn Ragnarsdóttir, ist ein Musterbeispiel für den gleichermaßen sensiblen wie selbstbewussten Auftritt. Wie der Bestandsbau gespiegelt, verdoppelt wird, wie die Verbindungsbauten, Freibereich, Kommunikationstreffpunkt und Verkehrsfläche zugleich, als attraktive Arkaturen über den Bodensee grüßen, macht die Anlage zu einem unvergesslichen Hingucker.
Auch ihr Hospitalhof in der Stuttgarter Innenstadt (2014), wiederum ein Projekt, das Denkmalpflege, Weiterbau, Stadtreparatur und -gestaltung gleichermaßen repräsentiert, wurde vielfach mit Architekturpreisen bedacht. Ähnlich wie ihr Historisches Museum im Kernbereich der Frankfurter Altstadt (2017), bei dem es ebenso geglückt ist, all die heterogenen Relikte aus verschiedenen Jahrhunderten rund um den Römer miteinander zu versöhnen, besser, als es den Vorgängerbauten der Wiederaufbauzeit gelungen war. Das Projekt ist aber auch Beleg für Jórunn Ragnarsdóttirs Anliegen, öffentliche Räume zu schaffen, den Menschen etwas zurückzugeben, was durch die Baumaßnahme besetzt wurde, gestalteten, nutzbaren, gemeinsamen Raum, der im aktuellen Städtebau so stiefmütterlich behandelt oder ganz vergessen wird.
Jórunn Ragnarsdóttir hat sich neben der Präsenz ihres Mannes sukzessive emanzipiert und bekannt gemacht, trotz des isländischen Namens, der hierzulande nicht so leicht über die Zunge gehen mag. Sie lehrte an der Universität Stuttgart und an der Kunstakademie Düsseldorf. Und sie ist eine gern gesehene Preisrichterin in Architekturwettbewerben. Anfangs hat sie diesbezüglich als eine von wenigen namhaften Architektinnen in Deutschland von der Quote profitiert, doch inzwischen sind die Jurys oft paritätisch aufgestellt. Nun ist sie häufig als Juryvorsitzende "gesetzt". Sie gilt als versiert und führungssicher in der Kommissionsarbeit, weswegen ihr zahlreiche Gremiensitze angetragen werden. Acht Jahre lang saß sie im Landesdenkmalrat Berlin, später im Baukollegium Berlin und immer wieder in Gestaltungsbeiräten von Städten wie Zürich, Lübeck, München, Freiburg im Breisgau, Regensburg, Salzburg unter anderem, derzeit in Leipzig und in Dresden. Hinzu kommen Hochschulgremien in Stuttgart, Burg Giebichenstein und Bauhaus-Universität Weimar sowie ein Sitz im Aufsichtsrat der Tempelhof Projekt GmbH.
Neben ihrer Tätigkeit als Architektin hat Jórunn Ragnarsdóttir mehrere Bühnenbilder und Kostüme am Nationaltheater und Stadttheater in Reykjavík entworfen. Dort konnte sie ihre Gestaltungskraft und Liebe für die darstellende Kunst wie das gesprochene Wort entfalten und verbinden. Bei der Remstal Gartenschau 2019 hat sie ein eigenes Projekt kuratiert. Mit 16 Architekturbüros ist ihr es gelungen, ein Manifest für die unterschiedlichen Ortschaften nachhaltig zu realisieren.
Nach dem Ausscheiden aus dem Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei 2022 (die Abkürzung LRO hatten JournalistInnen dem Büro verpasst und sie ist erst danach offiziell geworden), gründeten Jórunn Ragnarsdóttir und Arno Lederer mit Sohn Sölvi Lederer ein Büro in Berlin. Seit Arno Lederers Tod im Jahr darauf wird es von Mutter und Sohn weitergeführt. "Anfangs habe ich Entscheidungen getroffen, inzwischen stelle ich nur noch Fragen, oder Sölvi wendet sich an mich", beschreibt sie die enge Zusammenarbeit. Im Übrigen ist Jórunn Ragnarsdóttir nach wie vor in den Gremien, Beiräten und Jurys sehr viel beratend unterwegs, was sie gerne tut, denn sie hat das Gefühl; mit dieser Arbeit viel bewegen zu können und lebendig zu bleiben.