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Prof. Bitten Stetter

GESUNDHEIT
Ein blinder Fleck

Die Designerin Prof. Bitten Stetter leitet die Forschung innerhalb der Fachrichtung Trends & Identity an der Zürcher Hochschule der Künste. Mit ihrer Marke Final Studio entwickelt sie aktuell Prototypen für Produkte, die der palliativen Pflege dienen können. Wie sie versucht ein gesellschaftliches Tabu aufzulockern und welchen Nutzen Produktdesign am Lebensende haben kann, sagt sie uns im Interview.
22.04.2022

Anna Moldenhauer: Frau Prof. Stetter, warum erforschen Sie prototypische Designvorschläge für die palliative Pflege?

Prof. Bitten Stetter: Die Ausgangslage für meine Forschung sind eigene Erfahrungen aus der Begleitung einer Angehörigen, zum Beispiel welche Objekte benötigt werden, wenn sich der Lebensraum verkleinert. Dabei habe ich gemerkt, dass das allgemeine Wissen darüber, welche Hilfestellungen Menschen an ihrem Lebensende brauchen und welche Bedürfnisse sie haben, eher gering ist. Das Bedürfnis nach Nahrung rückt dann beispielsweise in den Hintergrund. Ich habe auf einer Palliativstation zu materieller Kultur geforscht und dabei sehr viel von den Pflegenden gelernt. Zudem habe ich dort miterlebt, wie viel im Alltag improvisiert werden muss, weil es bestimmte Objekte nicht gibt. Das bisher vorhandene Design für diesen Bereich ist eher auf eine kurative Medizin ausgelegt, weniger auf eine palliative Pflege.

Warum ist das Design von Produkten für die palliative Pflege und das Sterben ein blinder Fleck für GestalterInnen?

Prof. Bitten Stetter: Ich denke da muss man unterscheiden – die Pflege an sich ist sehr von medizinischen Settings geprägt. Schon im 19. Jahrhundert wurde notiert, dass die materielle Kultur wichtig in der Pflege ist. Keine Pflege ist ohne Material möglich. Und trotzdem bekam dieses Feld in der Forschung sehr wenig bis gar keine Beachtung, außer es geht um Technologien. Den Objekten, mit denen wir in der Pflege in Berührung kommen, wurde sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt – sowohl in der Pflegeforschung als auch in der medizinischen Forschung. Warum das so ist, ist schwierig zu sagen. Ich denke, dass es aus der Designperspektive mit der Tabuisierung des Todes oder des Sterbens zu tun hat. Das Sterben hat natürlich keinen guten Ruf. Es ist kein sauberer Vorgang. Dort ins Feld zu gehen, liegt nicht jeder Designerin, nicht jedem Designer. Zudem scheint es die Designhaltung "form follows function" noch in medizinischen Settings weitverbreitet zu sein. Das bedeutet, dass der Fokus weniger auch Ästhetik, Sinn und Bedeutung der Dinge als auf reine Funktion liegt.

Ess- und Trinkgeschirr
Pillenhalter

Produkte aus diesem Themenbereich lassen sich vermutlich auch schlecht vermarkten.

Prof. Bitten Stetter: Ja, möglicherweise. Es ist nicht "schick". Man setzt sich viel mehr mit der Frage auseinander, was nach dem Tod kommt als mit der Gestaltung der letzten Lebensphase. Das ist nicht nur ein blinder Fleck im Design, sondern ein blinder Fleck in unserer Gesellschaft. Es gibt den großen Wunsch einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen oder einer Unsterblichkeit nahe zu kommen. Das Sterben ist in unserer westlichen Gesellschaft kein Ereignis mehr. Das Ganze hat sich über die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte stark verändert, auch weil die Medizin mittlerweile sehr viel mehr leisten kann und sich Krankheitsverläufe stark verzögern lassen. Das kulturelle Wissen über das Lebensende ist in uns verankert, aber wir wollen es nicht wirklich wahrnehmen.

Sprich, man versucht das "gesunde Bild" so lange wie möglich aufrecht zu erhalten und wenn die Situation schwierig wird, wird der Mensch für die Gesellschaft unsichtbar. Die Pflege und das Sterben geschehen sehr institutionalisiert, kaum mehr innerhalb der Familie und ist uns somit fremd geworden. Wie kann Design Ihrer Meinung helfen, dass wir hier eine Normalisierung erfahren?

Prof. Bitten Stetter: Mein Blick darauf hat sich im Laufe des mittlerweile fünfjährigen Forschungsprozesses verändert. Am Anfang dachte ich, dass es wichtig wäre Produkte für die medizinischen Settings einer Palliativstation zu gestalten. Jetzt denke ich, dass das immer noch an einem falschen Punkt ansetzt, weil es in dem hermetisch abgeschlossenen Raum einer Institution stattfindet. Die Produkte sollten uns aber schon im "gesunden" Alltag häufiger begegnen, denn Ihre Verwendung ist ja nicht zwangsläufig auf die Pflege beschränkt. Über diese können wir auch mehr über die letzte Lebensphase lernen. Im Moment stelle ich meine Prototypen noch relativ oft in musealen Kontexten aus und merke das Menschen, die noch nicht mit einem Lebensende oder der Pflege eines Menschen konfrontiert wurden, viele Produktarten gar nicht kennen. Wenn ich diese Dinge in den Alltag bringe, dann fängt man an Fragen nach deren Verwendung zu stellen. Mein Ansatz ist Wissen über das Design zu vermitteln – wie etwa ein Teller, der wesentlich kleiner ist und so den geringeren Bedarf an Nahrung am Lebensende begreifbar macht. Parallel kann eine angenehme Ästhetik und wohltuende Materialien die Angst, den Ekel und die Scham verringern, die wir vor diesem Thema haben. Nicht mehr aktiv im Leben stehen zu können und eventuell anderen "zur Last" fallen zu müssen, ist seitens der PatientInnen oftmals mit sehr viel Scham behaftet.

Ihre Forschungsprodukte, die sie im Rahmen des Schweizer National Fonds Projektes "Sterbesettings" entwickeln sind praktisch ausgelegt, bieten Selbstständigkeit, sollen auch ein Stück Würde zurückgeben und zum Wohlbefinden beitragen. Sie dienen der Lebensqualität am Lebensende. Wie ließe sich diese Idee als Standard in unsere Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen integrieren, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der PatientInnen?

Prof. Bitten Stetter: Das ist ein Aspekt, mit dem ich häufig konfrontiert werde. Wenn man als DesignerIn in kleinen Stückzahlen in Eigenproduktion beginnt in den Markt einzusteigen, und dann noch nachhaltig produziert, sind die Kosten höher und somit auch erstmal der Preis. Aber Konsum demokratisiert sich durch Nachahmung. Ich habe viele Do-it-yourself Produkte entworfen, die man günstig nachbauen kann. Auch können meine Ideen als Inspiration dienen. Ich lade mit meinen Prototypen ein darüber nachzudenken, was einem selbst wichtig ist. Was tut mir gut am Lebensende, was erhöht meine Lebensqualität? Ich möchte mit meinem Projekt dafür sensibilisieren, was Würde und Wohlbefinden am Lebensende bedeutet. Ich hoffe zudem, dass eine veränderte Nachfrage auch ein verändertes Angebot in den Institutionen auslöst – so wie es mittlerweile dort vegetarisches Essen gibt, da die Vielfalt vermehrt gewünscht wurde. Sicher haben meine Ansätze nicht für jeden eine Bedeutung, aber es sollte die Möglichkeit geben bei Bedarf individuell auswählen zu können.

Bettbox
Handyhänger

Viele Produkte sind aus Pappe, leicht, faltbar und recycelbar, es gibt aber auch Stücke aus Keramik. Könnten diese nicht zu schwer sein und möglicherweise zerbrechen, wenn PatientInnen sie nicht richtig greifen können?

Prof. Bitten Stetter: Die Keramik ist sehr leicht – und daran haben wir auch sehr lange gearbeitet. Der verwendete Ton ist im Gewicht ähnlich wie bestehende Kunststoffprodukt. Natürlich kann das Produkt zerbrechen wenn es herunterfällt, aber eine Verletzung wäre da aus meiner Sicht so schnell nicht möglich. Ich habe selbst in der Palliativpflege gearbeitet und da sind nicht ständig die Tassen heruntergefallen. Das Essen wird von den PatientInnen auch noch von Porzellantellern eingenommen. Aus meiner Sicht könnten die Keramikprodukte bereits im Alltag zu Hause helfen, denn auf dem letzten Reiseabschnitt befindet man sich ja nicht zwangsläufig in den Institutionen, gerade bei chronischen Krankheiten. Die Objekte sollen als Reisebegleiter dienen, die auch ein Stück gewohntes Umfeld bedeuten, das man an die unterschiedlichen Orte mitnehmen kann.

Haben Sie die Wirkung Ihrer Produkte auf den Alltag von PatientInnen bereits getestet?

Prof. Bitten Stetter: Ja, und die Rückmeldung war, dass die Produkte für den Alltag auch zu Hause angenommen wurden, denn die PatientInnen haben den Unterschied in der Ästhetik und die hochwertigere Haptik als positiv für ihr Wohlbefinden wahrgenommen, da sie mit solchen Materialien vertrauter sind. Die wenigsten von uns Trinken zu Hause oder in gesunden Zeiten aus Plastiktassen.

Sie verwenden für Ihre Arbeit zahlreiche englische Begriffe, wie "Travel Wear", "Final Studio", "End of Life Care", "Sterbesettings" oder "Care Design". Brauchen wir eine Abstraktion der Begriffe, um uns mit dem Thema Gestaltung des Todes zu beschäftigen und macht das eventuell auch die Vermittlung einfacher?

Prof. Bitten Stetter: Ein Beispiel: Die "Kompressionshose" und die "Shape Wear" sind im Grunde das gleiche Produkt, aber in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz völlig verschieden. "Shape Wear" wird getragen, da es mit einer schönen Körperform assoziiert wird. Ich glaube schon, dass die Sprache zum Beispiel über die Umbenennung von Dingen uns einen leichteren Zugang zu diesem Thema gibt. Manche Wörter sind negativ besetzt, wie die "Erwachsenenwindel". Der Begriff löst in uns Ängste und Ekel aus. Wenn man stattdessen "Diapers" sagt, kann man den Zugang zum Produkt möglicherweise verändern. Daher ist die Begrifflichkeit, die ich verwende, schon eine bewusste Entscheidung. Bereits mit den Begriffen "Care" und "Pflege" verbinden wir unterschiedliche Handlungen. Die "Pflege" ist in der deutschen Sprache auf eine rein körperliche, physische Hilfestellung reduziert. "Care" hingegen bedeutet Fürsorge, das hat in unserem Verständnis einen viel größeren Assoziationsraum und ein breiteres Einsatzgebiet. "Palliativpflege" und "End of life Care" bieten da andere Spektren, da der Begriff "Care" auch die Psyche und soziale, existenzielle Fragen viel mehr mit einbindet.

Duftlaterne
Würfelspiel als Konversationshelfer

Ihre Forschungsarbeit schließt auch die Gestaltung von Wunsch-Sterbezimmern ein. Was sind hier Ihre Erkenntnisse?

Prof. Bitten Stetter: Ein Wunschsterbezimmer ist sehr individuell, sowohl seitens der Pflegenden wie der PatientInnen. Pflanzen und ein weiter Blick aus dem Fenster sind Motive, die in meiner Befragung von PatientInnen oft gezeichnet wurden. Ein weites Spektrum an Farbe spielt auch eine Rolle. Die weitere Ausstattung hängt sehr von der jeweiligen Person und ihrem Alter ab. Man sollte so individuell sterben wie man lebt, und das zu ermöglichen strebt die Palliativ Care eigentlich auch an. Nur ist diese Individualität in der Praxis oft nicht gegeben.

Sie sind Leiterin des Bereichs "Research and Investigation" im Studiengang "Trends & Identity" an der Zürcher Hochschule der Künste und lehren auch an weiteren Hochschulen im Bereich Design. Welche Kernaussage zu Ihrer Arbeit möchten Sie Ihren StudentInnen vermitteln?

Prof. Bitten Stetter: Das man außerhalb seines eigenen Komfortbereichs den Bedarf an Design beobachten sollte, denn die Tendenz ist stark für einen selbst oder das direkte Umfeld zu gestalten. Man hat auch den Eindruck, dass viele GestalterInnen abseits unserer westlichen Gesellschaft eine Aufgabe suchen, da sie das Gefühl haben, dass es hierzulande keine Aufgabenstellungen mehr gibt, wo man mit Design wirklich eine Veränderung bewirken kann. Wenn man die Augen weit genug aufmacht, finden sich auch in der westlichen Gesellschaft noch Dinge, wo es sich lohnt genauer hinzuschauen und Fragen des Re-Designs oder der generellen Gestaltung zu stellen. Aufgrund meiner Forschung bin ich zudem der Meinung, dass man sich die jeweilige Lebenswelt, für die man gestaltet vorab genau anschauen sollte und in den Kontakt mit den Menschen für die wir gestalten treten sollten.

Werden die Protoypen Ihrer Produktforschung produziert?

Prof. Bitten Stetter: Ich arbeite gerade daran, die Prototypen in eine nachhaltige, sozial verträgliche Produktion zu bringen. Dankenswerterweise habe ich eine Förderung von der Age-Stiftung bekommen, die dabei helfen wird, die Produkte aus dem musealen Kontext in die Nutzung zu bringen. Die Herausforderung ist auch über die Stückzahlen einen Preis zu erreichen, der diese einem größeren Publikum zugänglich macht. Gerade am Ende der Lebensreise will man oft nicht mehr viel für sich ausgeben, auch wenn ich diese Einstellung nicht richtig finde. Die Produkte sind als Reisebegleiter gedacht und nicht nur für einen kurzen Abschnitt. Sie sollen sowohl den Betroffenen wie den Pflegenden und den Angehörigen im Alltag dienen.

Woran arbeiten Sie gerade?

Prof. Bitten Stetter: Wir arbeiten gerade an einer Buchvernissage zu "Kontext Sterben", die am 27. April 2022 stattfinden wird (19 Uhr – Buchhandlung Never Stop Reading Spiegelgasse 18 / Untere Zäune 8001 Zürich). Darüber hinaus gestalte ich ein Sterbezimmer für eine Ausstellung in Zürich im Kulturzentrum Vögele, die am 17. Mai 2022 eröffnet.

Kontext Sterben
Institutionen – Strukturen – Beteiligte

Herausgeber u.a.: Corina Caduff, Francis Müller, Eva Soom Ammann, Minou Afzali
Scheidegger & Spiess
240 S., ca. 30 farbige und 10 s/w-Abbildungen
Kartoniert
ISBN 978-3-03942-050-6
38 Euro

Travel Wear