NACHHALTIGKEIT
Gewohnheiten ändern
Alexander Russ: Herr Bergmann, was bedeutet der Begriff "Hedonistic Sustainability" – also "Hedonistische Nachhaltigkeit"?
Kai-Uwe Bergmann: Nachhaltigkeit im klassischen Sinne bedeutet weniger Ressourcen zu verbrauchen – etwa durch die Dämmung eines Gebäudes oder durch eine Reduktion der Verglasung, um so die Wärme im Innern zu halten. Insofern schwingt bei einem nachhaltigen Ansatz immer auch eine Form von Einschränkung mit, die eine Reduzierung der Lebensqualität mit sich bringen kann – wie etwa weniger Tageslicht oder ein schlechterer Ausblick aus dem Gebäude. "Hedonistic Sustainability" dagegen verfolgt den Ansatz, die Lebensqualität durch einen intelligenten Einsatz von Ressourcen zu erhöhen, zum Beispiel indem der Abfall eines Zyklus zur Energiequelle eines anderen Zyklus wird. Deshalb müssen wir unsere Gebäude, Städte und Systeme so entwerfen, dass Nachhaltigkeit kein Verbot von etwas darstellt, sondern Spaß machen kann. Die Chance, dass Menschen ihre Gewohnheiten ändern, ist größer, wenn Nachhaltigkeit zu einer Verbesserung ihres Lebens beiträgt.
Nachhaltigkeit wird oftmals über Technik gelöst. Inwieweit kann Architektur zu einer "Hedonistic Sustainability" beitragen?
Kai-Uwe Bergmann: Technologie ist zunächst mal ein Werkzeug, das dabei helfen kann, bestimmte Gewohnheiten zu ändern, so dass Menschen nachhaltiger handeln. Allerdings gibt es noch andere Faktoren, die auch die Architektur betreffen, wie etwa das Einfügen eines Gebäudes in einen bestimmten Ort. Man kann ein Gebäude in diesem Zusammenhang auch als Instrument betrachten, das sehr fein auf seine Umwelt und das vorhandene Klima abgestimmt sein sollte. Dabei spielt vor allem das Fassadensystem eine Rolle und wie es mit der integrierten Gebäudetechnik interagiert. Das Zusammenspiel dieser Faktoren hat den größten Einfluss auf die Performance eines Gebäudes.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie Architektur dazu beitragen kann, Gewohnheiten zu verändern?
Kai-Uwe Bergmann: Die von uns entworfene Müllverbrennungsanlage "CopenHill" in Kopenhagen ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Das Ganze ist nicht nur eine Müllverbrennungsanlage, sondern bietet auch eine Fläche für Freizeitaktivitäten wie Skifahren oder Wandern. Es handelt sich also um einen Hybrid aus einem Industriebau und einem Freizeitpark. Zudem beinhaltet das Konzept auch einen didaktischen Ansatz, da man dort erfährt, wie eine Müllverbrennungsanlage funktioniert. Die BesucherInnen interagieren mit dem Gebäude der Müllverbrennungsanlage und beginnen ein System zu verstehen, das ein wichtiger Teil einer funktionierenden Gesellschaft ist. Das regt dazu an, sich die Frage zu stellen, welchen Beitrag jeder Mensch leisten kann, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Gleichzeitig trägt "CopenHill" dazu bei, ein Quartier aufzuwerten, indem eine Interaktion mit der Stadt stattfindet und der Ort so zu einem Treffpunkt für die Nachbarschaft wird.
Das Gebäude ist ein extremes Beispiel für eine Mischnutzung und insofern auch ein Gegenentwurf zur Funktionstrennung des Städtebaus aus der Nachkriegszeit.
Kai-Uwe Bergmann: Ja, und nicht nur das: Müllverbrennungsanlagen werden eigentlich von IngenieurInnen entworfen. Dass es für den "CopenHill" im Vorfeld einen Architekturwettbewerb gab, ist schon ein Riesenschritt. Im Übrigen sahen die Vorgaben des Wettbewerbs lediglich vor, eine schöne Hülle für die Anlage zu entwerfen. Wir haben dieser schönen Hülle mit unserem Entwurf einen Sinn gegeben und ihm dadurch Leben eingehaucht.
Einige Entwürfe von BIG erinnern in ihrer Formensprache an die Architekturvisionen von Buckminster Fuller oder Frei Otto. Sind diese Architekturen, die damals eine positive Zukunftsvision verkörperten, ein Einfluss für BIG?
Kai-Uwe Bergmann: Ja, sicher. Wir stehen, wie viele andere auch, auf den Schultern von Riesen. Bjarke Ingels spricht in unserem Buch "BIG. Formgiving. An Architectural Future History", davon, dass es als ArchitektIn darum geht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, wenn wir mit einem bestimmten Projekt beauftragt werden. Das jeweilige Projekt beinhaltet bestimmte Vorgaben, die wir als ArchitektInnen erfüllen müssen. Gleichzeitig sollten wir uns aber auch die Frage stellen, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Deshalb müssen wir eine bestimmte Vorstellung davon haben und in das Projekt einbringen, die über die Vorgaben hinausgeht – womit wir wieder beim Thema Nachhaltigkeit wären, denn der Klimawandel stellt uns vor gewaltige Herausforderungen, mit denen wir uns als ArchitektInnen beschäftigen müssen.
Ich würde gerne über Ihre derzeitigen Projekte sprechen, wie den Entwurf für das neue Dock A am Flughafen Zürich. Warum haben Sie sich dort für eine Holzkonstruktion entschieden? Das ist ja eher ungewöhnlich für eine derartige Typologie.
Kai-Uwe Bergmann: Historisch betrachtet ist eine Holzkonstruktion sicher ungewöhnlich für einen Flughafen. In der Schweiz gibt es aber eine sehr reiche Tradition im Holzbau – wie etwa die alten Bauernhäuser, die 300 bis 400 Jahre alt sind. Dieses Erbe ist etwas, das wir sehr zu schätzen wissen und das wir in einem größeren Maßstab anwenden wollten. Hinzu kommt, dass Holz eine gewisse Wärme ausstrahlt und dadurch auch eine bestimmte Aufenthaltsqualität erzeugt. Holz wird für das neue Dock A also nicht nur als konstruktives Element, sondern auch für die Atmosphäre eingesetzt.
Welche konstruktiven Herausforderungen gibt es bei einem solchen Projekt?
Kai-Uwe Bergmann: Die größte Herausforderung ist, den weiteren Flughafenbetrieb zu gewährleisten. Deshalb entsteht das neue Dock A direkt neben dem alten, um so einen reibungslosen Übergang zu gestalten. Ziel ist auch hier, dass die zukünftige Architektur den BesucherInnen Freude bereiten soll, gerade im Hinblick auf die Mobilität und die damit verknüpfte Fortbewegung im und vom Flughafen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Nutzung von Tageslicht und der Art und Weise, wie die unterschiedlichen Ebenen räumlich miteinander verknüpft sind.
Gab es auch die Möglichkeit, das alte Dock A zu erweitern?
Kai-Uwe Bergmann: Wir haben diese Möglichkeit geprüft, aber im Hinblick auf den Flughafenbetrieb war das keine realistische Option. Etwa 30 Prozent des heutigen Passagierverkehrs werden über das derzeitige Dock A abgewickelt, weshalb es unrealistisch ist, das bestehende Dock A während der Sanierung vollständig stillzulegen. Der Verlust des Flugverkehrs hätte große wirtschaftliche Auswirkungen, so dass der Bau des neuen Docks A neben dem bestehenden Dock A die praktikabelste Lösung war.
Beim Entwurf für das Dach des Google Campus in Mountain View im Silicon Valley haben Sie sich für eine Stahlkonstruktion entschieden. Warum kam hier kein Holz zum Einsatz?
Kai-Uwe Bergmann: Bei der Wahl des Materials spielen natürlich immer auch die Rahmenbedingungen des Projekts eine Rolle. Wir schauen uns im Vorfeld genau an, was dort konstruktiv am meisten Sinn ergibt, gerade im Hinblick auf das Energiekonzept oder den Lebenszyklus des Gebäudes. Für den Google Campus haben wir 30 neue Konstruktionssysteme entwickelt, die alle überprüft und freigegeben werden mussten. Es hat Jahre gedauert, diese neuen Technologien, die jetzt frei zur Verfügung stehen, zu entwickeln. Ein Höhepunkt ist die für Photovoltaik genutzte Dachlandschaft, die aus einem System von nach innen gebogenen Paneelen besteht und mit insgesamt 50.000 Solarmodulen ausgestattet ist. Das Ganze erinnert an eine Drachenhaut, die dem Gebäude ein unverwechselbares Erscheinungsbild gibt.
Ein weiteres Ihrer Projekte, das ebenfalls eine Nachhaltigkeitsagenda verfolgt, ist die Möbelfabrik "The Plus" von Vestre in Norwegen. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Kai-Uwe Bergmann: Das Gebäude besteht aus einheimischem Massivholz, kohlenstoffarmem Beton und recyceltem Stahl und soll das erste Industriegebäude werden, das die höchste Umweltbewertung BREEAM Outstanding erhält. Das heißt alle Faktoren, die eine nachhaltige Architektur auszeichnen, spielen dort eine Rolle – von der grauen Energie für die verwendeten Baustoffe bis hin zur konkreten Möbelfabrikation. Wir haben dabei auch versucht, so wenig Boden wie möglich zu verbrauchen.
Das Gebäude befindet sich inmitten eines Waldes. Wäre es nicht nachhaltiger gewesen, das Gebäude an eine bestehende Infrastruktur anzubinden?
Kai-Uwe Bergmann: Das Grundstück, auf dem "The Plus" errichtet wurde, befindet sich in Familienbesitz und die Bäume, die dort wachsen, werden für die Möbelfabrikation verwendet. Das Ganze ist also eine Baumschule, die direkt an das Fabrikgebäude angrenzt, weshalb die Wege für die Herstellung der Möbel entsprechend kurz sind. Hinzu kommt, dass das Grundstück und das Gebäude öffentlich zugänglich sind. "The Plus" hat dabei, ähnlich wie das "CopenHill"-Projekt, einen didaktischen Ansatz, indem es aufzeigt, wie die Möbelfabrikation funktioniert – also wo die Materialien für die Möbel herkommen oder wie diese verarbeitet und verschickt werden. Es ist ein sehr offenes Gebäude, das BesucherInnen dazu einlädt sich mit Produktionsprozessen aber auch mit der Bedeutung des Waldes auseinanderzusetzen.
Inwieweit trägt die Architektur von "The Plus" zu einer umweltfreundlichen Produktion der Möbel bei?
Kai-Uwe Bergmann: Bei dieser Art von Möbelfabrikation geht es sehr stark um das verwendete Material und den Produktionsablauf, weil unterschiedliche Materialien aufeinander abgestimmt und zusammengesetzt werden müssen. Daraus ergibt sich auch die Form des Gebäudes, die ihm seinen Namen gibt. Jedem Flügel kommt eine bestimmte Funktion zu, wie etwa eine Lagerfläche oder ein Bereich, wo die Materialien zur weiteren Verarbeitung vorbereitet werden. So findet ein optimaler Austausch zwischen den vier Produktionseinheiten statt. Zudem haben wir auch verschiedenfarbige Wege innerhalb der Fabrik angelegt, die dabei helfen, die Fabrikationsprozesse abzubilden.
Zum Schluss würde ich gerne noch auf ein aktuelles Wohnprojekt von BIG zu sprechen kommen, das "Sluishuis" in Amsterdam. Trägt die expressive Form des Gebäudes zu seiner Nachhaltigkeit bei oder gibt dort es nur technische Ansätze?
Kai-Uwe Bergmann: Ein dichter Wohnblock wie das "Sluishuis" ist viel nachhaltiger als eine Ansammlung von Einfamilienhäusern, schon allein wegen dem geringeren Bodenverbrauch. Zudem handelt es sich hier um ein schwimmendes Gebäude. Ähnlich wie in Zürich, wo wir uns an der schweizerischen Holzbautradition orientiert haben, hat uns hier die Fähigkeit der niederländischen IngenieurInnen, schwimmende Strukturen zu bauen, stark beeinflusst. Das Projekt hat in diesem Sinne auch eine Vorbildfunktion, indem es aufzeigt, wie trotz begrenzter Fläche weiterer Wohnraum geschaffen werden kann. Dadurch steht auf dem Land mehr Fläche für die Landwirtschaft und in der Stadt mehr öffentlicher Raum für die Bevölkerung zur Verfügung. Außerdem wird beim "Sluishuis" Wasser gespart, wie etwa durch die Verwendung von Grauwasser. Das Gebäude ist auch ein sehr gutes Beispiel für "Hedonistic Sustainability", weil man im Herzen von Amsterdam mit einem Boot in den Innenhof der Wohnanlage hineinsegeln kann. Außerdem gibt es dort großzügige Gärten, die eine Referenz an die niederländische Gartenkultur sind. Der Entwurf greift also Elemente der dortigen Kultur auf, übersetzt sie in Architektur und schafft so einen Ort, der Spaß machen soll.
BIG. Formgiving. An Architectural Future History
BIG (Bjarke Ingels Group)
Softcover, 736 Seiten, Sprache: Englisch
ISBN: 978-3-8365-7704-5
40 Euro
BIG – Architektur und Baudetails / Architecture and Construction Details
Sandra Hofmeister
Hardback, 192 Seiten, Sprache: Englisch & Deutsch
ISBN: 9783955535674
52.90 Euro